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FRITZ MAUTHNER
Laut- und Bildersprache
II-40

"Es ist bekannt, daß das Sehen von Bildern ebenso gelernt werden muß, wie das Verstehen der Sprache."

Es wäre nicht schwer, aus STEINTHAL, WUTTKE und TAYLOR eine hübsche Geschichte der Schrift abzuschreiben; es sind da die nachweisbaren Übergänge des Alphabets von einem Volke aufs andere sehr interessant und die Vermutungen über die Bilderschriften der Urzeit angenehm zu lesen. Ich möchte aber nur auf drei tiefer liegende Punkte aufmerksam machen, die mir kleine Beiträge zu sein scheinen zur Geschichte der Sprache. Ich habe nämlich zu bemerken geglaubt, erstens daß der konventionelle Charakter der ältesten Bilderschrift eine Ähnlichkeit besitzen müsse mit dem Charakter der ältesten Lautsprache; ich möchte zweitens die Aufmerksamkeit der Fachleute darauf lenken, was in der Seele derjenigen Leute vorgegangen sein mag, die die Sprache ihres Volkes zum erstenmal mit Hilfe eines auswärtigen Alphabets niederschrieben; und ich möchte drittens kurz wenigstens auf den psychologischen Wandel hinweisen, der im Wesen der Sprache durch die Verallgemeinerung der Schrift, durch die Buchdruckerkunst nämlich, vor sich gegangen ist, einen Wandel, der um so schwieriger zu bestimmen ist, als wir uns noch mitten in ihm befinden. Ich bitte um einige Aufmerksamkeit für diesen schwierigen Versuch, dessen Unvollständigkeit und Mangelhaftigkeit mir sicherlich ebenso betrübend ist wie dem Leser.

Was zunächst die alte Bilderschrift anbelangt, so ist für mich der Umstand besonders wichtig, daß sie aus konventionellen Zeichen bestand. Ich lasse dabei ganz beiseite, ob die Totems der Indianer und die ältesten Hieroglyphen der Ägypter von den Schriftgelehrten richtig gedeutet worden sind. Es scheint mir aber der bloße Anblick dieser Linien unzweifelhaft zu zeigen, daß erstens die Absicht einer Mitteilung vorlag, daß es sich also um eine schriftliche Sprache handelt, und daß zweitens die einzelnen Zeichen dem ganzen Volke oder doch einem Kreise von Gebildeten verständlich waren. Hätten wir keine Schrift vor uns, so hätten nur methodische Tollhäusler ihre Bauwerke in dieser Weise bemalen können; wären es keine konventionellen Zeichen, sie würden sich nicht so regelmäßig wiederholen.

Zu jener Zeit nun, als der Indianer seine Totems, der alte Mexikaner seine Bilder und der alte Ägypter seine Hieroglyphen herstellte, wurde natürlich von allen diesen Leuten daneben ihre Muttersprache gesprochen, die wer weiß wie viele Jahrtausende der Entwicklung schon hinter sich hatte. Nun hat die Sprachwissenschaft unserer Gelehrten ganz richtig herausgefühlt, daß die Bilderschrift, als sie nach ungemessenen Zeiträumen auf die Lautsprache folgte, ähnlich anfing wie die Lautsprache. Die Lautsprache soll aus Klangnachahmungen der Natur hervorgegangen sein; so die Bildersprache aus unmittelbaren Nachahmungen konkreter Gegenstände. Und darin nur soll ein wesentlicher Unterschied zwischen Lautsprache und Bildersprache bestehen, daß die Lautsprache zunächst an Handlungen u. dgl. (schreien, rauschen usw.) anknüpfen mußte, die Bildersprache jedoch an sichtbare Dinge. Mit der Onomatopöie konnte man zunächst den Ton eines Kuckucks, eines Löwen oder den Donner oder das Wasser bezeichnen, mit der Bildersprache den Löwen, den Adler, einen Stuhl oder einen Stab. Man könnte auch sagen, die Lautsprache decke sich mit dem Verbum, die Bildersprache mit dem Substantiv. Ich brauche hoffentlich nicht hinzuzufügen, daß dieser Gegensatz von Verbum und Substantiv der alten Zeit nicht nur in den grammatikalischen Begriffen fremd war, sondern ursprünglich sicherlich auch in dem Gefühl. In den Anfängen der Sprache kann der Gegensatz zwischen dem Verbum, das mit Hilfe der Klangnachahmung dargestellt wurde, und dem Substantiv, das vielleicht durch eine malende Geste gezeigt wurde, nicht viel anders empfunden worden sein als der Gegensatz zwischen hörbaren und sichtbaren Eigenschaften der Dinge. Und ich möchte die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne darauf hinzuweisen, daß bis zu dieser allerdings geringen Klarheit der Unterschied zwischen Verbum und Substantiv auch in der Vorstellung eines Tieres sich ausprägen muß; der Hund unterscheidet doch offenbar zwischen seinem Herrn und dem Sprechen dieses Herrn, wenn er auch so ungebildet ist, den Anblick der Pistole und den Knall der Pistole nicht gleich in ursächlichen Zusammenhang zu bringen. Der Herr mag ihm als der Gott des Knalles erscheinen. Aber wie lange haben die Menschen gebraucht, um die sichtbaren Wolken und den hörbaren Donner (Substantiv und Verbum) in ursächlichen Zusammenhang zu bringen; noch heute suchen sie vielfach hinter den Wolken den Gott des Donners.

Konventionell mußten die Bilderzeichen wie die Lautzeichen werden, wenn sie einer Verständigung zwischen den Menschen dienen wollten. Es ist vielleicht der versteckteste Irrtum der naturalistischen Kunstlehre, daß sie glaubt, die Natur ohne jegliche Konvention dennoch wirkungsvoll nachahmen zu können. Die Mitteilung, auf welcher schließlich auch die Künste beruhen, wird durch konventionelle Zeichen außerordentlich erleichtert und gefördert. Ich könnte furchtbar geistreich tun, ich könnte die bildenden Künste die Künste des Substantivs oder Objekts, die redenden Künste die Künste des Verbums oder Subjekts nennen, ich könnte die Grundlehre beider Abteilungen auf die gegenwärtige physiologische Erkenntnis des Sehorgans und des Hörorgans gründen; aber die Begründung wäre falsch, weil dabei die Konvention außer acht gelassen werden müßte. Jede Revolution, das heißt jeder Fortschritt in der Kunst strebt aus der Konvention heraus, und dennoch ist keine Kunst ohne Konvention möglich. Die Wahrheit wird also darin liegen, daß die Künste niemals ernsthaft daran denken können, die Natur unmittelbar nachzuahmen, daß die Künste aber gar wohl darauf bedacht sein müssen, ihre konventionellen Zeichen naturalistisch zu verbessern.

Wir sehen also auf dem Wege dieses Gedankenganges bestätigt, was uns schon von anderem Gesichtspunkte entgegengetreten ist: daß nämlich die Erinnerungszeichen unserer Vorstellungen für die Zwecke der künstlerischen Mitteilung der unmittelbaren Anschauung immer näher kommen müssen, daß dieselben Zeichen für die Zwecke der erkenntnismäßigen Mitteilung sich von der Natur mehr und mehr entfernen dürfen. Die Kunst wird immer naturalistischer und anschaulicher, die Sprache immer supernaturalistischer, begrifflicher. Dabei verstehe ich unter Sprache die hörbaren Gedächtniszeichen, weil doch die sichtbare Bildersprache - wir werden gleich erfahren aus welchen Gründen nicht die gleiche Ausbildung erfahren hat. In der höchsten Kunst, in der Poesie, ist es infolge alles dessen eine fast unlösbare Aufgabe, mit Hilfe dieser höchst unanschaulichen Wortzeichen Vorstellungen zu wecken, die sich der unmittelbaren Anschauung möglichst nähern.

Gelingt es nun einem Dichter ersten Ranges, durch die Meisterschaft seiner Sprache im Gehirn des Hörers oder Lesers ganz anschaulich und lebendig die Vorstellung von Gegenständen und ihrem Leben zu erwecken, wie der Dichter sie selbst in der Natur oder in seiner Phantasie gesehen hat, so ist eigentlich erst dadurch dasjenige erreicht, was die kleine impressionistische Malerei mit so mangelhaften Mitteln anstrebt: im Gehirn des Beschauers ein Bild hervorzurufen, nicht durch plumpe Zurechtstutzung des unmittelbaren Eindrucks, durch materielle Linien und Farbenflächen, sondern durch rein psychologische Mittel. Mit dieser Bemerkung kehren wir zurück zu einer genaueren Beobachtung des Unterschieds zwischen Bildersprache und klangnachahmender Lautsprache. Ich werde nicht milde, zu wiederholen, daß die sogenannten Klangnachahmungen unserer Sprache Metaphern sind. Konventionelle Klangnachahmungen, Übersetzungen der unmittelbaren Natur in konventionelle Zeichen. Die naturalistische Nachahmung des Kuckucksrufs oder des Hundegebells ist unbrauchbar für die menschliche Sprache; erst die konventionelle Metapher Kuckuck oder Wauwau ist verwendbar. Nun könnte es gerade von meinem Standpunkte richtig scheinen, die Bildersprache in ihrem Wesen für naturalistischer, für unmittelbarer, für allgemein verständlicher zu halten als die hörbaren Laute, mit denen Naturgeräusche niemals richtig, sondern immer nur konventionell ausgedrückt werden. Wer sich die Behauptung zu eigen gemacht hat, daß das Wort  Kuckuck  durchaus nicht klangnachahmend ist, sondern nur eine Art von StiIisierung, der muß auf den ersten Blick die Zeichnung eines Kuckucks in der Bildersprache zum mindesten für verständlicher, also für besser halten. Ich will nicht müde werden, die Tatsache selbst immer wieder besser zu beschreiben. Den Namen des Vogels, wie ihn die Deutschen nennen, Kuckuck nämlich, würde ein Afrikaner oder Asiate nicht verstehen. Wenn aber eine Schwarzwälderuhr den Kuckuckruf nachahmt, ohne Spur von Konsonanten und Vokal, nur mit Hilfe zweier abgestimmter Blasebalgpfeifen, so ist dieser Ruf überall da verständlich, wo der Vogel Kuckuck bekannt ist. Nun sollte man meinen, daß die Abbildung des Vogels in der Bildersprache ebenso allgemein verständlich sei wie die unartikulierte Nachahmung des Rufs. Und so für die ganze sichtbare Welt.

Da aber gelange ich eben zu dem Punkte, auf den es mir ankommt. Auch die Zeichnung des Vogels ist ja doch nur konventionell, ist gewissermaßen artikuliert. Gerade in der Bilderschrift der älteren Hieroglyphen fällt es uns freilich nicht schwer, aus den Andeutungen von Schnabel, Kopf, Augen, Flügel und Füßen den Vogel sofort zu erkennen und auch die Ente vom Raubvogel zu unterscheiden. Der eingeübte Fachmann erkennt auch unter den Hieroglyphen die Insekten und die Pflanzenteile, die Hausgeräte und die Musikinstrumente, aber das Auge des Spezialisten ist für den Ursprung dieser Dinge nicht maßgebend. Es ist bekannt, daß das Sehen von Bildern ebenso gelernt werden muß wie das Verstehen der Sprache. Kinder, die schon sprechen gelernt haben, sind gewöhnlich noch ganz unfähig, z.B. die Zeichnung eines Menschenkopfes zu erkennen. Wir selbst sind nur zu sehr eingeübt darauf, um uns darüber klar zu sein, daß diese schwarzen Linien auf weißem Papier konventionelle Zeichen für Haare, für Augen, für Nase und Mund sind. Diese Zeichen nähern sich - weil Malerei immer mehr Kunst geworden ist und sich vom Dienste der Sprache immer mehr entfernt hat der Natur nach Kräften; die Einführung der Perspektive war die erste große Naturalisierung der Malerei, und ein Stuhl auf den ägyptischen Hieroglyphenwänden ist für uns heute kaum mehr als ein Stuhl zu erkennen, weil ihm die Perspektive fehlt; die Farbe war ein uraltes Mittel zur weitern Naturalisierung; die impressionistische Malerei ist der neueste Versuch, die konventionellen Zeichen dieser Kunst der Natur wieder um einen Schritt weiter anzunähern. Aber schließlich und am Anfange liegen auch der Bildersprache, mit welcher die Malerei begann (im Grunde ist sie ja auch heute noch Bildersprache), genau in derselben Weise wie den angeblichen Klangnachahmungen konventionelle Zeichen zugrunde. Der Vorzug der Bildersprache also vor der Lautsprache, wie er uns im ersten Augenblicke sich aufdrängte, war ein Irrtum.

Wenn also demnach die sichtbaren Zeichen für die Gegenstände und die hörbaren Zeichen für ihre Geräusche und Bewegungen den gleichen und zwar den gleich geringen naturalistischen Wert haben, so wäre die Beantwortung der Frage erschwert, warum zum Verständigungsmittel zwischen den Menschen die Lautsprache gewählt wurde und nicht die Bildersprache. Nach den vorstehenden Auseinandersetzungen möchte jeder Psychologe mit der Erklärung bei der Hand sein, es sei nur eine geringe Anzahl Menschen darin begabt, die Zeichnung der Gegenstände nachzuäffen, wohl aber seien fast alle Menschen darin begabt, die Geräusche der Natur nachzuäffen. Sie könnten hinzufügen, daß kein einziges Tier zeichnen könne, daß es aber viele Tiere gebe, welche Stimme und Klang nachahmen, daß also die Urzeitmenschen wohl die Klangnachahmung, nicht aber die Liniennachahmung zu ihrer Verfügung hatten. Sicherlich ist etwas daran. Man muß sich aber wohl hüten, die außerordentlich innige Verbindung, welche Gehörvorstellungen und Wirklichkeitserinnerungen in unserm Gehirn eingehen, für eine Ureigentümlichkeit des menschlichen Gehirns zu halten, für eine angeborene Gabe in dem Sinne, daß sie schon den Urzeitmenschen in gleichem Maße angeboren gewesen sei.

Man möchte vielmehr die Bevorzugung der Lautsprache vor der Bildersprache zunächst aus einem einfacheren, aus einem ganz mechanischen Umstande erklären. Um die konventionellen Zeichen der Gegenstände in der Bildersprache auszuführen, braucht der Mensch Zeichenmaterialien, die in den ersten Epochen der menschlichen Sprache gewiß noch seltener bereit lagen als heutzutage; um die konventionellen Zeichen der metaphorischen Klangnachahmungen herzustellen, braucht aber der Mensch nichts weiter als das Handwerkzeug, das er im Leibe trägt; er braucht bloß seine Atem- und Eßwerkzeuge als Sprachwerkzeuge zu benutzen, und die Zahnlaute, die Gaumenlaute, die Zungenlaute usw. sind fertig. So mag der unendlich lange Gang der Entwicklung sich umgekehrt verhalten zu dem, vor dem soeben als einem irrtümlichen gewarnt wurde. Nicht weil die Assoziation zwischen Gehörvorstellungen und Erinnerungen eine besonders lebhafte ist, wurde die Lautsprache für bequemer gehalten als die Bildersprache; sondern weil die Anwendung des eigenen Leibes so viel bequemer war als die Anwendung von fremden Materialien, darum gewöhnte sich der Mensch daran, die Lautsprache (neben der Gebärdensprache) zur Mitteilung zu benutzen. Und weil auf dem ungeheuern Wege der Entwicklung solche Gehörvorstellungen zu Erinnerungszeichen unendlich oft eingeübt wurden, darum bildete sich im menschlichen Gehirn die außerordentlich enge Verbindung zwischen Erinnerungen und Gehörvorstellungen, zwischen Gedächtnis und Lautsprache.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906