ra-2W. BeckerG. F. SteffenW. HasbachG. Jellinek     
 
DAVID KOIGEN
Die Entstehung der antiken Demokratie
aus dem Geist des Rechts


"Abseits vom Treiben der Helden wickelten sich die Geschicke des Ackerbau und dann auch Handel und Gewerbe treibenden Volkes ab, dessen, den wir heute den  kleinen Mann  nennen würden. Sein Leben an und für sich erscheint im Vergleich mit dem Auftreten der Heroen allzu belanglos und arm. Alle Verwünschungen der Starken und Tapferen, die auf Kosten der Gewalt und des Hochmutes leben, vermögen nicht die Erbärmlichkeit des unter dem Joch der Arbeitslast und der zugefügten Leiden dahinlebenden kleinen Mannes zu verdecken. Das Volk wagt jetzt die Grundpfeiler des Titanentums anzugreifen. Der Willkür, dem Hochmut und dem Müßiggang werden Recht, Gerechtigkeit und Arbeit entgegengestellt. Der Lebensgehalt des Volkes wagt sich ans Tageslicht."

"Unmittelbarer Anteil aller an der Herrschaft und Regierung, gleiches Recht auf die öffentlichen Ämter, gleiches Stimmrecht, Redefreiheit in den Volksversammlungen, aus deren Mitte die Regierenden unmittelbar hervorgingen, und eine gleiche Steuerlast. Die Masse des Volkes setzte spontan ihren Willens ins Werk. Für das aristokratische Wollen, dessen Beruf im Herrschen, Verwalten und Repräsentieren aufgeht, wurde der Spielraum jetzt eng. Der Herrschaftstrieb lebte sich in den Volksspielen, Wettkämpfen und Versammlungen und im Krieg, auf dem Schlachtfeld aus. Im Hintergrund lebte das Bewußtsein der gleichen Befähigung aller; aber im Handumdrehen schwang sich der Tüchtige und Siegende zum Führer und Leiter auf. Wie es eben im Menschenland Brauch und Sitte ist."

Es kann nicht meine Absicht sein, die Demokratie durch alle ihre Wege und Wandlungen zu verfolgen. Vielmehr soll ihr geistiger Gehalt, ihre Beherrschungs- und Bewertungsmethoden des Lebens, ihre Rolle in der großen Welt der Kultur überhaupt ans Tageslicht treten. Und zu diesem Zweck ist es notwendig, daß man das "Demokratische" neben der Demokratie, die Quellen und Inhalte des demokratischen Lebens neben den sichtbaren, rein politischen Formen desselben in den Vordergrund treten läßt. Was soll uns die Demokratie, wie sie in den Büchern der Historiker und Staatstheoretiker steht, was können uns ihre Paradegestalten bieten? Da ist alles sichtbar und rasch erschöpft; der leibhaftige konkrete Mensch, wie er in Wirklichkeit lebt und leben will, tritt hier gänzlich zurück, da ist kein Feuer, an dem sich neues Dasein zu entzünden vermag. Gewiß, die politische Form des Lebens ist es, die uns zuerst den Anblick des fernen Landes gewährt, aber sie ist bei weitem nicht dieses Land selbst, mit allen seinen Wurzeln und Blüten, mit allen seinen Höhen und Tiefen. Das Leben, das sich hinter der Form verborgen hält, wie es nach Außen, in die Welt der Beziehungen von Mensch zu Mensch, von Mensch zu Gott, von Mensch zu sich selber dringt, ein solches Stück lebendigen Daseins, das den Stempel des Demokratischen an sich trägt, gilt es wahrzunehmen und zum Ausdruck zu bringen. Wer würde noch, im Hinblick auf eine solche Aufgabe, nur nach historischen und politischen Kundgebungen fragen?

Die Hauptsache ist, der Motive und Kulturbildungen habhaft zu werden, die zusammen den Organismus des Demokratischen ausmachen. Ob die Elemente desselben im alten Athen oder Rom, im Zeitalter der kirchlich-religiösen Reformation oder während der Epoche der innerpolitischen Krisen im modernen Europa, ob auf dem Lande oder in der Weltstadt der Gegewart aufgesucht werden sollen, bleibt sich im Grunde gleich. Der Ort, die historische Begebenheit, das Erlebnis und das Wollen des Einzelnen haben nur kundgetan, daß es in Wirklichkeit eine demokratische Kulturart gibt, daß der demokratische Wille und sein Gedanke, durch die tiefe Not des Daseins ins Leben gerufen, sich auf eigene Weise mit der Welt auseinandersetz und eigenes Leben zeugt und spendet. Nicht nur das philosophische Interesse des Ganzen erfordern eine solche Behandlung des Demokratischen. Mein Weg wird mir gleichzeitig gebieterisch von der Praxis unserer Tage gewiesen. Die Geschichte vermag kaum eine ähnliche Zeit aufzuweisen, wo mit soviel theoretischem Eifer, Feuer und Schärfe gegen die Demokrati und das Demokratische gekämpft worden ist. Die Demokratie wird pathologisch gescholten, Demokratie und biologisch-kultureller Niedergang werden als Synonyma betrachtet, Demokratie und  pöbelhaft  werden gleichgesetzt. Selbst die Heroen und historischen Oasen des Demokratischen sind entstellt und verdächtigt. Und manche große Zeit, die ihren Schwung allein der Demokratie verdankte, mancher CAESAR mußte der beweglichen Energie all dieser FERRERO weichen. Der Demokratie wird theoretisch ihre Existenzberechtigung abgesprochen und so wird auch unsere Generation, die durchweg in demokratischen Lebensgestaltungen aufgeht, stutzig gemacht. Demokratische Lebensformen gehen Hand in Hand mit einem ausgesprochen feudal-aristokratischen Selbstbewußtsein. Diese innere Kluft verspricht nichts Gutes, sie läßt den demokratischen Willen, und was in ihm aufbewahrt ist, nicht groß werden. Dem abzuhelfen vermag lediglich der demokratische Gedanke in seinem ganzen Umfang, wie er, vom hellenisch-römischen Geist erzeugt, vom Reformationszeitalter vertieft und erweitert, in unserer Epoche gelebt, verwirklicht und begründet wird. Unserer Generation obliegt es, sich auf die Totalität des Demokratischen zu besinnen, dieses dann auch gedanklich zu befestigen. Die Philosophie und die Praxis, beide gehen hier auf das Ganze hinaus, die Absichten beider begegnen einander. Sie sollen in der Folge auch in eins zusammenfallen.

Im Kampf gegen das Titanentum, gegen die Willkür und die Launen des Gewaltmenschen und des Heros ist der demokratische Kulturgedanke geboren und im Kampf um die Vermenschlichung sowohl der natürlichen, usurpatorischen wie der übernatürlichen, göttlichen Willensäußerungen ist er groß geworden. Anstelle der natürlichen oder göttlichen Art, das Leben zu bewältigen, will er die Menschenart gesetzt wissen. Sein vornehmliches Streben ist und bleibt der summarische Humanismus, bedeutet die Vermenschlichung des gesamten Lebens- und Weltinhaltes. Im Kopf der Demokratie malt sich allerdings der Humanismus anders als etwa in den Köpfen eines SCIPIO und CICERO, dieser Schöpfer eines rein geselligen, galanten Humanismus oder gar der sogenannten Humanisten an der Wende unseres protestantisch-liberalen Zeitalters. Der demokratische Humanismus gräbt tiefer und umfaßt mehr. Sein Thema ist die Behauptung des Einzelnen, der Vielen, Aller, sowohl in der Menschenwelt wie in der Welt überhaupt. Zuvörderst haben die Vielen, als Verfechter des Demokratischen, bloß für die Unabhängigkeit und autonomes Dasein in der sozialen Welt gekämpft, in der Folge aber wuchst der Gedanke der sozialen Autonomie des Einzelnen zur Vorstellung der unabhängigen, freien Existenz des Menschen, zur Vorstellung der  Unsterblichkeit  und Unantastbarkeit in der Welt schlechthin. Der Kampf gegen die sozialen Vorrechte ging in den Kampf gegen die Vorrechte jedweder Natur über, er richtete sich selbst gegen die Prärogative [Vorrechte - wp] der unbarmherzigen Meisterin Natur und des erhabenen, unnahbaren Gottes. Natur und Gott, beide suchte der demokratische Kulturgedanke in seinen trunkenen Siegesperioden unter die Vorstellung vom Menschlichen zu zwingen. Sobald der Mensch selbst durch die Erhebung zum autonomen, unantastbaren Wesen sich groß und mündig dünkte, trug er nun sein Bewußtsein auf die gesamte Umwelt über. Der Vorstellung der eigenen Autonomie folgte die "anthropozentrische", humanitäre Daseinsbewertung auf der Spur. Die Wandlung der Massen, der Menge in die "Vielen", in das Volk oder die "Demokratisierung derselben ging so Hand in Hand mit der Vermenschlichung, mit der Humanisierung der Gesamtheit. Man ahnt wohl, wie Demokratie und Humanität eins wurden, wie die Volksbildung und Menschenbildung einander bestimmten. Wie aber  in concreto  dieser Prozeß vor sich gegangen sein mag, welche Lebensrichtungen und Daseinswerte er ans Tageslicht beförderte, vermag allein die Betrachtung der einzelnen Kulturgebiet zu veranschaulichen.

In seiner sozialen Gestalt ist der demokratische Gedanke mit dem Recht geboren. Die Geschichte der antik-griechischen Rechtsidee, die im Grunde die Geschichte vom Sich-los-machen der Masse vom Titanentum, die Tatsache des Bildens der Vielen zum Volk bedeutet, bleibt noch immer die wichtigste Quelle demokratischer Kultur. Wenn auch diese Rechtsgeschichte gar nicht so eindeutig und abgeschlossen vor uns liegt, so läßt dafür ihr Antipode und zwar die Vorstellungswelt des homerischen Zeitalters, an Klarheit und Geschlossenheit nichts zu wünschen übrig. Der rechtspolitische Gedanke der griechischen Demokratie läßt uns zwar oft im Stich, wo es gilt, die von ihm getragene summarische Kulturanschauung ausfindig zu machen, dafür besteht kein Zweifel darüber, was er nicht war, was er nicht sein wollte. Denn das Volk, dessen politischer Geniua, wie HEINRICH von TREITSCHKE sich ausdrückte, sich in der Bildung der Demokratie erschöpfte, sieht zugleich seinen Stolz in der Schöpfung der ästhetisch-aristokratischen, homerischen Heroenwelt. Das Weltbild des homerischen Titanentums und die Vorstellungswelt der attischen Demokratie, an diesem Gegensatz kann man die Tiefe des Demokratischen, seinen Humanismus fassen, wenn auch der Ausdruck  Humanismus  späteren Datums, ein Geschöpf der hellenisch-römischen Kultur, ein Schlagwort der Gebildeten Roms im cäsarischen Zeitalter ist.

Die homerischen Bücher stellen einen Kodex der natürlichen und übermenschlichen Vorrechte des Titanentums dar. Das Recht und mit ihm die Demokratie kommen da zu kurz. Das Volk und seine Wünsche treten hier, wie die Masse in einem Drama von SHAKESPEARE, ganz in den Hintergrund, sie scheinen nur da zu sein, um das Gemälde zu vervollständigen. Mit dem Recht aber wird die rein demokratische Fähigkeit geweckt, die Ansprüche aller Mitmenschen gleich zu respektieren. Beginnt die große Gewalt dem Recht den Platz zu räumen, so wird auch die Ahnung wachgerufen: in irgendeiner Hinsicht kommt uns, allen Menschen, dieselbe Geltung zu, sodaß die Streitigkeiten, die in unserer Mitte entstehen, nicht allein durch physische Stärke und geistige Überlegenheit zum Austrag gebracht werden können und dürfen. Es gibt ein "Mein" und ein "Dein", und was in das Gebiet des  Mein  und  Dein  fällt, darüber hat nicht allein die Gewalt, über die ein jeder von uns momentan verfügt, zu entscheiden. Weit hinaus über unsere Stärkeverhältnisse hebt sich eine Macht empor, die alle gleich verpflichtet, einander Achtung entgegenzubringen, die das Gebot erteilt, den Austausch unserer Kräfte und Erzeugnisse nach einem allgemein geltenden Maßstab vorzunehmen. Rechtmäßiger Vertrag, Rechtsverfassung, Recht schlechthin nennt sich diese Macht, die Frieden und Unabhängigkeit unter den Menschen zu stiften berufen ist. Lange Zeit hindurch stand das Recht im Bann des Titanentums, der Ausgang des Prozesses hing allein oft von der beinahe physischen Stärke der streitenden Parteien und nicht minder vom starken Arm eines Richters des Kampf- und Scharfrichters ab. Der Rechtskampf war vorwiegend ein kriegerischer, ein politischer Kampf, der mit dem Appell an die  ultima ratio  der Politik, an die nackte Gewalt zu enden pflegte. Erst mit der Verwandlung der rechtlichen Auseinandersetzung kriegerischer Art in eine indirekte, sozial-geistige, tritt das politische Moment zurück. Ganz vermochte allerdings das politische Moment vom Rechtswesen nicht getrennt zu werden. Und noch heute bedeutet die Rechtspflege in einem hohen Maß Rechtspolitik.

Trotz all dem bleibt das Recht in seinen letzten, inneren Voraussetzungen wie seinem Endziel noch demokratisch und humanitär. Man denke sich in das Geschehen der Rechtsbildung hinein. Bedeutet denn nicht das bloße Verleihen von Rechten die Erhebung des Einzelnen zu einer autonomen Person, die so über die ihr zukommende Macht zu verfügen hat. Ich suche mein Recht, heißt dies nicht soviel wie das Verlangen, die mir zustehende soziale Machtsphäre vor fremder Willkür und übermütigem Angriff anderer in Schutz zu wissen? Schon die Vorstellung des Rechts macht mich zu einem Selbst, zu einem Etwas, was nur ich bin, was nie durch ein Fremdes, und möge es ein Gott sein, ersetzt werden kann. Mit mir wird auch mein Wirkungskreis der Autonomie und der Geltung habhaft. Und dieser Wille zum Recht, der, genau besehen, einen Willen zur eigenen Autonomie bedeutet, kommt allen, den Vielen, dem Volks zu: erst im Bereicht der privaten Tätigkeiten, wo es zur Notwendigkeit wird, aufeinander angewiesen zu sein, miteinander in eine dauerhafte fruchtbringende Beziehungen zu treten, auf dem Feld des Tausches von notwendigen Lebensmitteln und Erzeugnisse, dann auch in den rein politischen und gesellschaftlichen Beziehungen von Mensch zu Mensch, von Mensch zu Gesellschaft, von Mensch zu Staat; erst sucht das Recht seiner Bestimmung in der privatrechlichen Sphäre gerecht zu werden, und nachträglich wird es auch in den vielfältigen gesellschaftlichen Verhältnissen gepflanzt. In beiden Fällen erzeugt die Rechtsbildung unabhängige autonome Wesen, sie fördert die "Vielen", das Volks schlechthin ans Tageslicht.

Man sollte eigentlich einmal die Frage erwägen: ist die Möglichkeit einer Volksexistenz ohne eine alle Beziehungen durchdringende Rechtsverfassung überhaupt denkbar? Vielleicht decken gar die Begriffe  Volk  und  Recht  einander? Die Bestimmung des Rechts ist eine zweifache: der Schutz der Machtsphäre, der sozialen Freiheit eines jeden und die Verpflichtung aller, miteinander nach einem allgemeingültigen Prinzip zu verkehren und zu handeln. Der Rechtswille individualisiert und sozialisiert zu ein und derselben Zeit; seine Macht erstreckt sich zugleich auf das Besondere und das Allgemeine aus, auf die "Vielen" und auf das "Volk", auf den "Demos", er erweckt den Menschen und das Menschentum. Die hebräische Bibel scheint offenkundig von diesem Rechtsgedanken in seiner Urbedeutung getragen zu werden, wenn sie erst durch den "Vertrag" das Volk "Volk" werden läßt. Es ist bei weitem kein Zufall, wenn es überall in der Menschengeschichte, während tiefgehender sozialpolitischer Krisen die Idee des Vertrages ist, die berufen wird, die entstandene Kluft zu überwinden und die Einheit des Volkes aufs Neue herzustellen. Die Verwandtschaft, die an das gemeinsame Blut und an den gemeinsamen Wohnort geknüpft ist, oder die gar ihr Auftreten der gemeinsamen Sprache und Sitte verdankt, liefert bloß vorübergehende, schwache Voraussetzungen für das Gebilde Volk. Sowohl ihre Individualisierungs-, wie ihre Sozialisierungskraft reichen nicht aus, um den einzelnen autonom und die Vielen zum Volk zu machen. Das Recht allein schafft ein gegenseitiges latentes, dauerhaftes, allgemeinmenschliches, humanitäres Verständnis herbei, wie es die Volksreligion und Volksmetaphysik, die Weltreligionen und die weltphilosophischen Systeme in ihren Wirkungskreisen zustande bringen. Allerdings, das positive, von Fall zu Fall wechselnde Recht tut es nicht. Jedoch in der Voraussetzung aller Rechtsbildung: einem jeden kommt in irgendeiner Hinsicht eine autonome Existenz zu, und in den Akkordschluß des rechtlichen Geschehens: alle sollen in ihren Handlungen auf  ein  Prinzip verpflichtet sein, wird das innere humanitäre Band bemerkbar, das die Vielen zum Volk verknüpft. Konkret gesehen, ist es der demokratische Geltungswille, der Wille, der die Menschen als autonome Wesen, als gleichberechtigte Personen nebeneinander ordnet, der hier das menschliche Band um die Vielen schlingt.

In irgendeinem Punkt treffen das Rechts-, Volks- und Menschenwerden sicherlich zusammen. Aus allen drei Bildungsformen schaut das sich absondernde und sich genügende Menschenwesen heraus, das Verpflichtungen eingeht, sich an Verpflichtungen gebunden sieht. Ein latentes Sich-Vertragen miteinander, eine mehr unbewußte Vertragsgesellschaft gibt sich kund, die ihr Bestehen nicht mehr allein der Rücksicht auf die Götter oder das Titanentum, auf die Gewalt und den Zwang verdankt. Im reichen Spiel der vielfältigen Beziehungen ist es jetzt der latente Rechtswille, der auf sich selbst sich zurückziehende Einzelne, der statisch, konservierend und konzentrisch wirkt. Die sich mehrenden Rechtsverbindungen und Rechtsverpflichtungen erhöhen in hohem Maß das Bewußtsein von der selbständigen Einheit. Ein eigenartiges Gesetz des individuellen Beharrens beginnt Leben zu fangen. Bald gilt es als Verstoß gegen den ursprünglichen Rechtswillen, gegen das Volkstümliche und Menschliche, über die vom Gesetz des Beharrens umschriebenen Grenzen hinaus zu wollen. Der Volkswille gebärdet sich konservativ.

Wer Volksgemeinschaft und somit urrechtliche Gemeinschaft ausspricht, hat bereits ein gutes Stück Weg im Menschenland zurückgelegt. Die anderen aber, die fortfahren nach den inneren Eingebungen der momentanen Machtäußerung zu leben und sich als Titanen und Halbgötter gebärden, sich selbst gottähnlich dünken, scheuen ursprünglich das Recht, das jetzt mit dem Volk, mit den Vielen gewachsen ist. Schon heute scheiden sich die Wege beider, der Heroen und des Volkes. Jene halten es mit der "göttlichen", übermenschlichen Lebensweise, dieses aber will nach eigener Art, nach "Menschenart" sein Dasein geordnet wissen. Die Vielen waren immer zu schwach, um den Kampf mit dem Titanentum aufzunehmen; sie ließen die Titanen Titanen sein und zogen sich auf die eigenen Positionen des Lebens zurück. Da vermochten die Vielen, Alle, sich "geltend" zu machen, ein jeder vermochte einen eigenen Schwerpunkt zu finden, sich als seiend wahrzunehmen. Noch eine Strecke, und das Volk pocht schon auf sein Recht, der Mensch fühlt sich schon stark genug, um den Kampf mit dem Titanentum auszufechten. Hier angelangt, steckt das Volk das Titanentum an und wird auch von diesem affiziert. Diese und auch manche andere Brücke wird zwischen beiden geschlagen; auch hier wird die Idee der Zugehörigkeit zu einem Volkstum, zu einer Menschheit wachgerufen.

Man überschätze jedoch nicht den Mann aus dem Volke, den demokratischen Menschen in seiner ursprünglichen Gestalt. Nicht aus Übermut gegen die Götter und die Heroen-Welt, nicht aus dem Gefühl der Rebellion und des Widerstandes stammt sein Appell an das Menschliche, an den Menschen schlechthin in uns. Eher der Kampf gegen den Übermut anderer,  die Erkenntnis der eigenen Machtgrenzen nährte vornehmlich den demokratisch-humanitären Willen.  Die Geschichte des altgriechischen Demos bietet ein vielsagendes Beispiel für diese Art von Menschenzeugung dar. So beginnen in der altepischen, homerischen Zeit die Heroen selbst in dem Maße sich als Menschen, als zum Volk gehörend, zu fühlen, als sie sich vor unüberwindbare Notwendigkeiten des Lebens, vor Schicksalsmächte gestellt sehen. Alle ahnen das Schicksal walten, welches niemanden schont. Schicksalsgöttinnen, wie die  Fata  oder die  Moiren,  und vor allen Dingen die  Ananke,  was schon auf die zwangsmäßige Notwendigkeit hindeutet, versetzen dem Hochmut einen Stoß. Man hört schon von Unfreiheit reden, und resignierte Wehmut mischt sich in den Jubel des Edlen. Ein jeder ist dem Tod geweiht, und wer heute siegt, wird morgen unterliegen. So hat es die höhere Weltnotwendigkeit gefügt und so kommt - da vernimmt man schon moralische Volksklänge - die innere Vergeltung zum Vorschein. Hier, im Enden-Müssen gibt es weder Heroen noch Sterbliche, das waltende Schicksal mahnt alle gleich. Allerdings wurde "nur Widerwärtiges, Krieg, Streit, Tod, Alter in der altepischen Zeit charakterisiert als das, was alle gleich macht" (RUDOLF HIRZEL in seiner tiefangelegten, bemerkenswerten Geschichte der griechischen Rechtsidee "Themis, Dike und Verwandtes", Seite 235).

Die Notwendigkeiten, welche alle gleich treffen, verwischen die Grenzen zwischen Titanentum und Volk, mit der Freiheit aber scheiden sich die Wege. Das Fatum ist hoch und liegt weit weg vom Ort, wo sich das eigentliche Leben abrollt. In der natürlichen Umwelt, in den Kämpfen und Wünschen kennt der Heros keine vorherbestimmenden Ordnungen, keine Gesetze. Der Heros ist so in der Tiefe seines Urbewußtseins Pessimist, aber umso stärker schlägt der Puls des irdischen Daseins. Es bleibe allein der Kampf, das Werden und Geschehen übrig und man sehe zu, daß "es recht heftig zugehe" (JAKOB BURCKHARDT, Griechische Kulturgeschichte, IV, Seite 35). Frei sind die Heroen in ihrem Auftreten, und einem jeden steht noch eine Schar von Göttern bei. Die Götter mischen sich aus freien Stücken in die Kämpfe der Titanen und Heroen und diese in die Streitigkeiten der Götter. Da wird gemordet, geraut, Totschlag verübt, List angewandt, Freundschaft geschmäht, all dies nach Herzenslust, wie es sich eben im "Naturzustand", im Heroenzeitalter ziemt. Ein förmliches Götter- und Menschen-Gemetzel. Allein auch in diese "großen Handlungen" und "naiven Gesinnungen" der Musterhelden mischen sich warnende Gefühle. Der Heros fürchtet, den Neid der ihm überlegenen Götter zu wecken. Und nun heißt es schon, man dürfe nicht allzu schön, nicht allzu reich und glücklich sein. (Zahlreiche diesbezügliche Beispiele aus der griechischen Literatur des 5. Jahrhunderts bringt LEOPOLD SCHMIDT, Die Ethik der alten Griechen, Bd. 1, Seite 81f; HIRZEL, a. a. O., Seite 302f) Man müsse vielmehr einen Teil des erworbenen Reichtums und Glücks freiwillig opfern. Das unbändige, titanenhafte, in der Folge aristokratisch-herrschaftliche Wollen wird dann und wann zur Besinnung gebracht. Den Rücksichten auf die Schicksalsschläge und auf die Furcht vor dem Götter-Neid gesellt sich die Göttin  Themis,  diese Ratgeberin des  Zeus  und der Menschen, welche zum Maßhalten rät. Als fürsorgliche Ratgeberin der Götter und Fürsten verfehlt die  Themis  nicht, beim gemeinsamen Gastmahl, in den Rechtsversammlungen zu erscheinen. Sie erteilt klugen Rat und hält die Leidenschaften im Zaum. Mit ihrer Hilfe wandelt sich auch das ewige Spielen, das rücksichtslose, blinde Kämpfen in ein maßvolles, zielbewußtes Handeln, was schon einen Funken von Ordnung, von "Recht" in sich trägt. Das Leben der Titanen und Heroen untereinander bereitete so auch in eigener Mitte den Boden für Sitte und Recht. Noch früher aber waren auf diesen Weg ihre Frauen gewiesen. Das Leben im Haus, das eigene Geschlecht führte sie dazu.

Abseits vom Treiben der Helden wickelten sich die Geschicke des Ackerbau und dann auch Handel und Gewerbe treibenden Volkes ab, dessen, den wir heute den "kleinen Mann" nennen würden. Sein Leben an und für sich erscheint im Vergleich mit dem Auftreten der Heroen allzu belanglos und arm. Der Demos gewinnt an Interesse weniger durch den Bestand der Kultur des einzelnen als Dank der objektiven Kultur, die er als Ganzes hervorbringt. Der Mensch "im fünften Geschlecht" (HESIODs "Werke und Tage") nimmt sich freilich sehr schlecht neben den Titanen HOMERs aus. Alle Verwünschungen der Starken und Tapferen, die auf Kosten der Gewalt und des Hochmutes leben, vermögen nicht die Erbärmlichkeit des unter dem Joch der Arbeitslast und der zugefügten Leiden dahinlebenden kleinen Mannes zu verdecken. Und selbst ein Apologet und Sänger, HESIOD, der pathetisch ausruft: "Der andere Weg ist besser, hin zum Recht zu gehen; Recht hält sich über dem Hochmut", vermag sich nicht der Trauer zu erwehren: "O müßte ich nicht im fünften Geschlecht daheim sein, stürbe zuvor schon oder ich würd' erst später geboren!" Das Volk wagt jetzt die Grundpfeiler des Titanentums anzugreifen. Der Willkür, dem Hochmut und dem Müßiggang werden Recht, Gerechtigkeit und Arbeit entgegengestellt. Der Lebensgehalt des Volkes wagt sich ans Tageslicht. Selbst die verbreitete Mär von der Geringschätzung der Arbeit durch die Griechen wird Lügen gestraft.
    "Du schaffe mit Lust an mäßiger Arbeit,
    daß mit gezeitigter Frucht stets deine Behälter gefüllt sind!

    Arbeit mach dies auch viel werter den ewigen Göttern" ...
Die Zentralidee des Volksbewußtseins blieb die Gerechtigkeit, die bereits HESIOD als das "höchste Gut" ausspricht. Zu dieser führte ein langer, mühsamer Weg, der zugleich der Weg der Rechts- und Gesetzesbildung war. Die  Themis  genügte dem Volk nicht. In seiner Mitte wurde ihre Tochter, die  Dike  heimisch, die über Recht und Unrecht, über Strafe und Sühne das Urteil fällt, ausgleichende Gerechtigkeit übt und in der Folge ein Gleichgewicht im Menschenland herstellt. Einem jeden soll sein Recht zuteil werden, ein jeder soll in seinem Eigentum verbleiben und Schutz finden, ein jeder soll das seinige tun. Der  Dike  folgte die Vorstellung vom Gesetz und der Gesetzmäßigkeit auf der Spur. Und diesem Zu- und Nebenordnung schaffenden Gesetz habe man zu gehorchen. Das Gesetz,  nomos  bedeutete (man schlage bei HIRZEL nach), sowohl väterliche Sitte wie Gesetz in unserem (objektiv-staatlichen) Sinne. Die Demokratie achtet aber stets darauf, daß sich das Gesetz nicht allzuweit vom Herkömmlichen, vom Vertraut-Menschlichen entfernt. Daher auch die hohe Achtung, die die ungeschriebenen Gesetze in der attischen und sonst in der Demokratie genießen. SOLON strebt ja bewußt danach, die zweifache Bedeutung der Gesetzesidee aufrecht zu erhalten. Und KLEISTHENES, ein anderer gefeierter Wortführer der Demokratie, legt den Akzent auf die Volkssitten als Inhalte der Gesetze (vgl. SCHMIDT, a. a. O., Seite 20); über den Wandel des Begriffs  nomos: HIRZEL, a. a. O., Seite 376f). Was gestern noch den Stempel der lokalen Volkssitte, der Gesittung schlechthin trug, hat jetzt seinen Wirkungskreis überschritten und ist als Recht, als Gesetzesrecht schlechthin auf die Bühne getreten. Kraft des  nomos  wird es möglich, nicht nur das Leben der Gemeinde zu leiten, sondern auch eine Übersicht (eine Aussicht und Einsicht) über den Bestand derselben zu gewinnen. Die vereinigten Sitten und Gesetze (die  patrioi nomoi,  auch  patrios politeia)  bilden die Polis, diese Krönung des Sitten- und Rechtslebens. In die Polis geraten, verringert sich allmählich das Gesetz, indem es die Sitte, jetzt Ethos genannt, ausscheidet. Während sich das Gesetz veräußerlicht, verinnerlicht sich der zurückgebliebene Ethos und wird am Ende eine persönliche, moralische Angelegenheit eines jeden. Das Gesetz, ein Ebenbild der Lebensordnungen in der Mitte der Vielen, des Volkes, hat aus sich heraus die Norm für die persönliche Lebensführung, die Moral geboren. Und so gesellte sich dem sozialen Rechts-Humanismus ein individueller, persönlicher.

Die Kraft des volkstümlichen, demokratischen Ordnungssinnes hat sich dadurch noch lange nicht erschöpft. Sein Zug zur Vermenschlichung, zur "Demokratisierung" aller Kulturinhalte hat seinen Reigen noch nicht geschlossen. Er breitete seine Fittiche über den ganzen Kulturkosmos, der Begriff der Rechts- und Gesetzesordnung erstreckte sich auch auf die gesamte Natur. Der volkstümliche Anthropomorphismus oder Demomorphismus entdeckte sich selbst im Universum, das jetzt in die Vorstellung als rechtmäßige Weltregierung Eingang fand. "Der Gedanke eines nicht bloß das Menschenleben, sondern überhaupt die Natur durchwaltenden Rechts war nachgerade volkstümlich geworden" (HIRZEL, Seite 222). So wuchs hier, wie auch im Denken der hebräischen Bibel das Rechtsbewußtsein des Volkes zu einem rationalistischen Weltsystem nach dem Muster des Rechts und der Politik: eine rechtliche Weltordnung. Selbst der Kosmos nahm die Gestalt eines rechtspolitischen Begriffs an.

Wieder und immer wieder wagt sich das Leitmotiv des demokratischen Bewußtseins an die Oberfläche. Nur nicht den Titanen und Göttern gleich werden, bloß jedem Ding, jeder Angelegenheit, einem jeden Menschen sein Recht auf autonomes Sein, die ihm zukommende Gerechtigkeit angedeihen lassen. Keiner darf sich über die Schranken seiner Natur erheben. Das Recht auf ein ausschließliches, übermenschliches Leben ist von Übel. Hier treffen wieder der humanistische Gedanke der Bibel und der attischen Demokratie einander. Selbst der Natur sind feste Maße und Grenzen gelegt und auch diese soll nach den ihr innewohnenden Gesetzen behandelt werden. Die Hebräer stellten ein System von Arbeitsregeln und Reinigungsgesetzen auf: durch ihre Vermittlung nimmt die Natur an der allgemein-menschlichen Rechtsordnugn, an der Gerechtigkeit teil. Die Griechen und nicht nur sie allein (man denke an die Völker des germanischen Mittelalters) faßten das ungewöhnliche, nicht vom Rechtsbewußtsein geweihte Eingreifen in das Leben der Natur als frevelhafte Tat auf. (Ich erinnere an die Opposition, welche die Bauernschaft dem Übergang von einem Feldsystem in das andere bereitete). Nicht allein den aristokratischen, selbst den revolutionären Willen zur Wandlung legte die Demokratie ursprünglich in Fesseln.

Wie man sich auch zu diesen Ansprüchen des demokratischen Willens stellen mag, der Ertrag ihres Grundgedankens selbst für die theoretische Kultur ist von großer, weltgeschichtlicher Bedeutung. Es fehlte gar wenig, uns, (falls wir im Geist des demokratischen Bewußtseins verharren), ein durchweg wissenschaftliches Weltbild zu erhalten. Nur die das Weltall regierenden "Rechtsgesetze" des Gerechtigkeitssinnes entkleiden und von der Vermenschlichung losmachen. Und dann dem so vom Menschlichen gereinigten demokratischen Gesetzesbegriff die unpersönlichen Eigenschaften der göttlichen  Ananke,  der zwangsmäßigen Notwendigkeit verleihen. Dieser Wandlung wurde in der Folge der Gesetzesbegriff unterworfen, der sein Entstehen dem Rechtsleben verdankt. Zuerst hat es der revolutionär-aristokratische Philosoph HERAKLIT unternommen, aus dem Menschengesetz ein unpersönliches universales Naturgesetz zu machen (vgl. auch HIRZEL, Seite 392f) und späterhin, nach vielen Jahrhunderten haben die römischen Stoiker der Vorstellung vom entmenschlichten, naturnotwendigen Weltgeschehen zum Sieg verholfen. Den ersten Anstoß zu dieser radikalen, in den Bewußtseinsorganismus tief eingreifenden Änderung gab das demokratische Rechtsleben. Der demokratische Geltungswille in uns ist so die allerletzte Voraussetzung des rein menschlichen Ordnungs- und Gesetzessinnes.

Die Demokratie ist die geborene Verfechterin des elementaren, spontan sich bildenden Humanismus. Ihr ewiger Refrain ist: nur nicht allzuweit vom Menschlichen abrücken, nur bei sich bleiben und möglichst in Unmittelbarkeit beharren. Erst recht bemerkbar macht sich dieses Streben auf dem Gebiet der Politik im engeren Sinne, dort, wo es sich um die Bewältigung der vereinigten Gesetze des Gemeinwesens, der  "patrioi nomoi"  handelt. Der Einzelne ist auch hier nicht gewillt, sich als Geltenden, als sich selbst Verwaltenden und Gesetze Schaffenden durch den Willen fremder Organe oder Menschen vertreten zu lassen. Das Repräsentativsystem gilt ihm folgerichtig als Verstoß gegen die demokratische Autonomie. Die Gleichheit im Sinne von politischem Geltendmachen Aller geht hier vor Freiheit. Die reine Ur-Demokratie, wie sie in den dörflichen Gemeinden bei den alten Germanen oder Slawen und bereits im 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bei den Griechen hervortritt, bleibt bis auf den heutigen Tag in politischer Beziehung das Urbild volkstümlicher Regierungsart. Es wird ein förmlicher Kultus mit der Gleichheitsidee getrieben. Unmittelbarer Anteil aller an der Herrschaft und Regierung, gleiches Recht auf die öffentlichen Ämter, gleiches Stimmrecht, Redefreiheit in den Volksversammlungen, aus deren Mitte die Regierenden unmittelbar hervorgingen, und eine gleiche Steuerlast. Die Masse des Volkes setzte spontan ihren Willens ins Werk. Für das aristokratische Wollen, dessen Beruf im Herrschen, Verwalten und Repräsentieren aufgeht, wurde der Spielraum jetzt eng. Der Herrschaftstrieb lebte sich in den Volksspielen, Wettkämpfen und Versammlungen und im Krieg, auf dem Schlachtfeld aus. Im Hintergrund lebte das Bewußtsein der gleichen Befähigung aller; aber im Handumdrehen schwang sich der Tüchtige und Siegende zum Führer und Leiter auf. Wie es eben im Menschenland Brauch und Sitte ist. Wie wäre übrigens eine absolute unmittelbare Demokratie auf die Dauer möglich? Das Zusammenwirken von Menschen und das politische Zusammenwirken erst recht schafft fortwährend Verhältnisse der Über- und Unterordnung, es erzeugt einen gemeinsamen Willen, den Gemeinschaftswillen, der sich nicht mehr mit dem Willen zur Autonomie des einzelnen deck, der eher die Willen der einzelnen umschließt und sich diese dienstbar macht. Der Kulturakt, das Konglomerat der menschlichen Beziehungen läßt sich eben weder in der Theorie, aber in noch geringerem Maß in der Praxis auf ein einziges Axiom oder Prinzip zurückführen. Es kommt immer auf den dominierenden Willen im Kulturstaat an (Ausführliches darüber siehe die Einführung in meinem Buch: "Ideen zur Philosophie der Kultur").  Die Demokratie war nun in ihrem tiefsten Innern vom Willen zur Geltung durchdrungen. In der Gleichheit aller vor dem Gesetz fand er seinen politischen Ausdruck.  Selbst die Metöken [fremde Ansiedler - wp], die nur spärlich in die Reihen der Volksbürger Einlaß fanden, standen unter dem Schutz dieser oberen Forderung der Demokratie. Alle fühlten sich als Menschen, als Teilinhaber menschlicher Satzungen. Der attische Staat, der in der Folge ein Kosmos für sich wurde, vermochte dem humanitären Volkstrieb keinen Abbruch zu tun. Der Bürger hat ihn ja unmittelbar gehandhabt, der Staat, die Polis, war ein Stück seines Selbst. Das dem Staat Gehorchen bedeutete soviel, wie das sich Unterordnen einem Gesetz, das man sich selbst gab. Es kam dem Kampf gegen die eigenen titanischen Triebe gleich, dem Zurückdrängen des Übermutes im Hinblick auf die Selbstbestimmung, das Selbst floß mit den Menschen, mit dem Menschlichen schlechthin zusammen. Das volkstümliche Urempfinden fühlte sich durch den Staat, der kein Repräsentativ-System kannte, keineswegs verletzt. Insbesondere war es dort der Fall, wo der frische Sinn für die Volkstümlichkeit des Rechts noch nicht abhanden gekommen ist. So in den Fällen, wo der Staat als Ganzes, als Person ins Feld zog: in den Eroberungs- und Verteidigungskriegen. Im Rom CÄSARs empfanden selbst die Söldner den Staat als ein Stück ihres eigenen Wesens: wie die Bürger Athens, fühlten auch sie sich als Teilhaber der zu erobernden Welt der "Barbaren". Der Staatswille war ihrem eigenen Willen gewogen, er war mit ihm solidarisch. Selbst die innere Politik war ihrem Streben nach eine volkstümliche. Und Volkstümlichkeit bedeutete zu CÄSARs Zeit, wie THEODOR MOMMSEN (Römische Geschichte, Bd. III, Seite 530) hervorhebt, soviel wie Humanität. Der Staat, die Polis wandelten sich in die Patria um; das patriotische Bewußtsein ist ins Leben gerufen worden.

Man kommt am Besten auf den Grund einer Kultur, wenn man weiß, wie hoch ihre Ziele gesteckt waren, wonach es ihre Träger verlangte. Was der Mensch sein wollte, ist wichtiger als was er kraft äußerer Hemmnisse zu sein gezwungen war. Im Wollen kommen die verborgenen Erlebnisse, kommt die Gesinnung und der Kulturmut, dessen man fähig ist, eher zum Ausdruck, als in den bereits vollzogenen Geschehnissen. Es macht daher auf mich kaum einen Eindruck, wenn man beispielsweise die sozialtechnischen Einrichtungen der antiken Demokratie mit den unsrigen, jene um vieles überragenden, in Vergleich zieht. Noch im 18. Jahrhundert hat ADAM FERGUSON, einer der ersten Historiker der menschlichen Gesittung, es versucht, sich in die Stimmung eines Gentleman zu versetzen, den die Neugierte in das Land der alten Griechen geführt hat.
    "Dieses Land - so etwa würde der reisende Gentleman seine Eindrücke formulieren - hat im Vergleich zum unseren ein unfruchtbares und verödetes Aussehen. Ich sah auf der Straße Scharen von Arbeitern, die in den Feldern verwendet wurden, aber nirgends sah ich die Behausung des Gutsbesitzers. Es wäre unsicher, sagte man mir, auf dem Land zu wohnen, und die Leute drängten sich in die Städte zusammen, um einen Verteidigungsort zu finden. Sie können unmöglich zivilisierter werden, ehe sie eine regelrechte zentralisierte Regierung eingeführt haben. Im Augenblick handelt jede Stadt, nein, ich darf sagen, jedes Dorf, für sich selbst und es herrscht die größte Unordnung. Ich wurde nicht wirklich belästigt; denn ihr müßt wissen, daß sie sich Nationen nennen und all ihren Unfug unter dem Vorwand der Kriegsführung verüben ... Ich kann mich nicht enthalten, euch mitzuteilen was ich gefühlt habe, da ich sie über ihr Land, ihre Armeen, Einkünfte, Verträge und Bündnisse reden hörte. Durch einen Staat kam ich, dessen bestes Haus nicht vom geringsten eurer Arbeiter bewohnt werden würde und in dem selbst eure Bettler keine Lust hätten, mit dem König zu Mittag zu essen. Dennoch hält man sie für eine große Nation, und sie haben nicht weniger als zwei Könige. Einen davon sah ich; das war ein Potentat! Er hatte kaum einen Rock am Leib und wenn  Seine Majestät  Tafel halten wollte, war sie genötigt, in ein und dasselbe Speisehaus mit Ihren Untertanen zu gehen. Sie haben keinen Pfennig Geld, und ich war genötigt, meine Nahrung auf öffentliche Kosten zu erhalten, da keine zu kaufen war. Ihr werdet euch einbilden, daß es silbernes Tafelgeschirr und eine große Aufwartung gegeben haben muß, um den vornehmen Fremdling zu bedienen. Allein mein Mahl bestand aus einer Schüssel voll elender Suppe, die mir ein nackter Sklave brachte. Das Elend des ganzen Volkes übersteigt alle Beschreibung. Man könnte denken, ihre Aufmerksamkeit sei darauf gerichtet, sich soviel wie möglich zu quälen. Sie waren sogar mit einem König darum unzufrieden, weil er wohl gelitten war. Während ich dort war, schenkte er einem Günstling eine Kuh und einem anderen eine Weste (was wohl der vornehmene Reisende aus PLUTARCHs "Leben Agesilaus" erfahren hat) und man erklärte öffentlich, daß diese Art, Fremde zu gewinnen, den Staat berauben heißt. Mein Gastwirt sagte mir ganz ernsthaft, daß ein Mann keine Verpflichtung übernehmen darf, welche die Liebe, die er seinem Land schuldet, schwächen könnte ... Ich fragte ihn einmal, warum sie um ihrer selbst willen ihre Könige nicht in den Stand setzen, ein wenig mehr Staat zu machen? Weil, sagte er, wir ihnen das Glück gönnen, mit Menschen zu leben. Als ich ihre Häuser tadelte und besonders mein Erstaunen darüber äußerte, daß sie keine besseren Kirchen bauen, sagte er: Was würdet ihr denn sagen, wenn ihr die Religion in Steinmauern fändet? Dies mag als Beispiel für unsere Unterhaltung genügen.

    "Die Leute dieses Dorfes sind aber nicht ganz so einfältig. Es gibt da einen ziemlich großen, viereckigen Marktplatz und einige ganz hübsche Gebäude, und man sagte mir, daß sie etliche Barken und Prahmschiffe hätten, die sie im Handel verwenden und die sie wohl gelegentlich als Flotte auffahren lasen ... Obgleich arm und schmutzig, geben diese Leute doch noch vor, stolz zu sein, und ein Bursche, der keinen Pfifferling besitzt, ist darüber erhaben, für seinen Unterhalt zu arbeiten. Sie gehen barfuß und ohne Kopfbedeckung umher und in Decken eingewickelt, die aussehen, als wenn sie darin geschlafen hätten. Sie werfen alles ab, wenn sie Kraftübungen und Spiele vornehmen, bei denen sie einen großen Wert auf Proben ihrer Gewandtheit und Stärke legen. Stämmige Glieder und muskulöse Arme, die Fähigkeit, die ganze Nacht im Freien zu schlafen, lange zu fasten und mit jeder Art Nahrung zufrieden zu sein, werden als standesgemäße Vollkommenheiten betrachtet. Soviel ich bemerken konnte, haben sie keine geordnete Regierung. Das eine Mal tat der Pöbel, das andere Mal die bessere Klasse, was ihnen beliebt. Sie versammeln sich in hellen Haufen unter freiem Himmel ... Wenn ein Bursche Anmaßung genug und eine laute Stimme hat, kann er eine große Rolle spielen. Es gab hier vor einiger Zeit einen Lohgerber, der eine Weile alles mögliche vormachte ... Er wurde schließlich ausgesandt, das Heer zu befehligen. Sie ziehen in Haufen aus und rauben, plündern und morden." (Nach ADAM FERGUSON, "Abhandlung über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Jena 1909).
Man muß nun anerkennen, daß die Leute dieses Ortes nicht ganz so einfältig sind. Sie wollen zuhause betrachtet werden.
    "Sie waren kühn und furchtlos in ihren bürgerlichen Streitigkeiten. Die einzelnen wurden nach ihrem persönlichen Geist und ihrer Kraft, nicht nach dem Wert ihres Besitzes oder dem Rang ihrer Geburt ausgezeichnet. Sie besaßen eine persönliche Hoheit, die sich auf das Gefühl der Gleichheit, nicht des Vorranges stützte. Der Anführer in dem einen Feldzug war während des nächsten ein gemeiner Soldat und diente in Reih und Glied ... Ihre Kriege waren sowohl eine Probe auf die Stärke des Soldaten, wie auf die Leitung des Führers. Die Überreste ihrer Bildhauerei zeigen eine männliche Grazie, einen Ausdruck von Einfachheit und Ungezwungenheit. Der Geist entlehnte vielleicht sein Selbstvertrauen und seine Kraft der Stärke und Behendigkeit des Körpers; ihre Beredtsamkeit und ihr Stil hatten eine Ähnlichkeit mit ihrem äußeren Auftreten. Der Verstand wurde hauptsächlich in der geschäftlichen Praxis geübt. Die achtenswerten Personen mußten sich unter das Volk mischen und leiteten den Grad ihres Vorrangs nur von ... ihrer persönlichen Überlegenheit." (FERGUSON, a. a. O., Seite 287f)
Die bis aufs Äußerste gehenden Parteikämpfe vervollständigen das Gemälde.

Es war viel Dynamik im Leben der antik-griechischen Demokratie. Und gerade der Kern aller Volkstümlichkeit, der ansich konservative bindende und isolierende Wille zur Geltung rief im Zusammenleben einen entgegengesetzten, revolutionierenden Effekt hervor. Im Gesellschaftsleben verwandelte sich im Nu das Recht auf die Geltung und das autonome Sein in das Sich-Befähigt-Wissen, in der Folge in ein trotzendes und ekstatisches Auftreten. Der demokratische Humanitätsgedanke löste sich dialektisch auf und geriet jenseits seiner ursprünglichen Bestimmung: er wurde vom Pathos des Krieges, des Sich-Auflehnens und der Massen-Ekstase in Beschlag genommen. Sein Weg war ein umgekehrter als der des griechisch-aristokratischen Wollens, das im Ideal der Kalokagathie [körperliche wie geistige Vortrefflichkeit - wp], in den Glauben an das Zusammentreffen von Adel, Reichtum und Trefflichkeit mündete. Der aristokratische Wille ist dem revolutionären Auftreten wesensverwandt, weil er stets auf die Bewältigung fremder Mächte und Kräfte bedacht ist. Seine Daseinsart zwingt ihn, Verstöße gegen die Menschlichkeit zu begehen, und bisweilen rücksichtslose Grausamkeiten zu verüben. Allein sein Ende ist Ruhe, geht auf die an die Kalokagathie geknüpfte Autorität hinaus. Analog der Art unserer Zeit, sich ein Vermögen zu erwerben: Erwerben und Reichtümer häufend sieht sich der moderne Mensch genötigt, "barbarisch" vorzugehen, in Besitz des Reichtums gelangt, bietet sich ihm die Möglichkeit, "vornehm" aufzutreten; der Geld-Erwerb mutet häßlich an, das Verfügen aber über bereits erworbenes Geld verleiht einen Schimmer von adeliger Weihe, vindiziert selbst dem Besitzer persönliche Eigenschaften der Überlegenheit, die gar zum ausschließliche Requisit des Geldes gehören.
    "Wenn selbst - bemerkte treffend ein katholischer Philosoph - das Geld die Funktion in der Sozietät hatte, Personen und Sachen zu repräsentieren, so repräsentieren diese umgekehrt das Geld." (FRANZ von BAADER, Werke V, Leipzig 1854, Seite 284).
Wie anders tritt der demokratische Wille in Erscheinung. Man erinnere sich, wie selbst im kampflustigen Hellas seine Geburt vonstatten ging. In passiver Opposition gegen das Titanentum, die stillschweigend in eine Gegnerschaft zum Ideal der Kalokagathie überging, hat er seinen historischen Ursprung genommen. Schon in dieser frühen Stunde der Volksbildung geht die Ahnung auf: "mein Reich ist nicht von dieser Welt", nicht von dieser lediglich von titanenhafter Sinnlichkeit und Eroberungskraft geleiteten Welt, sondern ein Reich von autonomen Wesen, von Rechtspersonen und ein Band dieser Personen, eine Rechtsordnung. Zwischen der sich als geltend und autonom wissenden Person und dem jeweilig aufzurichtenden Rechtsbund liegt ein mühsamer, aber auch heldenhafter Weg des Kampfes und Strebens, ihm geht Rechtsbruch und Treuebruch voraus. Das Faktum der Rechtsperson, die Geltung der eigenen Autonomie in sich einschließt, schafft eine Nebenordnung von Menschen herbei, gebietet Ruhe im Kulturgeschehen, das Leben aber dieser Person mit den anderen und obendrein ihre politische Existenz stößt sie in den Wirbel des Kampfes und Strebens hinein. Ihre Stellung in der Gesellschaft, in der Polis ist, zumindest der Tendenz nach, fortwährend dem Ortswechsel unterworfen, sie vermag das zu werden, was die Geistesmacht, über die sie unmittelbar verfügt, ihr gestattet. Prinzipiell und auch zum großen Teil in Wirklichkeit stand ihrer sozialen Wandlung nichts im Weg. Ins Leben der antiken Demokratie - ich betone es abermals - kam das Pathos der Wandlung, des Strebens, kam Ekstase und Musik hinein. Die volkstümliche Humanität und die Revolution wurden einander vermählt und mit diesem von der Dialektik des sozialen Lebens gestifteten Bund kam die Idee von der revolutionären Tradition der Demokratie in die Welt. Der volkstümliche Humanismus kleidete sich in eine revolutionär-kriegerische Tracht.

Will man einen adäquaten Ausdruck für die herrschende Potenz im Gemüt dieser kämpfenden und strebenden Hellenen finden, so muß man zum Gefühl der Hoffnung greifen. Der Hellene durfte Hoffnung hegen nach Herzenslust. Sein Wille zur Geltung ohne Rücksicht auf Geburt und Besitz, sein Lebensmut trotz der Kalokagathie, eröffneten ihm diese Perspektive. Als er noch jung und unerfahren war, mußte der Mythos Hilfe leisten.  Prometheus,  der Gott des uneigennützigen Kampfes und der Revolution, bemächtigte sich des "Kästchens", in dem alles Menschenglück eingeschlossen war.  Pandora,  in deren Hände das Kästchen geriet, ließ aus diesem alle Menschengüter bis auf die Hoffnung entweichen. Rechtzeitig wurde das Kästchen der Pandora geschlossen und die Hoffnung blieb zurück; das einzige Gut des Menschen, des Volkes. Wie  Prometheus  selbst durfte nun das Volk sich der höchsten Hoffnung, die je ein Menschenkind hegte, hingeben: es durfte an die Möglichkeit der Gottähnlichkeit glauben. Es tat es aber nicht. Das Volk blieb im Pathos dieses übermenschlichen Strebens stecken, sein Auge streifte nie das Ende desselben. Auch dann nicht, als  Dionysos,  ein im Grunde promethischer Gott, volkstümlich, Volksgott geworden war. Sich an übermenschliche, gottähnliche Ziele heranwagen, hieße den Boden, auf dem die Demokratie von Hellas gewachsen ist, verlassen, würde einen Verrat an der Humanität bedeuten. So ungefähr erscheint mir das Gefühl des Volkes gewesen zu sein, das sein Aufkommen der Gegnerschaft gegen den Übermut, gegen die Überhebung der Titanen verdankt. Andersgeartete Volksschichten waren es, die den humanitären Faden, welchen das Volks losließ, weiter spannen, solche, die zwar im Schatten der Volkstümlichkeit lebten, aber kein direktes Interesse an den greifbaren sozialrechtlichen Siegen des Volkes nahmen. Der Weg selber aber, der von den Außenmächten, vom Titanentum zum Menschen, zu seinem Gemüt führte, und von dort weiterhin sich im inneren Hineinwachsen in die Gottheit, in Gott schlechthin verliert, befand sich in den Tiefen des Volkslebens, war mit diesem gegeben. Prinzipiell standen auch dem Streben der Mystik der pythagoreisch-orphischen Kreise keine Hindernisse im Weg, die so eroberte Vorstellung vom unabhängigen Menschen in den Glauben an die Ewigkeit des Menschen, des einzelnen zu verwandeln. Das Volk aber vermochte sich nicht zu diesem letzten Gedanken der Humanität, zum Gedanken der Gottähnlichkeit, des ewigen Lebens aufzuschwingen; das taten andere, immerhin in seinem Geist und nur dank der von ihm ins Leben gerufenen Kulturströmung.

Daß es neben dem Titanentum noch andere Kräfte gibt, die ein Ganzes, das Menschliche in uns bilden, gehörte zu den ersten Erlebnissen des Volkes. Zur Erkenntnis: was dieses nicht triebartige und durchweg eigennützige Element sein soll, gelangte das Volk auf dem Weg der Rechtsbildung. Die vielen erlebten sich als Rechtssubjekte, als unabhängige Seelen sozialer Natur. Im Inneren des Einzelnen selbst vermochte diese soziale Scheidung keine weitgehenden Absonderungen hervorzubringen. Da blieb noch das Triebartige und Menschliche, das Körperliche und Seelische dicht beeinander. Es bedurfte innerer Erhebungen, es mußte echter religiöser Wahn, das, was die Griechen  Mania  nannten, ins Leben gerufen werden, um der sich vollziehenden Trennung von Titanentum und Menschentum eine ähnliche zwischen Körper und Seele zu gesellen. Der volkstümlichen Losung: Los vom Titanentum um der Gleichheit, der Geltung aller willen, mußte sich der Drang nach der inneren Loslösung von den titanischen Trieben des eigenen Körpers anschließen, um des eigenen Gemüts, um der Freiheit gewahr zu werden. Die Gleichheits-Idee, von der die antike Demokratie im Großen und Ganzen beherrscht war, ließ das Verlangen nach Freiheit nicht aufkommen. Erst auf einem Umweg, durch die Vermittlung der orphischen Religion und des ekstatischen, aufreibenden  Dionysos-Kults  fand die persönliche Freiheitsidee Eingang in den humanitären Gesichtskreis des Volkes. Man lasse nie außer Acht: was das Volk durch den Gang seiner spontanen Selbstbildung, durch das Schaffen des Demokratischen im Leben der Menschen mit einander vollbrachte, das tat - und wahrscheinlich im Anschluß an die Urbildung der Volkshumanität - die religiöse orphisch-dionysische Bewegung. Wie jene hat auch in der Folge diese mit dem Sich-Los-Sagen vom Übermut des Titanentums, mit der Einschränkung menschlicher Ansprüche auf unbeschränktes Glück und Eigenmacht begonnen und mit der Herausbildung eines autonomen Ich-Zentrums ihre Lebensbahn beschlossen. Beides im vollen Gegensatz zu den Ansichten der homerischen Weltbetrachtung. In einem Fall war es der soziale Rechtskampf, der diese personalen Einheiten zustande brachte, im anderen war es ein religiöser Kult, das Pathos innerer, asketischer Erhebungen und Überwindungen, die die Ergänzung, eine sich ewig seiend wissende Seele hervorlockte.  Dionysos,  der Weingott, der Gott des schäumenden, entbundenen Lebens, ist freilich auch der homerischen Welt bekannt, zählt aber nicht zu den Olympiern. Seine Kundgebungen sind innerer Natur und gehen auf die Befreiung von den triebartigen Mächten aus, die gerade die Daseinszwecke der Olympier ausmachten. Die Dionysoskult bedeutete die Sprengung der Leibesfesseln, führte zur Askese und Überwindung des Irdischen (vgl. ERWIN ROHDE, Psyche, Seite 133). Positiv gestaltete er sich zum Glauben an die Freiheit der Seele, an ihre Gottesverwandtschaft und daher auch Unsterblichkeit.

"Die Unterscheidung des Titanischen und Dionysischen im Menschen", bemerkt ROHDE, drückt die volkstümliche Unterscheidung zwischen Leib und Seele" aus (ROHDE, Psyche, Bd. 2, Seite 121.  Dionysos  ist der Gott der Demokratie, er repräsentiert den metaphysischen Inhalt ihres Autonomiegedankens. Nur blieb es der antiken Demokratie versagt, die Brücke zwischen dem Glauben an die "göttlich unsterbliche Lebenskraft der Seele" und dem Streben zum sozialen Geltendmachen der Vielen zu schlagen, und dies trotz der gemeinsamen Quelle, der beide Richtungslinien des Demokratischen entstammen. Beide waren ja vom selben Wunsch erfüllt, das Titanentum, die Götter- und die Leibes-Willkür zu überwinden, mündeten aber in gänzlich verschiedene Daseinsvorstellungen: in die Göttlichkeit und die Humanität. Wie diese in Verbindung und Einklang miteinander bringen? wie sollen der Wille zur universellen Autonomie der Seele und der Wille zur Autonomie des einzelnen in der Menschengesellschaft, einander stützend, zu einem einzigen Geltungswillen schlechthin verflochten werden? Diese Frage überließ die Antike der modernen Demokratie, die mit dem Christentum geboren war.
LITERATUR - David Koigen, Die Kultur der Demokratie, Jena 1912