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FRITZ MAUTHNER
Tier- und Menschensprache
II-25

"Die neuere Lehre, daß die Sprache dem Menschen angeboren sei, klingt verführerischer für unseren Sprachgebrauch."

Wir erklären uns den Ursprung der Sprache durch den Begriff der  Entwicklung.  Wir verstehen es nicht mehr, daß die Sprache dem Menschen von einem Gotte verliehen sein sollte oder daß der Mensch mit der "Gabe" des Sprechens auf die Welt gekommen sein sollte, oder daß der Mensch sich die Sprache mit Überlegung erfunden haben sollte; wir können es uns seit ungefähr fünfzig Jahren, vielleicht auch schon seit hundert Jahren, gar nicht anders vorstellen, als daß die Sprache sich entwickelt habe, so wie sich auch die organische Welt entwickelt hat. Ich fürchte, der gebildete Leser ist nun der Meinung, er habe von dem Begriff  Entwicklung  ein klares Bild und es sei mit dem obigen Satze etwas Brauchbares gesagt. Diese Meinung hatten aber auch die gläubigen Leser der alten Theorien. Als sie sich die unbekannte Macht fromm als Allmacht Gottes, als sie sich dieses X wortabergläubisch als Allmacht des Wesens eines Dinges, als sie sich dasselbe X aufklärerisch als Allmacht des menschlichen Verstandes vorstellten, dachten sie sich unter ihren Theorien etwas ebenso Bestimmtes, scheinbar Definierbares, wie wir es bei dem Begriffe Entwicklung zu denken glauben. Zum Hochmut haben wir keine Veranlassung. Der Fortschritt ist nur ein Korrelat zu der leeren Zeit. Und die Zeit? Sie wird uns dargestellt durch den Zeiger, der rund um das Zifferblatt seine ewig gleichen Kreise zieht. Wir sind es, welche unser Leben in diese Kreisbewegung hineinlegen. Früher war es eine Sanduhr, womit die Zeit dargestellt wurde. Die Menschen waren es, welche die Uhr umstürzten, wenn der Sand im Stundenglase abgelaufen war, welche das Ende wieder an den Anfang setzten.

Treten wir in so bescheidener Stimmung an die Geschichte der Ursprungstheorien heran, so werden uns alle diese Überzeugungen hervorragender Männer zu einem ironischen Beitrage zur Geschichte der Sprache und nicht zu einer bekämpfenswerten Vorgeschichte der Sprachwissenschaft. Uns ist ja alle und jede Wissenschaft zum Worte geworden und alle Kulturgeschichte der Menschheit zu einer Geschichte der Worte.

Es ist darum für uns unter der Kritik, den alten Glauben an eine besondere göttliche Schöpfung der Sprache widerlegen zu wollen. Es ist unter unserer Würde, uns dabei gar auf den Kirchenvater GREGOR von NYSSA zu berufen, der trotz seines christlichen Dogmatismus schon im vierten Jahrhundert diesen Glauben als undogmatisch bekämpfte. Bei uns widerlegten HERDER und JAKOB GRIMM den göttlichen Ursprung der Sprache, weil sie in einer Übergangszeit lebten und sich in ihrem Innern mit dem Gottesbegriff noch lebhaft herumschlugen. Sie brauchten ihre Widerlegung für sich; wir brauchen sie nicht mehr. Wir finden es albern, wenn RENAN darauf zurückkommt und mit Hilfe von Bibelkritik den Nachweis führt, der göttliche Ursprung der Sprache werde in der Mosaischen Schöpfungsgeschichte gar nicht behauptet. Denn es würde uns auch nicht irre machen, wenn das erste Buch MOSES tatsächlich von MOSES herrührte, wenn MOSES ein geschulter Historiker gewesen wäre, und wenn er den göttlichen Ursprung der Sprache behauptet hätte. Wir wissen viel zu wenig, um solchen Sätzen noch einen rechten Sinn beilegen zu können. Wir wissen kaum, was der abstrakte Begriff  Sprache  bedeutet, wir wissen noch weniger, wie wir den Begriff  Ursprung  zeitlich begrenzen sollen, wir wissen gar nicht mehr den Gottesbegriff zu definieren; da können wir mit dem "göttlichen Ursprung der Sprache" wirklich nicht mehr viel anfangen.

Die neuere Lehre, daß die Sprache dem Menschen angeboren sei, klingt verführerischer für unseren Sprachgebrauch. Wollen wir uns nämlich mit einer Unklarheit begnügen, so behauptet dieser Satz ungefähr so viel, daß die Sprache zum Wesen oder zu der Natur des Menschen gehöre. Die freieren Köpfe geben sich gern damit zufrieden, wenn anstatt Gott solchergestalt Wesen oder Natur gesetzt wird, und es scheint eine gewisse Beruhigung des Denkens darin zu liegen, wenn man uns sagt. der Mensch spricht, wie der Vogel fliegt. Es gehörte zu seinem Wesen, zu seiner Natur. Hat doch das neue Denken damit begonnen, daß SPINOZA die Natur als einen Korrelatbegriff von Gott hinstellte; ist es doch im Mittelalter ein Zeichen von geistiger Freiheit gewesen, wenn ein Scholastiker in Gott nur das Wesen der Welt sah. Pantheismus steckte in beiden, und wir nennen uns gern pantheistisch. Von diesem Pantheismus aus war es auch ungefähr, daß HERDER und JAKOB GRIMM den göttlichen Ursprung der Sprache zu widerlegen suchten. Nur das Wort "angeboren" sollte uns stutzig machen; jahrhundertelang haben die besten Köpfe sich anstrengen müssen, um die "angeborenen Ideen" los zu werden.

Sind wir so erst stutzig geworden, so fragen wir weiter nach dem Sinn der Behauptung, daß die Sprache zum Wesen des Menschen gehöre. Da sind nun zwei Hauptmöglichkeiten vorhanden. Entweder die Sprache, wie wir sie gebrauchen, oder wie sie vor Jahrtausenden wohl ausgebildet nachweisbar ist (eine andere als eine ausgebildete Sprache ist historisch nicht belegt), war dem Menschen angeboren, gehört zum Wesen des Menschen: dann ist die Frage nach dem Ursprung müßig, dann stehen wir vor demselben Wunder wie bei der Menschenschöpfung, dann halten wir uns am besten an die biblische Schöpfungsgeschichte. Ist dem Menschen aber nicht die ausgebildete Sprache, sondern nur die Sprachanlage angeboren, dann verbirgt sich hinter dieser Theorie schon die Entwicklungstheorie, wie sie denn auch überall da leise oder laut mitklingt, wo die Sprache als angeboren betrachtet Wird. Und so meldet sich schon da (bei HEYSE, bei RENAN) die Frage, die uns gegenwärtig in Verwirrung setzt-. Wo ist der Grenzpunkt zwischen Anlage und Ausübung zu setzen? An welcher Stelle liegt der Ursprung. der Sprache? Und wie der deutsche Darwinismus, der die organische Welt systematischer als DARWIN selbst aus einem Urkeime herleiten will, seine ganze Selbstsicherheit bei der Entstehung dieses Urkeimes verliert und sein Maul aufreißt, damit ihm der Urkeim irgendwo von einem Meteoriten gebraten oder verbrannt hineinfliege, so steht die Entwicklungstheorie, die sich hinter jeder bessern Angeborenheitstheorie verbirgt, mit der alten Verlegenheit vor dem eigentlichen Ursprung der Sprache.

Die dritte Klasse der Ursprungstheorien umfaßt die altklugen Schlußfolgerungen, mit denen die scheinbar gesättigte Aufklärungszeit von dem menschlichen Verstande alles das herleitete, was früher der liebe Gott durch ein Wunder geschaffen haben sollte. Die Aufklärer, besonders die einseitigen Aufklärer Frankreichs, übersahen durchaus den Unterschied zwischen Natur und Kunst, zwischen Organismus und Mechanismus. Wir können, ohne uns zu erhitzen, heute lächelnd sagen, daß es nur ein Mangel an Sprachgefühl war, wenn sie den menschlichen Organismus mit einer Maschine verglichen. Sie fühlten den Unterschied nicht ganz zwischen einem künstlichen Bein aus Holz und einem Bein von Fleisch und Blut; sie fühlten den Unterschied gar nicht zwischen einem der im 18. Jahrhundert berühmten Automaten von VAUCANSON und einer schreibenden Hand, zwischen einer künstlichen Sprechmaschine und den menschlichen Sprachorganen. Wir können ihre aufklärerischen Anschauungen nur schwer kritisieren, weil unsere Sprache noch größtenteils die Sprache des AufkIärungszeitalters ist. Neu ist uns fast allein der Begriff der Entwicklung. Mit seiner Hilfe werden wir am besten das Grundgebrechen der aufklärerischen Weltanschauung aufdecken. Es äußert sich naturgemäß gerade in der Sprachtheorie am krassesten.

Denn der Mangel des Entwicklungsbegriffs ließ die revolutionärsten Franzosen der Aufklärung in die ältesten Zeiten, in irgendeine Urzeit immer wieder Franzosen des 18. Jahrhunderts hineindenken. Sie konnten sich römische Kaiser, jüdische Patriarchen, sie konnten sich halbwilde Urmenschen vorstellen; weil ihnen aber die physiologische Entwicklung des Menschengehirns unklar war, darum steckten in den Römern, in den Juden und in dem Urmenschen immer wieder Pariser Zeitgenossen von ROUSSEAU und VOLTAIRE. So stolzierten ja auch in den Stücken von RACINE Griechen und Juden über die Bühne, redeten aber die Gedanken des Siècle LOUIS' XIV. und trugen das Kostüm LOUIS' XIV.; ROUSSEAUs Sehnsucht nach dem Urzustande der Menschheit hängt damit zusammen. Er hatte keine Vorstellung von der Geistesentwicklung der Menschheit. Er stellte sich - unklar natürlich - den von ihm gepriesenen Urzustand wie eine freiwillige Flucht aus der Kultur vor, wie eine bewußte Kulturfeindschaft und Menschenverachtung, wie eine vorübergehende Schäferidylle, eine nach Wunsch wieder mit Paris zu vertauschende Eremitage. Sein Urmensch war in Tierfelle gekleidet und nährte sich von Milch und Früchten; dabei gedachte dieser Urmensch aber verächtlich des Theaters und der Gaststuben im Palais Royal. Das Gefühl seines Urmenschen war nicht Not, sondern Stolz.

Da der gepriesene Urzustand, nach welchem ROUSSEAU sich sehnte und den auch andere Aufklärer wenigstens für eine uralte Zeit voraussetzten, demnach nur eine Maskerade von raffinierten Parisern war, so konnte es auf diesem großen Maskenfeste der Urzeit gar nicht schwer werden, die Sprache zu  erfinden.  Daß auch Erfindungen ihre Entwicklung haben, daß von dem Flechtwerke aus Binsen bis zum heutigen Dampfwebstuhl mit Revolverschiffchen und automatischem Stillhalter viel kleinere Übergänge führen, als den Geschichtsschreibern der Erfindungen zu erzählen bequem ist, das dürfte selbst unseren Zeitgenossen keine geläufige Vorstellung sein. Den Aufklärern erschien das Erfinden als eine noch viel absichtlichere Sache. Die Vorstellung von einer Absicht schien ihnen so selbstverständlich zu sein, daß sie ein absichtsloses Werden nicht begriffen, trotzdem sie diese großen neuen Gedanken schon bei SPINOZA und LEIBNIZ hätten finden können. Mit einem Worte gesagt: ihnen mußte der Begriff der Entwicklung fehlen, weil ihnen die unbewußten Vorgänge im Menschengeiste unfaßlich waren. Wohlgemerkt: die unbewußten Vorgänge; ich hüte mich wohl, von unbewußten Vorstellungen oder von einem unbewußten Willen zu reden.

Ich habe schon gesagt, daß allen diesen falschen Theorien irgendwo gute Beobachtungen zugrunde lagen. Das ist kein Verdienst der Menschen, das ist ein Zwang; selbst den tollsten Träumen liegen ja doch nur irdische Erinnerungen zugrunde. So kann man z.B. bei CONDILLAC ganz genau das Bestreben wahrnehmen, zwischen der instinktiven Anlage zur Sprache und ihrer späteren bewußten Erfindung zu unterscheiden. Wenn man oberflächlich liest, so könnte man glauben, CONDILLAC sei ein ganz moderner Denker. Wir müssen uns aber darauf besinnen, daß für uns auch die Weiterbildung der Sprache (wie sie ja unaufhörlich bei jedem gesprochenen Worte und auch in diesem Augenblicke vor sich geht) fast durchaus unbewußt sich entwickelt, was CONDILLAC nicht ahnte, und daß er unter einem Instinkte weit eher einen unbewußten Willen als eine unbewußte Vererbung verstand. Seine Worte sind häufig unsere Worte, seine Gedanken scheinen also unsere Gedanken; wir können ihn vor Gericht oder auf dem Katheder oder bei jedem andern Schwatz als unseren gefälligen Zeuge aufrufen. Und doch wäre er ein falscher Zeuge. Gedanken sind nur Worte. Woran die Worte bei CONDILLAC erinnerten daran erinnern sie nicht mehr bei uns. Anderthalb Jahrhunderte neuer Wahrnehmungen liegen dazwischen.

Wie sich die Aufklärer die Erfindung der Sprache dachten das erfahren wir am rohesten aus MAUPERTIUS, dem Mitgliede der Pariser, dem Präsidenten der Berliner Akademie, der schöpferisch auf seinem Spezialgebiete, in allen philosophischer Fragen nur das Echo seiner Zeit war. Nach einer wichtigen Stelle in seinen "philosophischen Betrachtungen über den Ursprung der Sprachen und die Bedeutung der Worte" (1748 zeigt MAUPERTIUS, wie mathematisch er sich die Erfindung vorstellt: "Ich setze voraus, ich hätte mit den Fähigkeiten der Wahrnehmung und des Verstandes zugleich die Erinnerung aller bisherigen Beobachtungen und Denkakte verloren; nach einem Schlafe, der mich alles das vergessen ließ, befände ich mich plötzlich zufälligen Wahrnehmungen gegenüber; meine erste Wahrnehmung wäre z.B. die, welche ich heute mit den Worten feststelle:  ich sehe einen Baum;  darauf hätte ich die andere Wahrnehmung, welche ich bezeichne mit: ich sehe ein Pferd. Ich würde sofort bemerken, daß die eine Wahrnehmung nicht die andere ist, ich würde sie zu unterscheiden suchen, und da ich (nach dem Schlafe des Vergessens) keine vorgebildete Sprache besäße, müßte ich sie durch irgendwelche Zeichen unterscheiden. Ich könnte mich mit den Zeichen P und B begnügen und würde unter diesen Zeichen dasselbe verstehen, wie wenn ich heute sage: ich sehe ein Pferd, ich sehe einen Baum. Und so könnte ich weitere Eindrücke immer auf die gleiche Weise bezeichnen, ich würde zum Beispiel M sagen und würde darunter dasselbe verstehen, wie heute mit dem Satze: "ich sehe das Meer."

Berühmte Schriftsteller haben diese Erfindungstheorie MAUPERTUIS' kritisiert, an ihrer Logik wenig auszusetzen gehabt, dafür aber die Voraussetzung, das plötzliche Vergessen, albern gefunden. Für uns ist MAUPERTUIS' Voraussetzung aus anderen Gründen ein klassischer Ausdruck der Erfindungstheorie aus der Aufklärungszeit.

Das plötzliche Vergessen ist nämlich durchaus nicht eine unmögliche Phantasie; es ist vielmehr in chronischen und in akuten Krankheiten des Gehirns ein alltägliches Ereignis. Nur daß MAUPERTUIS an dieses wirkliche Vorkommen seiner Voraussetzung gar nicht dachte. Er hätte sonst den eben erwähnten Fehler der Rousseauzeit verbessern können, er hätte sich den Urmenschen nicht mehr als verkleideten Pariser gedacht. Denn der plötzliche Verlust aller unserer Erinnerungen bringt uns wirklich unter die Stufe des Tieres zurück, und wenn nachher die Gesundheit des Gehirns wiederkehrte, allerdings die Gesundheit ohne die bisherige Einübung (was nicht der Fall ist), so ließe sich vielleicht wohl an einem solchen Menschen die Entwicklung des Geistes und die Entstehung der Sprache studieren. In der Phantasie MAUPERTUIS' jedoch stoßen wir auf keinen möglichen psychologischen Vorgang. Es wird nur für eine Weile von den Fähigkeiten der Wahrnehmung und des Verstandes abstrahiert, um dann so weiter zu operieren, als ob das fragliche Gehirn ohne Wahrnehmung und ohne Verstand doch sämtliche Denkfähigkeiten des hochkultivierten Gehirns besäße. Es wird der Anfang der Sprachentwicklung in einem bereits entwickelten Denkgehirn vorausgesetzt. Daß das Denkgehirn sich gleichen Schrittes mit der Sprache entwickelte, daß Denken und Sprechen immer identisch war, daß also für die Erfindung gar kein Erfinder vorhanden sein konnte, das war dem 18. Jahrhundert eine unfaßbare Vorstellung und ist auch heute noch nicht jedem Forscher selbstverständlich. Selbst bei GEIGER, der sich von der Erfindungstheorie am bewußtesten und am weitesten entfernt hat, lassen sich noch Spuren nachweisen, die sich auf eine Trennung zwischen Denken und Sprechen, zwischen Erfinder nd Erfindung beziehen.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906