ra-2J. G. FichteD. KoigenL. ZunzW. Hasbachvon Humboldt    
 
JEAN-JACQUES ROUSSEAU
Über den Gesellschaftsvertrag
oder Grundzüge des Staatsrechts

"Man wird sagen, der Despot sichert seinen Untertanen ihre bürgerliche Ruhe. Das mag sein, aber was gewinnen sie dabei, wenn diese Ruhe selbst ein Teil ihres Elends ist? Auch im Kerker lebt man ruhig: ist das genug, um sich glücklich darin zu fühlen? Die Griechen, die in der Höhle des Kyklopen eingesperrt waren, lebten dort auch ruhig, in der Erwartung, verschlungen zu werden, wenn einen Jeden die Reihe treffen würde. Wer da sagt, ein Mensch vergibt seine Selbständigkeit unentgeltlich, bringt eine unbegreifliche Abgeschmacktheit vor. Eine solche Handlung ist widergesetzlich und nichtig, schon deshalb, weil der Handelnde nicht bei gesunder Vernunft ist. Wer eben dies von einem Volk sagt, setzt ein Volk voraus, das aus lauter Wahnsinnigen besteht und Wahnsinn verleiht kein Recht."

"Anstatt die natürliche Gleichheit aufzuheben, setzt vielmehr der Urvertrag eine moralische und gesetzliche Gleichheit an die Stelle der physischen Ungleichheit, welche die Natur unter den Menschen erzeugen konnte, und während sie an Körper oder Geisteskraft ungleich sein können, werden sie durch Übereinkunft und Recht alle gleich. Unter schlechten Regierungen aber ist diese Gleichheit nur scheinbar und illusorisch; sie dient nur dazu, den Armen in seinem Elend und den Reichen in seinem usurpierten Besitz zu erhalten. Faktisch sind die Gesetze immer nur denen ersprießlich, die etwas besitzen, und jenen, die nichs haben, schädlich. Daraus folgt, daß der gesellschaftliche Zustand nur solange den Menschen vorteilhaft ist, als jeder etwas und keiner zuviel hat."


Erstes Buch

Ich will untersuchen, ob es in der bürgerlichen Verfassung irgendeine rechtmäßige und sichere Regel der Verwaltung geben kann, wenn man die Menschen so nimmt, wie sie sind, und die Gesetze, wie sie sein können. Ich werde bei dieser Untersuchung dahinstreben, immer das, was das Recht gestattet, mit dem, was der Nutzen vorschreibt, in Einklang zu bringen, damit Gerechtigkeit und Nützlichkeit nicht getrennt erscheinen.

Ich beginne mein Werk, ohne die Wichtigkeit des Gegenstandes zu beweisen. Man wird fragen, ob ich Fürst oder Gesetzgeber bin, daß ich über Politik schreibe? Ich antworte: Nein! und eben deshalb schreibe ich über Politik. Wäre ich Fürst oder Gesetzgeber, so würde ich meine Zeit nicht damit verlieren, zu  sagen,  was man  tun  muß. Ich würde es tun oder schweigen.

Ich bin als Bürger eines freien Staates geboren und habe folglich teil an der landesherrlichen Macht. So schwachen Einfluß demnach meine Stimme auf die Staatsangelegenheiten haben mag, so legt doch das Recht, sie zu geben, mir die Pflicht auf, mich von jenen Angelegenheiten zu unterrichten. Ich preise mich glücklich, daß ich, so oft ich über die Regierungen nachdenke, in meinen Forschungen neue Gründe finde, meine vaterländische zu lieben.


Erstes Kapitel
Inhalt des ersten Buches

Der Mensch wird frei geboren und überall ist er in Fesseln. Mancher hält sich für den Herrn Anderer und ist dennoch mehr Sklage, als sie. Wie ging diese Umwandlung vor sich? Ich weiß es nicht. Wodurch kann sie rechtmäßig werden? Diese Frage glaube ich lösen zu können.

Zöge ich nur die Gewalt und ihre Wirkungen in Betracht, so würde ich sagen: solange ein Volk zum Gehorsam gezwungen wird, tut es wohl, zu gehorchen; sobald es sein Joch abschütteln kann, tut es noch besser, es von sich zu werfen; denn wenn es seine Freiheit durch dasselbe Recht wiedererlangt, wodurch man sie ihm raubte, so ist es entweder zu dieser Rücknahme befugt oder es war widerrechtlich, ihm zuerst die Freiheit zu entreißen. Aber die Ordnung der Gesellschaft ist ein geheiligtes Recht, welches allen andern zur Grundlage dient. Gleichwohl entspringt es nicht aus der Natur; es beruth also auf Übereinkunft. Es kommt darauf an, zu erfahren, worin diese Übereinkunft besteht. Ehe ich aber darauf komme, obliegt mir, meine Behauptungen zu begründen.


Zweites Kapitel
Erste Gesellschaften

Die älteste aller Gesellschaften und die einzige natürliche ist die Familie. Gleichwohl bleiben auch hier die Kinder nur so lange mit dem Vater verbunden, als sie seiner zu ihrer Erhaltung bedürfen. Sobald dieses Bedürfnis aufhört, löst sich das natürliche Band. Wenn die Kinder von dem Gehorsam, den sie dem Vater schuldeten, und der Vater von der Sorgfalt, die ihm gegen seine Kinder oblag, frei geworden sind, kehren alle auf gleiche Weise zur Unabhängigkeit zurück. Wenn sie ihre Verbindung fortsetzen, so ist es nicht mehr Naturnotwendigkeit, sondern freiwillig, und selbst die Familie besteht dann nur durch Übereinkunft.

Diese gemeinschaftliche Freiheit ist ein notwendiges Ergebnis der Natur des Menschen. Sein erstes Gesetz heißt für ihn für seine eigene Erhaltung wachen; seine vornehmste Sorgfalt ist die, welche er sich selbst schuldet, und sobald er das Alter der Vernunft erreicht hat, ist er allein Richter der Mittel, die zu seiner Erhaltung taugen, und folglich sein eigener Herr.

Die Familie ist demnach, wenn man will, das erste Muster der politischen Gesellschaften. Das Oberhaupt stellt den Vater, das Volk die Kinder dar, und da alle gleich und frei geboren sind, entsagen sie ihrer Freiheit nur ihres Nutzens wegen. Der ganze Unterschied besteht darin, daß in der Familie die Liebe zu seinen Kindern den Vater für die Sorgen, die er ihnen widmet, belohnt; daß dagegen im Staat das Vergnügen zu befehlen die Stelle der Liebe vertritt, die das Oberhaupt für sein Volk nicht empfindet.

GROTIUS leugnet, daß jede menschliche Herrschaft zugunsten der Regierten eingeführt ist. Als Beleg nennt er die Sklaverei. Nach seiner gewöhnlichen Schlußweise gründet er das Recht auf die Ausübung desselben (1). Man könnte eine konsequentere Methode befolgen, aber keine, die den Tyrannen günstiger wäre.

Nach GROTIUS ist es also zweifelhaft, ob das Menschengeschlecht etwa hundert Individuen oder ob diese hundert dem Menschengeschlecht angehören, und in seinem ganzen Werk neigt er sich offenbar zu der ersteren Ansicht hin; auch HOBBES ist dieser Meinung. So wäre also das menschliche Geschlecht wie das Vieh in Herden abgeteilt und jede hätte ihr Oberhaupt, das sie hütet, um sie zu verschlingen.

Wie ein Hirte von einer erhabeneren Natur ist, als seine Herde, sind auch die Hirten der Menschen, das heißt ihre Herrscher, ihrer Natur nach ihren Völkern überlegen. So schloß nach PHILONs Bericht der Kaiser CALIGULA und folgerte daraus mit ziemlich richtiger Analogie, daß die Könige Götter oder die Völker Vieh wären.

Diese Schlußfolgerung CALIGULAs kommt mit jener von HOBBES und GROTIUS auf eins heraus. ARISTOTELES hatte vor ihnen allen auch schon gesagt, daß die Menschen keineswegs von Natur aus gleich wären, sondern daß die einen zur Sklaverei und die anderen zur Herrschaft geboren werden.

ARISTOTELES hatte Recht, aber er verwechselte die Wirkung mit der Ursache. Jeder in der Sklaverei geborene Mensch wird auch für die Sklaverei geboren; nichts ist gewisser. Die Sklaven verlieren in ihren Fesseln alles bis auf den Wunsch, sich derselben zu entledigen: sie lieben ihre Knechtschaft, wie die Gefährten des  Odysseus  ihre Tierheit liebten (2). Gibt es also Sklaven von Natur, so sind sie es, weil es Menschen gab, die wider die Natur zu Sklaven wurden. Die Gewalt hat die ersten Sklaven gemacht; die Nichtswürdigkeit derselben hat ihr Geschlecht verewigt.

Ich habe nicht von einem König  Adam  gesagt, noch von einem Kaiser  Noah,  dem Vater der drei großen Monarchen, welche die Welt unter sich aufteilten, wie die Söhne des  Kronos,  die man in ihnen hat wiedererkennen wollen. Ich hoffe, man wird mir für diese Mäßigung Dank wissen; denn da ich in gerader Linie von einem dieser Fürsten und vielleicht vom ältesten Zweig abstamme, wer weiß, ob ich mich nicht durch die Bewahrheitung meiner Rechtsansprüche als legitimen Herrscher des Menschengeschlechts ausweisen könnte? Wie dem aber auch sein mag: man kann nicht in Abrede stellen, daß  Adam  König der Welt gewesen und  Robinson  König seiner Insel war, solange er sie allein bewohnte; und das Bequemste bei diesem Reich war, daß der Monarch, sicher auf seinem Thron, weder Rebellionen, noch Kriege, noch Verschwörer zu fürchten hatte.


Drittes Kapitel
Recht des Stärkeren

Der Stärkste ist niemals stark genug, beständig Herr zu bleiben, wenn er seine Stärke nicht in Recht, und den Gehorsam nicht in Pflicht verwandelt. Daher stammt das Recht des Stärkeren, ein Recht, das man dem Anschein nach nur ironisch versteht und das doch in der Tat als Prinzip gilt. Wird man uns aber niemals dieses Wort erklären? Die Stärke ist ein physisches Vermögen: ich sehe nicht, welche sittliche Verpflichtung sich aus ihren Wirkungen ergeben kann. Der Gealt nachgeben ist eine Handlung der Notwendigkeit, nicht des Willens; höchstens ist es eine Handlung der Klugheit. In welchem Sinn kann es Pflicht sein?

Wir wollen dieses vermeintliche Recht für einen Augenblick gelten lassen. Nur ein unentwirrbarer Gallimathias [Durcheinander - wp], behaupte ich, kann sich daraus ergeben. Denn sobald die Stärke das Recht macht, so wird die Wirkung mit der Ursache verwandelt; jede Stärke, welche die erste überwältigt, tritt in deren Rechte ein. Sobald man ungestraft den Gehorsam verweigern kann, ist man dazu berechtigt, und da der Stärkste immer Recht hat, kommt es nur darauf an, durchzusetzen, daß man der Stärkste ist. Was ist nun aber ein Recht, das mit der Stärke aufhört? Wenn man aus Zwang gehorchen muß, braucht man nicht aus Pflicht zu gehorchen, und wird man nicht mehr zum Gehorsam gezwungen, so ist man auch nicht mehr dazu verpflichtet. Offenbar wird also durch das Wort  Recht der Stärke  kein größeres Gewicht beigelegt; es ist hier völlig bedeutungslos.

"Gehorcht den Gewaltigen!" Soll damit gesagt sein, gebt der Übermacht nach, so ist das Gebot gut, aber überflüssig; ich stehe dafür ein, daß man es nie übertreten wird. Jede Gewalt kommt von Gott, das räume ich ein; aber jede Krankheit kommt gleichfalls von ihm. Sollte es deshalb verboten sein, den Arzt zu rufen? Überfällt mich ein Straßenräuber in einem abgelegenen Wald, so bin ich gezwungen, ihm meine Börse zu geben, vermag ich sie ihm aber zu entziehen, verbindet mich dann, da seine Pistole ja am Ende auch eine Gewalt ist, mein Gewissen, sie herzugeben?

Gestehen wir also nur, daß Stärke kein Recht verleiht und daß man nur der rechtmäßigen Gewalt Gehorsam schuldig ist. Wir kommen mithin immer wieder auf meine erste Frage zurück.


Viertes Kapitel
Sklaverei

Da kein Mensch eine natürliche Gewalt über Seinesgleichen hat und da die Stärke kein Recht begründet, so bleibt nur noch die Übereinkunft als Grundlage jeder rechtmäßigen Gewalt unter den Menschen übrig.

Kann ein Einzelner, sagt GROTIUS, seine Freiheit veräußern und sich zum Sklaven eines Herrn machen, warum sollte ein ganzes Volk nicht gleichfalls die seinige veräußern und sich einem König unterwerfen können? Dieser Satz enthält verschiedene vieldeutige Ausdrücke, die einer Erklärung bedürften; wir wollen uns aber nur an das Wort "veräußern" halten. Veräußern heißt verschenken oder verkaufen. Wenn aber ein Mensch sich zum Sklaven eines Anderen macht, so verschenkt er sich nicht, sondern er verkauft sich, zumindest für seinen Lebensunterhalt. Wofür verkauft sich dann aber ein Volk? Weit entfernt, daß ein König seinen Untertanen ihren Lebensbedarf liefert, bezieht er vielmehr den seinigen nur von ihnen und, wie RABELAIS sagt, "ein König lebt nicht von Wenigem". Die Untertanen verschenken also ihre Person unter der Bedingung, daß man ihnen auch ihr Vermögen nimmt? Ich sehe nicht, was ihnen dann noch zu wahren übrig bleibt.

Man wird sagen, der Despot sichert seinen Untertanen ihre bürgerliche Ruhe. Das mag sein, aber was gewinnen sie dabei, wenn die Kriege, die sein Ehrgeiz ihnen zuzieht, wenn seine unersättliche Habgier, wenn die Erpressungen seiner Minister sie ärger drücken, als ihre Zwistigkeiten es vermöchten? Was gewinnen sie dabei, wenn diese Ruhe selbst ein Teil ihres Elends ist? Auch im Kerker lebt man ruhig: ist das genug, um sich glücklich darin zu fühlen? Die Griechen, die in der Höhle des Kyklopen eingesperrt waren, lebten dort auch ruhig, in der Erwartung, verschlungen zu werden, wenn einen Jeden die Reihe treffen würde. Wer da sagt, ein Mensch vergibt seine Selbständigkeit unentgeltlich, bringt eine unbegreifliche Abgeschmacktheit vor. Eine solche Handlung ist widergesetzlich und nichtig, schon deshalb, weil der Handelnde nicht bei gesunder Vernunft ist. Wer eben dies von einem Volk sagt, setzt ein Volk voraus, das aus lauter Wahnsinnigen besteht und Wahnsinn verleiht kein Recht.

Könnte jeder auch sich selbst veräußern, so kann er doch nicht seine Kinder veräußern. Als Menschen und als Freie werden sie geboren: ihnen allein gehört ihre Freiheit, und kein Anderer ist berechtigt, darüber zu verfügen. Solange sie nicht zum Alter der Vernunft gelangt sind, kann der Vater in ihrem Namen zum Zwecke ihrer Erhaltung und ihres Wohlseins Bedingungen festsetzen, nicht aber sie selbst unwiderruflich und ohne Bedingungen hingeben; denn eine solche Hingabe läuft den Absichten der Natur zuwider und überschreitet die väterlichen Rechte. Sollte demnach eine willkürliche Regierung rechtmäßig sein, so müße es bei jeder neuen Generation vom Volk abhängen, ob es sie annehmen oder sie vewerfen will: dann aber wäre diese Regierung nicht mehr willkürlich.

Der Freiheit entsagen heißt, seiner Menschheit, den Menschenrechten, ja selbst seinen Pflichten entsagen. Für den, der auf alles verzichtet, ist keine Entschädigung möglich. Eine solche Verzichtleistung ist unvereinbar mit der Natur des Menschen, und wer seinem Willen alle Freiheit nimmt, nimmt damit seinen Handlungen allen sittlichen Wert. Es ist schließlich eine nichtige und sich selbst widersprechende Übereinkunft, auf einer Seite unumschränkte Gewalt und auf der anderen schrankenlose Gehorsam festzusetzen. Liegt es nicht zutage, daß man durchaus keine Verpflichtungen gegen den hat, von dem man Alles zu fordern berechtigt ist, und zieht diese einzige Bedingung ohne Ersatz, ohne Tausch, nicht die Nichtigkeit des ganzen Aktes nach sich? Denn welches Recht könnte mein Sklave gegen mich haben, da alles, was er hat, mir gehört? Auch sein Recht ist mein eigenes und mein Recht gegen mich selbst ein Wort ohne allen Sinn.

GROTIUS und Andere sehen im Krieg eine fernere Quelle des vermeintlichen Rechts der Sklaverei. Da der Sieger, wie sie sagen, das Recht hat, den Überwundenen zu töten, kann letzterer sein Leben für seine Freiheit erkaufen, eine Übereinkunft, die umso rechtmäßiger ist, da beide Teile dabei gewinnen.

Allein es ist klar, daß dieses vermeintliche Recht, die Überwundenen zu töten, keineswegs aus dem Kriegsstand entspringt. Schon daher, daß die Menschen in ihrer ursprünglichen Unabhängigkeit in keiner Beziehung zueinander stehen, die dauernd genug wäre, um den Krieg- oder Friedensstand zu begründen, schon daher sind sie nicht von Natur aus Feinde. Nicht das Verhältnis der Menschen, sondern das der Sachen zueinander bedingt den Krieg, und da der Kriegsstand nicht aus einfachen persönlichen Beziehungen, sondern nur aus den Sachverhältnissen entspringen kann, so ist der Privatkrieg oder der Krieg des Einzelnen gegen den Einzelnen nicht möglich weder im Naturzustand, wo es kein beständiges Eigentum gibt, noch im Stand der Gesellschaft, wo alles unter der Gewalt der Gesetze steht.

Privatgefechte, verabredete und gelegentliche Zweikämpfe sind keine Handlungen, die einen (rechtlich begründeten) Zustand bilden, und was die, durch die Einrichtungen König LUDWIGs IX. von Frankreich genehmigten und durch den Gottesfrieden aufgehobenen Privatkriege betrifft, so wären dies Mißbräuche der Lehnsregierung, des widersinnigsten aller Systeme, das den Prinzipien des Naturrechts, so wie jeder gesunden Staatskunst entgegenstrebt.

Der Krieg ist also nicht ein Verhältnis eines Menschen zum anderen, sondern eines Staates zu einem anderen, bei welchem die Einzelnen nur zufällig Feinde sein, nicht als Menschen, nicht einmal als Bürger (3), sondern als Soldaten; nicht als Glieder des Vaterlandes, sondern als dessen Verteidiger. Kurz, jeder Staat kann nur andere Staaten zu Feinden haben und nicht Menschen, insofern zwischen Dingen von verschiedener Natur kein eigentliches Verhältnis stattfinden kann.

Dieses Prinzip stimmt mit den Grundsätzen aller Zeiten und der beständigen Handlungsweise aller zivilisierten Völker überein. Die Kriegserklärungen sind nicht sowohl Benachrichtigungen der Mächte, wie auch ihrer Untertanen. Der Fremde, sei er nun König, Privatmann oder ein Volk, welcher Untertanen beraubt, tötet oder gefangen hält, ohne dem Fürsten derselben den Krieg zu erklären, ist kein Feind, sondern ein Räuber. Selbst im Laufe des Krieges bemächtigt ein gerechter Fürst in Feindesland sich wohl alles dessen, was dem Gemeinwesen gehört, allein er verschont die Person und das Vermögen der Einzelnen; er ehrt die Rechte, worauf sich die seinigen gründen. Der Zweck des Krieges ist die Zerstörung des feindlichen Staates: man ist also berechtigt, die Verteidiger desselben zu töten, solange sie die Waffen führen; sobald sie aber das Gewehr strecken und sich ergeben, hören sie auf Feinde oder Werkzeuge des Feindes zu sein; sie werden wieder bloß Menschen und man hat weiter kein Recht auf ihr Leben. Bisweilen kann man den Staat vernichten, ohne ein einziges seiner Glieder zu töten; der Krieg verleiht aber kein Recht, das nicht zur Erreichung seines Zwecks notwendig ist. Diese Grundsätze stimmen nicht mit denen des GROTIUS überein; sie stützen sich nicht auf die Autorität der Dichter, allein sie fließen aus der Natur der Sache und gründen sich auf die Vernunft.

Das Eroberungsrecht hat keine andere Grundlsage, als das Gesetz des Stärkeren. Wenn der Krieg dem Sieger nicht das Recht verleiht, die überwundenen Völker niederzumetzeln, so kann dieses Recht, welches er nicht besitzt, ihn auch nicht berechtigen, sie zu unterjochen. Man hat nur dann das Recht den Feind zu töten, wenn man ihn nicht zum Sklaven machen kann; das Recht, ihn zum Sklaven zu machen, entspringt also nicht aus dem Recht ihn zu töten. Es ist demnach ein unbilliger Tausch, ihm für seine Freiheit sein Leben, worauf man kein Recht hat, zu verkaufen. Wenn man das Recht über Leben und Tod auf das Recht der Sklaverei, und das Recht der Sklaverei auf das Recht über Leben und Tod stützt, gerät man da nicht offenbar in einen fehlerhaften Zirkelschluß?

Wollte man auch das schreckliche Recht alles zu töten anerkennen, so behaupte ich doch, daß ein Sklave, der im Krieg dazu gemacht ist, und ein unterjochtes Volk ihrem Herrn zu nichts verpflichtet sind, als ihm so lange zu gehorchen, wie man sie dazu zwingt. Da der Überwinder sie das Leben gegen einen Ersatz eintauschen ließ, hat er es ihnen nicht geschenkt; statt den Sklaven fruchtlos zu töten, hat er ihne auf eine für sich nützliche Weise getötet. Weit entfernt also, daß er über ihn irgendein mit der Stärke verbundenes Recht erworben hätte, dauert der Kriegszustand zwischen ihnen noch immer an, wie vorher: ihr Verhältnis selbst ist eine Wirkung davon, und Ausübung des Kriegsrechts setzt keinen Friedensvertrag voraus. Sie haben eine Übereinkunft getroffen; es sei denn, daß diese Übereinkunft, weit entfernt den Kriegszustand zu beseitigen, vielmehr durch dessen Fortdauer bedingt wird.

Aus welchem Gesichtspunkt man demnach die Sache ansehen mag, immer bleibt das Recht der Sklaverei nichtig, nicht allein, weil es unregelmäßig, sondern auch, weil es abgeschmackt ist und keinen Sinn hat. Die Wort  Sklaverei  und Recht widersprechen einander und heben sich gegenseitig auf. Möchte es nun ein Mensch zu einem anderen oder ein Einzelner zu seinem Volk sprechen, immer wäre es gleich unsinnig zu sagen: "Ich schließe mit dir einen Vertrag, der nur dich drücken und nur mir nützen soll, den ich halten werde, solange es mir gefällt, und den du halten sollst, solange es mir gefällt."


Fünftes Kapitel
Notwendigkeit der Annahme
eines Urvertrags

Wenn ich alles, was ich bisher widerlegt habe, zugestehen würde, so wären die Verteidiger des Despotismus dadurch um nichts weiter gekommen. Immer bleibt ein großer Unterschied zwischen der Unterjochung einer Menge und der Regierung einer Gesellschaft. Gerieten zerstreute Menschen nach und nach unter die Herrschaft eines Einzigen, so sehe ich dabei, und möchten sie auch noch so zahlreich sein, doch nur einen Herrn und seine Sklaven, nicht ein Volk und sein Oberhaupt. Es ist, wenn man will, eine Ansammlung (agrégation), aber keine Vergesellschaftung (association); es kann dabei weder von Gemeinwohl, noch von einem Staatskörper die Rede sein. Dieser Mensch bleibt und hätte er die halbe Welt unterjocht, immer nur ein Privatmann, so wie sein Interesse, von dem der Übrigen getrennt, ein Privatinteresse ist. Kommt er um, so bleibt sein Reich zerstückelt und ohne Verbindung zurück, wie eine Eiche, die das Feuer verzehrte, sich auflöst und in einen Haufen Asche zerfällt.

Ein Volk, sagt GROTIUS, kann sich einem König übergeben. Er räumt mithin ein, daß ein Volk schon ein Volk sei,  bevor  es sich einem König übergibt. Diese Übergabe selbst ist ein bürgerlicher Akt und setzt eine öffentliche Meinung voraus. Ehe man also diesen Akt untersucht, wodurch ein Volk einen König erwählt, täte man wohl, jenen andern zu prüfen, wodurch das Volk eben ein Volk ist; denn indem ein solcher Akt notwendig dem andern vorausgehen mußte, ist er als die wahre Grundlage der Gesellschaft anzusehen. In der Tat, wenn es keine vorhergehende Übereinkunft gäbe, wo wäre, falls die Wahl nicht einstimmig ausfiele, die Verpflichtung der Minderheit sich der Mehrzahl zu unterwerfen? Woher hätten Hundert, die einen Herrn verlangen, das Recht, für Zehn, die keinen haben wollen, zu stimmen? Das Gesetz der Stimmenmehrheit ist selbst nur infolge einer Übereinkunft gültig und setzt voraus, daß zumindest einmal Einstimmigkeit geherrscht hat.


Sechstes Kapitel
Der gesellschaftliche Vertrag

Ich nehme an, die Menschen seien zu der Stufe gelangt, wo die Hindernisse, die ihrer Erhaltung im Naturzustand entgegenwirken, durch ihren Widerstand die Kräfte überwiegen, die jeder Einzelne zu seiner Behauptung in diesem Stand aufzuwenden hat. In diesem Fall kann jener ursprüngliche Zustand nicht fortdauern und das Menschengeschlecht würde zugrunde gehen, wenn es nicht seine Art des Daseins verändert.

Da nun die Menschen keine neuen Kräfte hervorbringen, sondern nur die vorhandenen vereinigen und lenken können, so haben sie kein anderes Mittel sich zu erhalten, als daß sie durch gegenseitiges Zusammentreten und Zusammenhalten eine Summe von Kräften bilden, die den Widerstand überwältigen können, und demnächst eben diese Kräfte durch eine einzige Triebfeder in Bewegung setzen und gemeinschaftlich wirken lassen.

Eine solche Summe von Kräften kann nur durch das Zusammenwirken Vieler entstehen; da aber die Stärke und die Freiheit jedes Menschen die vornehmsten Werkzeuge seiner Erhaltung sind, wie kann er sie hingeben, ohne sich zu schaden und ohne die Sorgfalt zu vernachlässigen, die er sich selbst schuldig ist? Wird diese Schwierigkeit auf den vorliegenden Gegenstand angewandt, so läßt sie sich folgendermaßen ausdrücken:
    "Wie findet man eine Form der Gesellschaft, welche die Person und die Habe jedes Gesellschaftsgliedes mit der ganzen gemeinschaftlichen Kraft verteidigt und schützt und wobei jeder, indem er sich mit allen vereinigt, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt, wie er war?"
Dies ist das Grundproblem, wovon der Gesellschaftsvertrag die Auflösung gibt.

Die Punkte dieses Vertrags sind durch die Beschaffenheit der Verhandlung selbst so bestimmt, daß die geringste Veränderung sie nichtig und unwirksam machen müßte. Wiewohl sie daher vielleicht niemals förmlich ausgesprochen wurden, sind sie sich doch überall gleich, überall stillschweigend angenommen und anerkannt, bis, nach dem Bruch des gesellschaftlichen Vertrags, jeder in seine ersten Rechte zurücktritt und seine natürliche Freiheit wieder erhält, indem er die durch den Vertrag bedingte Freiheit, für die er sie aufgab, verliert.

Diese Punkte lassen sich, wenn man sie richtig versteht, auf einen einzigen zurückführen, nämlich auf die Hingebung jedes Gesellschaftsgenossen mit all seinen Rechten an das ganze Gemeinwesen. Denn da sich jeder ganz hingibt, ist die Bedingung für alle gleich, und ist sie das, so findet keiner seinen Vorteil dabei, sie drückend für die andern zu machen.

Da überdies die Hingabe ohne Vorbehalt geschieht, so ist die Vereinigung so vollkommen, wie sie es nur sein kann, und kein Gesellschaftsgenosse hat weiter einen Anspruch; denn bliebe dem Einzelnen irgendein Recht, so wäre, da es kein gemeinschaftliches Oberhaupt gäbe, um zwischen ihm und dem Gemeinwesen zu entscheiden, jeder in irgendeinem Punkt sein eigener Richter und würde bald verlangen, es in allem zu sein; auf diese Weise aber würde der Naturzustand fortdauern und die Gesellschaft müßte notwendig zur Tyrannei oder zum leeren Namen werden.

Indem schließlich jeder sich allen übergibt, ergibt er sich keinem. Da man über jeden Gesellschaftsgenossen dasselbe Recht erlangt, das man ihm über sich einräumt, gewinnt man den Ersatz für alles, was man verliert, um mehr Stärke, das zu bewahren, was man hat.

Entfernt man also vom gesellschaftlichen Vertrag alles, was nicht zu seinem eigentlichen Wesen gehört, so wird sein Inhalt folgender bleiben:
    "Jeder von uns gibt seine Person und seine Kräfte als Gemeingut unter die obere Leitung des allgemeinen Willens, und wir, als Gesamtkörper, nehmen jedes Mitglied als einen unabtrennbaren Teil des Ganzen auf." 
Von dem Augenblick an bildet dieser Gesellschaftsakt statt der einzelnen Person jedes Kontrahierenden einen moralischen und zusammengesetzten Körper, der aus so viel Gliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen zählt, und der durch eben diesen Akt seine Einheit, sein gemeinschaftliches Ich, sein Leben und seinen Willen erhält. Diese öffentliche Person, die so durch die Vereinigung aller andern ins Leben tritt, hieß einst (bei den Griechen)  Stadt  (cité) (4) und jetzt (nach dem Sprachgebrauch der Römer)  Republik  oder  Staatskörper.  Er wird von seinen Gliedern  Staat  genannt, wenn er sich leidend,  Souverän  (5), wenn er sich tätig und wirksam verhält;  Macht wenn man ihn mit anderen seiner Art vergleicht. Die Gesellschaftsgenossen dagegen heißen zusammengenommen  Volk  und nennen sich einzeln  Staatsbürger  (citoyens) als Teilhaber der höchsten Gewalt, und  Untertanen insofern sie den Gesetzen des Staates unterworfen sind. Allein diese Ausdrücke werden oft miteinander vermengt und verwechselt; es genügt, daß man sie zu unterscheiden weiß, wenn sie in ihrer ganzen Schärfe gebraucht werden.


Siebentes Kapitel
Der Souverän

Man sieht aus jener Formel, daß der Akt der Vergesellschaftung eine gegenseitige Verpflichtung des Gemeinwesens und der Einzelnen enthält und daß jeder Einzelne, indem er gleichsam mit sich selbst einen Vertrag schließt, sich eine doppelte Verpflichtung auflegt, nämlich als Glied des Souveräns gegen die Einzelnen und als Glied des Staates gegen den Souverän. Man kann aber hier den Grundsatz des bürgerlichen Rechts nicht anwenden, daß niemand an Verpflichtungen gebunden ist, die er gegen sich selbst eingegangen ist; denn es ist ein großer Unterschied zwischen einer Verpflichtung gegen sich selbst und einer solchen gegen ein Ganzes, wovon man einen Teil ausmacht.

Man muß ferner bemerken, daß die öffentliche Beratung, welche die Untertanen dem Souverän vermöge der beiden verschiedenen Rücksichten, worin man jeden betrachten muß, verpflichtet, aus entgegengesetztem Grund dem Souverän keine Verpflichtung gegen sich selbst auflegen kann und daß es folglich gegen die Natur des Staatskörpers wäre, wenn der Souverän sich ein Gesetz auferlegen würden, welches er nicht brechen kann. Da er sich nur in einer einzigen Beziehung (nämlich in der zu sich selbst) betrachten kann, befände er sich dann im Fall des Privatmanns, der mit sich selbst einen Vertrag schließt. Hieraus erhellt sich, daß ein bindendes Grundgesetz für den Volkskörper weder da ist, noch da sein kann, nicht einmal der Gesellschaftsvertrag kann dafür gelten. Damit ist übrigens nicht gesagt, dieser Körper könne sich nicht gegen einen anderen zu irgendetwas verbindlich machen, sobald es nur jenen Vertrag nicht beeinträchtigt; denn dem Fremden gegenüber wird er ein einfaches, einzelnes Wesen.

Da aber der Staatskörper oder der Souverän sein Dasein nur der Heiligkeit des Vertrags verdankt, kann er sich selbst gegen einen Anderen nie zu irgendetwas verbindlich machen, was jenen Urvertrag beeinträchtigen würde, wie z. B. einen Teil seiner selbst zu veräußern oder sich einem anderen Souverän zu unterwerfen. Den Vertrag, der ihm das Dasein gibt, verletzen, hieße sich selbst vernichten, und was nicht ist, kann auch nichts hervorbringen.

Sobald die Menge solchergestalt in einen Körper verbunden ist, kann man kein Glied desselben beleidigen, ohne den Körper anzugreifen, und noch weniger den Körper verletzen, ohne daß die Glieder darunter leiden. So verbinden Pflicht und Interesse beide kontrahierende Teile auf gleiche Weise zu einem gegenseitigen Beistand, und dieselben Menschen müssen in dieser doppelten Beziehung alle dadurch bedingten Vorteile zu vereinigen streben.

Der Souverän nun, der von den Einzelnen, aus denen er besteht, gebildet wird, hat kein mit dem ihrigen in Widerstreit stehendes Interesse und kann es nicht haben. Die herrschende Macht bedarf folglich den Untertanen gegenüber keiner Bürgschaft, da unmöglich der Körper allen seinen Gliedern schaden wollen kann; und daß er keinem  einzelnen  schaden kann, werden wir weiterhin sehen. Allein dadurch, daß er existiert, ist der Souverän immer völlig, was er sein soll.

Anders aber verhält es sich mit den Untertanen dem Souverän gegenüber, da ihm ungeachtet des gemeinschaftlichen Interesses nichts für ihre Verpflichtungen bringen würde, wenn er nicht Mittel fände, sich ihrer Treue zu versichern.

Wirklich kann jeder Einzelne als Mensch einen besonderen Willen haben, welcher dem allgemeinen Willen, den er als Staatsbürger hat, widerspricht oder doch davon abweicht. Sein besonderes Interesse kann ihm andere Entschlüsse eingeben als der gemeinschaftliche Vorteil; sein für sich bestehendes und von Natur unabhängiges Dasein kann ihn das, was er dem Gemeinwesen schuldig ist, als einen freiwilligen Beitrag ansehen lassen, dessen Verlust den andern weniger schaden kann, als ihm die Abtragung lästig ist; er könnte schließlich die moralische Person, welche den Staat begründet, für ein eingebildetes Wesen halten, weil sie kein Mensch ist, und die Rechte des Staatsbürgers genießen wollen, ohne die Pflichten des Untertanen zu erfüllen; eine Ungerechtigkeit, deren Fortgang den Untergang des Staatskörpers nach sich ziehen würde.

Damit also der gesellschaftliche Vertrag keine leere Form ist, enthält er stillschweigend diese Verpflichtung, die allein den übrigen Kraft geben kann: daß jeder, der dem allgemeinen Willen den Gehorsam verweigert, vom ganzen Körper dazu gezwungen werden soll. Dies heißt nichts weiter als daß man ihn zwingen wird, frei zu sein; denn das ist die Bedingung, die jeden Bürger, indem sie ihn dem Vaterland zu eigen gibt, gegen alle persönliche Abhängigkeit sichert; eine Bedingung, welche die künstliche Einrichtung und Wirksamkeit der Staatsmaschine ausmacht und wodurch allein die bürgerlichen Verpflichtungen rechtmäßig werden, während sie im entgegengesetzten Fall ungereimt, tyrannisch und den ungeheuersten Mißbräuchen unterworfen sein würden.


Achtes Kapitel
Der staatsbürgerliche Zustand

Der Übergang aus dem Naturzustand in den staatsbürgerlichen bewirkt im Menschen eine sehr merkwürdige Veränderung, denn er setzt im Verhalten desselben die Gerechtigkeit an die Stelle des Instinkts und gibt seinen Handlungen das sittliche Motiv, welches ihm vorher fehlte. Statt des physischen Triebes macht sich die Stimme der Pflicht, statt der Begierde das Recht geltend, und so erst sieht der Mensch, der bis dahin nur auf sich selbst Rücksicht nahm, sich gezwungen, nach anderen Grundsätzen zu handeln und die Vernunft zu Rate zu ziehen, ehe er seinen Neigungen folgt. Obgleich ihm in diesem Zustand mehrere Vorteile entgehen, die ihm die Natur gewährte, so gewinnt er doch dafür so bedeutende zum Ersatz, seine Fähigkeiten üben und entwickeln sich, seine Begriffe erweitern, seine Gesinnungen veredeln, seine ganze Seele erhebt sich in einem solchen Grad, daß, wenn der Mißbrauch seiner neuen Lage ihn nicht oft noch unter den Zustand, aus dem er sich erhoben hatte, erniedrigt, er unaufhörlich den glücklichen Augenblick segnen müßte, der ihn dem letzteren auf ewig entrücken würde und aus einem seelenlose, beschränkten Tier ein einsichtsvolles Wesen, einen Menschen macht.

Wir wollen die ganze Abwägung der beiderseitigen Vorzüge und Nachteile auf leicht zu vergleichende Punkte zurückführen. Der Mensch verliert durch den Gesellschaftsvertrag seine natürliche Freiheit und ein unbeschränktes Recht auf alles, was ihn reizt und was er erreichen kann; er gewinnt dafür die bürgerliche Freiheit und das gesicherte Eigentum all dessen, was er besitzt. Um sich in diesen Abwägungen nicht zu betrügen, muß man die natürliche Freiheit, die keine Schranken kennt, als die Kräfte des Einzelnen, von der durch den allgemeinen Willen beschränkten bürgerlichen Freiheit wohl unterscheiden, sowie den Besitz, das ist die Wirkung der Stärke oder das Recht des ersten Ergreifers, vom Eigentum, das sich nur auf einen positiven Rechtsanspruch gründen kann.

Nach dem eben Gesagten könnte man den Vorteilen des staatsbürgerlichen Zustandes noch die moralische Freiheit beifügen, welche allein den Menschen wirklich zum Herrn über sich selbst macht; denn der Trieb der bloßen Begierde ist Sklaverei, und der Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich selbst vorschrieb, ist Freiheit. Allein ich habe schon zu viel über diesen Punkt gesagt und der philosophische Begriff des Wortes  Freiheit  ist dem vorliegenden Thema fremd.


Neuntes Kapitel
Vom Staatsgrundeigentum

Jedes Glied der Gesellschaft übergibt sich ihr in dem Augenblick, wo sie sich bildet, so wie es ist, sich und alle seine Kräfte, wovon die Güter, die es besitzt, einen Teil ausmachen. Zwar verändert der Besitz, indem er durch diesen Vertrag in andere Hände kommt, keineswegs seine Natur und wird nicht zum Eigentum des Souveräns; da jedoch die Kräfte des Gemeinwesens die des Einzelnen unendlich überwiegen, so ist der öffentliche Besitz auch faktisch viel sicherer begründet und viel unwiderruflicher, ohne darum rechtmäßiger zu sein, zumindest in Anbetracht der Fremden. Denn in Anbetracht seiner Glieder ist der Staat durch den Gesellschaftsvertrag, der im Staat als Grundlage aller Rechte dient, Herr über alle ihre Güter; den anderen Mächten gegenüber ist er es aber nur durch das von den Einzelnen ihm überkommene Recht des ersten Besitzes.

Das Recht des ersten Besitzes ist zwar besser begründet als das Recht des Stärkeren, wird aber erst durch die Festsetzung des Eigentums ein wahres Recht. Jeder Mensch hat von Natur aus ein Recht auf ales, dessen er bedarf; allein eben der positive Vertrag, der ihn zum Eigentümer irgendeines Gutes macht, schließt ihn damit von allem Übrigen aus. Wenn sein Anteil bestimmt ist, muß er sich darauf beschränken und hat kein Recht weiter auf das Gemeingut. Aus diesem Grund wird das Recht des ersten Besitzergreifers, das im Naturzustand so schwach ist, jedem zivilisierten Menschen so ehrwürdig. Er ehrt in diesem Recht nicht sowohl das Gut eines Anderen, als das ihm selbst nicht zugehörende.

Im Allgemeinen sind folgende Bedingungen nötig, um das Recht des ersten Besitzes auf irgendein Stück Land zu begründen. Erstens darf dieses Land noch von Niemandem bewohnt werden; zweitens darf man nur soviel davon einnehmen, als man zum Unterhalt bedarf; drittens schließlich muß man nicht durch eine leere Zeremonie Besitz davon ergreifen, sondern durch Arbeit und Anbau, die einzigen Zeichen des Eigentums, die in Ermangelung gerichtlicher Ansprüche von Anderen anerkannt und geehrt werden müssen.

Heißt es nicht wirklich dem Recht des ersten Besitzes die möglichste Ausdehnung geben, wenn man es dem Bedürfnis und der Arbeit zugesteht? Kann man diesem Recht seine Schranken setzen? Genügt es, ein ursprünglich gemeinschaftliches Stück Land zu betreten, um sogleich für den Herrn desselben gelten zu wollen? Wenn man stark genug ist, die übrigen Menschen einen Augenblick daraus zu verdrängen, genügt das, um ihnen damit für immer das Recht der Rückkehr zu nehmen? Wie kann ein Mensch oder ein Volk sich eines unermeßlichen Landstrichs bemächtigen und das ganze Menschengeschlecht desselben berauben, ohne sich einer strafbaren Usurpation [Eroberung - wp] schuldig zu machen, da er den übrigen Menschen die Wohnung und die Nahrungsmittel entzieht, welche die Natur ihnen gemeinschaftlich gibt? Als NUNNEZ BALBAO im Namen der Krone Kastiliens die Südsee und ganz Südamerika in Besitz nahm, war dies hinreichend, um es allen seinen Bewohnern zu entreißen und alle Fürsten der Welt davon auszuschließen? Bei so einer verkehrten Ansicht vervielfältigen sich diese leeren Zeremonien höchst unnützerweise und der katholische König brauchte nur mit einem Mal von seinem Kabinett aus von der ganzen Welt Besitz zu ergreifen, nur daß er hernach all das von seinem Reich ausschloß, was schon andere Fürsten besaßen.

Es leuchtet ein, wie die vereinigten und aneinander stoßenden Ländereien der Einzelnen Gebiet des Gemeinwesens werden und wie das Recht der Souveränität, indem es sich von den Untertanen auf ihre Besitzungen ausdehnt, zugleich dinglich und persönlich wird. Eben dies setzt die Besitzer in eine größere Abhängigkeit und macht ihre Kräfte selbst zu Bürgen ihrer Treue. Diesen Vorteil scheinen die Monarchen der Vorzeit nicht recht begriffen zu haben; denn indem sie sich nur Könige der Perser, der Skythen, der Mazedonier usw. nannten, schienen sie sich nicht sowohl für Herren des Landes, als nur für Oberhäupter der Menschen anzusehen. Die heutigen nennen sich viel schlauer Könige von Spanien, von Frankreich, von England usw. Indem sie so das Land besitzen, ist ihnen auch der Besitz der Bewohner völlig gesichert.

Das Eigentümliche bei dieser Veräußerung ist, daß das Gemeinwesen, weit entfernt, die Einzelnen ihrer Güter durch diese Aneignung zu berauben, ihnen vielmehr den rechtmäßigen Besitz derselben sichert, die Usurpation in ein wahres Recht und den Genuß in Eigentum verwandelt. Die Besitzer werden jetzt als Bewahrer des Gemeingutes angesehen, ihre Rechte werden von allen Gliedern des Staates geachtet und durch die ganze Macht desselben gegen den Fremden behauptet. Sie haben demnach durch eine dem Gemeinwesen und in noch höherem Grad ihnen selbst eine vorteilhafte Abtretung all dessen, was sie hingaben, gleichsam erworben: ein Paradoxon, welches sich durch die Unterscheidung der Rechte des Souveräns und des Eigentümers auf ein und dasselbe Grundstück, wie man später sehen wird, leicht erklärt.

Es ist auch der Fall denkbar, daß die Menschen anfangen sich zu vereinigen, ehe sie etwas besitzen, und daß sie dann, wenn sie sich hernach eines für sie allen hinreichenden Landstrichts bemächtigen, ihn gemeinschaflich genießen oder ihn unter sich verteilen, sei es nun zu gleichen Teilen oder nach besonderen vom Souverän festgesetzten Verhältnissen. Wie aber dieser Erwerb auch vor sich gehen mag, immer ist das Recht jedes Einzelnen auf sein besonderes Grundstück dem Recht des Gemeinwesens auf alle untergeordnet, da widrigenfalls weder das gesellschaftliche Band einige Festigkeit, noch die Ausübung der Souveränität irgendeine wahre Kraft haben würde.

Ich schließe dieses Kapitel und dieses Buch mit einer Bemerkung, die jedem gesellschaftlichen System als Grundlage dienen muß: anstatt nämlich die natürliche Gleichheit aufzuheben, setzt vielmehr der Urvertrag eine moralische und gesetzliche Gleichheit an die Stelle der physischen Ungleichheit, welche die Natur unter den Menschen erzeugen konnte, und während sie an Körper oder Geisteskraft ungleich sein können, werden sie durch Übereinkunft und Recht alle gleich. (6)
LITERATUR - Jean-Jacques Rousseau, Über den Gesellschaftsvertrag oder Grundzüge des Staatsrechts, Leipzig 1843
    Anmerkungen
    1) "Die gelehrten Untersuchungen über das öffentliche Recht sind oft nichts, als die Geschichte alter Mißbräuche. Man gewinnt nur unzeitigen Starrsinn dabei, wenn man sie zu viel studiert." (Handschriftliche Abhandlungen über die Interessen Frankreichs, seinen Nachbarn gegenüber, vom Marquis d'ARGENSON) Gerade so ging es GROTIUS.
    2) Siehe PLUTARCHs kleine Abhandlung  Peri tou ta aloga logo chrestai. 
    3) Die Römer, die das Kriegsrecht besser als irgendein Volk auf Erden kannten und ehrten, trieben die Gewissenhaftigkeit hierin so weit, daß kein Bürger als Freiwilliger dienen durfte, wenn er sich nicht ausdrücklich verpflichtete, gegen den Feind und zwar namentlich gegen einen bestimmten Feind zu kämpfen. Als eine Legion, in der CATO der Sohn des POPILIUS seine ersten Kriegsdienste tat, eine andere Bestimmung erhalten hatte, schrieb sein Vater dem POPILIUS, wenn er wünsche, daß sein Sohn weiter unter ihm dient, so möge er ihm einen neuen Kriegseid abnehmen, da der erste nicht mehr gültig ist und sein Sohn also nicht länger gegen den Feind die Waffen tragen darf. Seinem Sohn selbst verbot er streng, nicht in den Streit zu gehen, bevor er nicht den neuen Eid geleistet hat. Man kann dagegen vielleicht die Belagerung von Clusium und andere besondere Fälle anführen; aber es ist hier nur von Gesetz und Brauch die Rede. Die Römer sind das einzige Volk, das so schöne Gesetze hatte und sie zugleich am wenigsten übertrat.
    4) ROUSSEAU tadelt hier in einer Anmerkung die Franzosen wegen ihrer Verwechslung der Wörter  ville  und  bourgeois,  Stadt und Bürger, mit  cité  und  citoyen,  Gemeinwesen und Staatsbürger - ein Tadel, dessen weitläufige Begründung wir übergehen können, da er die Franzosen längst nicht mehr trifft und uns Deutsche, denen freilich für die letzteren Begriffe einfache und dem Sinn genau entsprechende Wörte, wie die Sache selbst, leider noch ganz fehlen, nicht unmittelbar interessieren kann. [der Übersetzer]
    5) Um Mißverständnissen vorzubeugen, muß ein für allemal bemerkt werden, daß ROUSSEAU unter  Souverän  die im ganzen Volk beruhende höchste Staatsgewalt versteht, insofern sie sich, wie er hier sagt,  aktiv,  das heißt selbsttätig und wirksam, verhält, und unter  Fürst  gleichsam die Verkörperung dieser Gewalt in der Person  eines oder mehrerer  Regierenden, denen ihre Ausübung obliegt. Siehe unten Buch III, Kap. 1 [der Übersetzer]
    6) Unter schlechten Regierungen ist diese Gleichheit nur scheinbar und illusorisch; sie dient nur dazu, den Armen in seinem Elend und den Reichen in seinem usurpierten Besitz zu erhalten. Faktisch sind die Gesetze immer nur denen ersprießlich, die etwas besitzen, und jenen, die nichs haben, schädlich. Daraus folgt, daß der gesellschaftliche Zustand nur solange den Menschen vorteilhaft ist, als jeder etwas und keiner zuviel hat.