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Spinoza
Seit LESSING erst ist das Ansehen SPINOZAs im Wachsen begriffen. Vorher redete man von ihm "wie von einem toten Hunde" Hundert Jahre lange wagte fast niemand den Namen SPINOZA anders als unter Verwünschungen zu nennen. Und dabei waren seine Bücher so gut wie verschollen. Es war schwer, auch nur ein Exemplar der Ethik des Maledictus Spinoza aufzutreiben. Nach LESSING haben HERDER und GOETHE in SPINOZA ihren geistigen Erlöser gesehen, und man kann wohl sagen, daß unsere deutsche Weltanschauung, wie sie sich seitdem auch noch durch SCHELLING, HEGEL und SCHOPENHAUER entwickelt hat, teils spinozistisch sein will, teils spinozistisch ist. Vollends die Dichtung, weil sie sinnlich gestaltete Weltanschauung ist, hat in Deutschland seit GOETHEs Jugend nicht aufgehört, spinozistisch zu sein. Vorher gab es in der Lyrik eine anthropomorphe, humanisierte Natur, eine Natur mit Menschenfratzen; jetzt möchte die Menschenseele selbst natürliche empfinden und reden. Früher gab es im Drama den Zwang von Moral oder Schicksale; jetzt erschrecken wir nicht mehr, wenn eherne Notwendigkeit des Charakters die schönen Linien der Handlung wie die der Moral durchbricht. Darin übertrifft SPINOZA alle Denker vor ihm und nach ihm, daß er wie keiner vor oder nach ihm die Notwendigkeit, die lachende oder doch stille Notwendigkeit all und jeden Geschehens immer und ohne Ausnahme empfunden und ausgesprochen hat, und daß ihn dieser Hohn des Weltlaufs, diese objektive Heiterkeit der Weltgesetze nicht erschreckt, sondern zur Forderung einer unzerstörbaren subjektiven Heiterkeit des Denkens geführt hat. SPINOZA hatte wohl unter allen Menschen, die je ihr Denken auf die Nachwelt gebracht haben, zugleich die tiefste und die hellste Welterkenntnis. Aber er lehrte eine schlechte, ja recht eigentlich eine verkehrte Erkenntnismethode. Die mathematische Methode, die nur auf Mathematik aufwendbar ist. Denn: Ziffern sind keine Worte, die algebraischen Zeichen sind keine allgemeinen Sprachbegriffe. Ich möchte empfehlen, einmal einen ganz neuen Auszug von Spinoza zu veranstalten. Man lasse doch sämtliche Beweise einfach weg, dazu alle die Definitionen und Lehrsätze, die nur die Lücken des Systems auszufüllen bestimmt sind. Man ordne dafür die Zusätze und Erläuterungen, die Vorreden und Anhänge gut zusammen, man füge aus seinem großen Traktate und aus seinen herrlichen Briefen das das Nötige hinzu, und die Welt wir den unvergleichlichen Philosophen endlich lesen können. Denn so liegt die Sache bei SPINOZA: wo er sich gehen läßt, steht ihm die eindringlichste Sprache zur Verfügung: wo er unter dem Banne seiner eigenen Methode steht, wo er also durch die mathematische Logik Erkenntnis schaffen will, da sinkt er eigentlich noch unter die Scholastiker herab. Diese hatten wenigstens ihre konventionelle Sprache gemeinsam un konnten einander verstehen - was man so sagt. SPINOZA schlägt seine gewaltige und persönliche Weltanschauung an das Kreuz einer persönlichen und dennoch konventionellen Sprache und wird immer da dem neueren Sprachgeiste unverständlich, wo er klar zu sein glaubt wie ein Mathematiker. Er hat die Scholastik darin überwunden, daß er wirklich keine Autoritäten kennt. Er zuerst kritisiert gründlich die Bibel, er zuerst weist auf vergleichende Religionsgeschichte und schon auf Indien hin, er zuerst wirft sowohl den PLATON als den ARISTOTELES ab. Aber leider kennt er auch nicht den Zweifel DESCARTES. Wäre SPINOZA ein Skeptiker gewesen, wie ja doch die Juden geborene Skeptiker sein sollen, seine Bücher wären der Schlußstein menschlichen Denkens. Auch er unterlag dem Fluche des Menschengeistes, auch er glaubte an eine Erkenntnis durch Begriffe, weil er die Erkenntnis nicht immer nach ihrer Herkunft fragte. Für SPINOZA gehört die Möglichkeit der Erkenntnis von Ewigkeit mit zur ewigen Natur des Menschen. Seine Weltanschauung ist der höchste und freieste Pan-Naturalismus und steht hoch über dem beschränkten Materialismus, der auf ihn folgt. Der Materialismus vermag das Denken nicht zu erklären; Spinoza versucht es gar nicht. Der Materialismus ahnt seine eigene Beschränktheit wenigstens; SPINOZA steht noch ahnungslos vor den Widersprüchen seiner Erkenntnistheorie. Wer ist denn sein erkennendes Wesen? Er setzt Gott und die Natur einander gleich und sieht im einzelnen Menschen nur eine flüchtige Erscheinung Gottes oder der Natur. Sein Gott hat kein Gehirn, keine Sprache, sein Gott hat keinen Verstand; und sein Mensch ist eine Erscheinung Gottes oder der Natur. Wer kann also etwas erkennen? Und was soll da erkannt werden? Gott oder die Natur ist unendlich und ewig und unerkennbar, und außer Gott oder der Natur gibt es nichts Erkennbares. Hat also SPINOZA mit seiner Erkenntnistheorie recht, so besitzt der Mensch, so besitzt auch SPINOZA kein Denkorgan, diese richtige Weltanschauung zu begreifen und zu beweisen; hat aber SPINOZA oder irgend ein Mensch Erkenntnismöglichkeit, so muß die Theorie SPINOZAs falsch sein. Dieses traurige Dilemma scheint mir unwiderleglich. Wie zum Trotz will aber SPINOZA seine Lehre nicht nur in Begriffen mitteilen, sonder sie geradezu nach der Methode der Geometrie beweisen. Und dennoch war er der tiefste und dazu der überzeugungstreueste Denker. Es fällt schwer, bei einer so übermächtigen Erscheinung erst noch nach der Glaubwürdigkeit zu fragen, bevor man ihr Zeugnis anruft. Es ist also ob der Leiter einer Gerichtsverhandlung seinen eigenen Vater nach dem Namen fragen wollte. Und es fällt schwer, bei SPINOZA die Eigenschaft zu benennen, die für seine Glaubwürdigkeit zumeist bürgen könnte. Unbestechlichkeit, Ehrlichkeit, Tapferkeit, Wahrheitsliebe, alle diese schönen Worte und Namen von Tugenden zerplatzen wie Seifenblasen, wenn man an ihnen SPINOZA zu Ende denkt, der einen Muttermord, wie ihn NERO beging, kaltblütig und mit Verwerfung des Begriffs "böse" unter die Naturereignisse rechnet, wie man auch wohl ein einzelnes unregelmäßig geformtes Blatt nicht ethisch verurteilt. Es heißt darum nicht zu weit ausholen, wenn wir es so ausdrücken, daß SPINOZAs Einsicht niemals nachweisbar von den dreierlei Absichten der gemeinen Menschheit getrübt war, nicht von Liebesgier, nicht von Hunger und nicht von Eitelkeit. Nur wie der Schatten einer Legende zieht eine Neigung für jene CLARA MARIA über sein Leben hin. Bedürfnislos wie ein echter Orientale verdient er sich seinen Bissen Brot mit einer Handarbeit, die ihm doch zugleich wissenschaftliche Übung war. Und seine Eitelkeit ist so gering, daß er es mit Verachtung trägt, verachtet zu werden, und man von ihm wohl mit größerem Recht als von seinem jüngern Zeitgenossen MALEBRANCHE sagen könnte, er habe die Wahrheit gesucht und durch jeden Verruft hindurch und jeden guten Ruf. Zum Erweise seiner Absichtslosigkeit, seiner sittlichen Hoheit (so dürfte man banal von jedem anderen als von SPINOZA sagen), braucht man nur daran zu mahnen, daß und wie es SPINOZA ablehnte, als Professor an einer deutschen Universität mitten unter Verfolgungen ein äußeres Lebensziel und Sicherheit vor Not zu finden. Der Kurfürst von der Pfalz, der Bruder von DESCARTES Prinzeß Elisabeth, wollte ihn - wie schon erwähnt - zum ordentlichen Professor der Philosophie an seiner Universität Heidelberg machen. SPINOZA sollte, wie das in der Welt ja zuweilen vorkommt, der Vorgänger seines Nachfolgers KUNO FISCHER werden. Man versprach SPINOZA Lehrfreiheit in vollstem Umfang und deutete nur bescheiden die Erwartung an, "er werde sie nach dem Vertrauen des Fürsten nicht zur Störung der öffentlichen Religionseinrichtungen mißbrauchen". SPINOZAs Antwort ist einfach. Er lehnt ab, zunächst, weil er nicht weiter denken zu können meint, wenn er junge Burschen unterrichten müsse. Dann aber auch, weil ihm kein Kurfürst die Gewißheit geben könne, er werde nie den Schein der Religionsstörung auf sich laden. Der Religionsstreit entspringe ja nicht aus regem Religionseifer, sondern aus allerleit gemeinen Leidenschaften. Diese heiligende Absichtslosigkeit, die "grenzenlose Uneigennützigkeit", verklärt überall SPINOZAs armes Leben. Ähnlich wie LESSING verdirbt es SPINOZA regelmäßig mit den Parteien, zwischen denen er wählen müßte; nur daß LESSING die Größe seines Charakters mit Bitterkeit bezahlt, SPINOZA sie durch Heiterkeit krönt. Man könnte sagen, SPINOZA sei als Jude in der glücklichen Lage gewesen, sich um christliche Pfaffen und um ihre Scheiterhaufen nicht kümmern zu müssen. Im Jahre 1663, da SPINOZA sein erstes Buch herausgab, das Buch über DESCARTES, wurde DESCARTES selbst auf den päpstlichen Index verbotener Bücher gesetzt. Man könnte sagen: Was ging das den Juden SPINOZA an? Für die Kirche war die Lehre DESCARTES wahrscheinlich nur darum nicht annehmbar, weil der Begriff der Einheit aller Substanz der Mythologie von der Transsubstantiation widersprach. Die Götter waren eifersüchtig aufeinander; dem konfessionslosen Juden konnte das gleichgültig sein. So könnte man sagen. Und absichtlich vergessen, daß auch der Jude SPINOZA zuletzt vor der Hetze reformiert-christlicher Geistlichkeit nicht sicher war; daß wahrscheinlich nur sein früher Tod ihn vor dem grausamern Ausgang im Kerker bewahrte. Gewiß war es ungünstig für SPINOZA, daß er - als er eben die Kirche verließ - aus dem machtlosen Judentum austrat, und nicht aus dem mit Brandfackeln bewaffneten Christentum. Es machte ihn auch wohl innerlich freier, daß er in reiferen Jahren die Legenden nicht erst langsam abzustreifen brauchte; der zum Rabbiner ausgebildete Jüngling hatte im Alten Testament keine eigentlichen Dogmen gefunden und hatte die Vorstellungen der christlichen Scholastik nicht früh genug kennengelernt, um für Lebenszeit transzendent zu sein. Eine ganze Auswahl mittelalterlicher Wortfetische konnten ihm nicht den Verstand verrenken wie einem DESCARTES noch. Gewiß war es gut für ihn, daß seine nächsten Feinde nicht Dominikaner mit ihren Scheiterhaufen waren, sondern nur armselige Rabbiner, die ihn anspien. Der ganze Abstand zwischen christlicher und jüdischer Glaubenstollwut liegt darin, daß die erste verbrennen durfte, die zweite aber nur anspeien. Gewiß hätte man einen christlichen SPINOZA in Stücke gerissen, wenn er christlichen Glaubensrichtern mit sokratischer Ironie geantwortet hätte, wie SPINOZA - man erzählt es - dem Rabbiner MORTEIRA: "SPINOZA habe bei ihm Hebräisch gelernt, so möge denn der Rabbi jetzt an ihm das Verfluchen lernen." Gewiß es ist ein Beweis der Ohnmacht seiner Gegner, daß die Juden einen SPINOZA, auf den sie jetzt gern stolz sein möchten, durch die schmutzigste Bestechung, durch das Anerbieten eines Jahresgehalts von tausend Gulden, zum Schweigen zu bringen suchten. Aber am 27. Juli des Jahres 1656 wurde doch in der Synagoge von Amsterdam der große Bann über SPINOZA ausgesprochen, wohlgemerkt, nachdem erst das Attentat auf seine Seele durch die Bestechung und vielleicht auch ein Attentat auf sein Leben vorausgegangen war. Wir kennen durch GUTZKOWs Theaterstück den Eindruck eines solchen ohmächtig-blutdürstigen jüdischen Bannfluchs. Wir kennen jetzt auch den Wortlaut dieses Cherem, wo es nicht ohne eine gewisse Poesie der Bestialität unter anderm heißt:
Nicht lange vorher, als der achtjährige Knabe in der Rabbinerschule die Bewunderung seiner Lehrer erregte, hatte ein ähnlicher Cherem den feurigen und begabten URIEL da COSTA dazu getrieben, seinem durch Rabbinereifer beschmutzten Leben mit einem Pistolenschuß ein Ende zu machen. Das war es, was SPINOZA seinem Judentum äußerlich verdankte. Ihm freilich vermöchte jüdischer Pfaffenmund nichts anzuhaben, ob der Mund Worte sprach oder schäumte. Wir müssen ihn uns vorstellen, wie er mit der Weltverachtung eines Heiligen durchs Leben ging. Noch im Tode mag er diesen Ausdruck festgehalten haben, was dann einem immerhin anständigen Gegner Anlaß gab, unter das Titelbild einer Lebensbeschreibung SPINOZAs zu setzen:
Die Orthodoxen und die "Halben", scheinbar grimmige Feinde, waren doch einig in dem Hauptpunkte; es könne in der Bibel nichts Falsches stehen. Daß die "Ganzen" daraus den Schluß ziehen, es müsse also jedes unhaltbare Bibelwort darum bildlich oder sonstwie anders gedeutet werden, - das ist gleichgültig; ernsthafte Bibelkritik war erst möglich, wenn man die Möglichkeit zugab, die Bibel könne Falsches, könne Unsinn enthalten, wie jedes andere Menschenwort. Dies hat SPINOZA ausgesprochen; ohne ihn sind VOLTAIRE, LESSING und STRAUSS nicht zu denken. Wieder 100 Jahre nach LESSING hat diesen klaren Satz ANZENGRUBER am einfachsten und lustigsten wiederholt ("Der Gwissenswurm). Der Bauerntartüff beruft sich auf ein Bibelwort. "Wird doch kein Unsinn gschriebn stehn?!" fragt der geplagt Grillhofer. "Und warum net?" ist Dusterers Gegenfrage, in der der ganze theologisch-politische Traktat zusammengezogen scheint. Daß es der fromme Bauer ist, der diese vernichtende Frage stellt, ist ein recht LESSINGscher, genialer Zug. Und ich kann aus eigenem Wissen bemerken, daß ANZENGRUBER wußte, wie viel vom Pantheismus SPINOZAs und vom Wahrheitsstreben LESSINGs ihm "angeflogen" war; den theologisch-politischen Traktat selbst kaufte er erst viel später auf einer Sommerreise, von einem Bahnhofbuchhändler, in der wohlfeilen Übersetzung der Reclamschen Bibliothek, un erhielt einen übermächtigen Eindruck. Diese drei Namen können zugleich als Beispiel dienen dafür, wie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein mit Beifall aufgenommener Schlager sein konnte, was hundert Jahre vorher selbst einem LESSING von seinem Fürsten das Verbot theologischerSchriftstellerei eintrug, was 200 Jahre vorher den Verfasser des theologisch-politischen Traktats in Lebensgefahr brachte. Die Erregung gegen ihn war so groß, daß er sein Hauptwerk bei seinen Lebzeiten nicht drucken lassen konnte. Und eben in dem Jahre 1675, als SPINOZA in dem freien Amsterdam vergebens einen Verleger für seine "Ethik" gesucht hatte, lag alles so ungünstig, daß selbst seine Bewunderer ihn zu einer Art Widerruf bewegen wollten. Es war einer, den SPINOZA seinen Freund nannte, OLDENBURG, der ihm schrieb, "man" nehme besonders Anstoß an SPINOZAs Gleichstellung von Gott und Natur, an seiner Verachtung der Wunder und an seinem unklaren Standpunkte zu dem Gottmenschen JESUS CHRISTUS. Und noch schöner als der Traktat, der vom Buchhandel als Schmuggelware behandelt wurde, zeigt den ruhigen Mut SPINOZAs die Antwort, die er nicht viel mehr als ein Jahr vor seinem Tode, ein schwindsüchtiger Mann, an den zudringlichen, ängstlichen OLDENBURG nach London richtete. Was den ersten Punkt betrifft, so bekennt er sich offen zu seinem Pantheismus; wer aber glaube, SPINOZA verstehe unter Natur eine tote Masse, wer ihn also (nach unserem Sprachgebrauch) für einen Materialisten halte, der verstehe ihn nicht. Was die Wunder anbelangt, so dürfe sich der Glaube nur auf die Weisheit der Offenbarungen stützen, nicht auf ihre Wunder, d.h. auf Ignoranz. Darum unterscheiden auch die Christen von den Bekennern anderer Religionen (es ist mir, als ob das Original von LESSINGs Nathan nicht der subalterne MENDELSSOHN, sondern der SPINOZA dieses Briefes wäre) nicht die Treue, die Liebe und andere Früchte des heiligen Geistes, sondern allein eben die Meinung (opinio), weil auch die Christen ihre Religion auf Wunder allein gründen wollen, also auf Unwissenheit, die die Quelle aller Bosheit sei. Was endlich die Menschwerdung Christi anbelangt, so erklärt der Jude SPINOZA ganz ausdrücklich, er könne den Sinn der Worte nicht verstehen; er bekenne offen, daß ihm solches Reden nicht weniger absurd vorkomme als ein Geschwätz von der Quadratur des Kreises. Was heute alltäglich ist, war damals eine seltene Tat. Er verläßt das Judentum und schließt sich den Christen nicht an. Er verlacht den Rationalismus in der Theologie und ist in der Philosophie so sehr Rationalist, glaubt so fest an den Wert der Vernunft, daß er den herrschenden Dualismus überwindet und damit die Modernen jener Tage, die eigentlichen Kartesianer, die er dumm nennt, aufs äußerste reizt. Er wirft das Gebäude aller Frommen um, und bannt doch für alle Folgezeit die beschränkten Materialisten - vier Ellen weit - von sich fort. Daß er dabei im Traktat dem Alten Testament feindlicher scheint, als dem Neuen, ist wohl aus seiner gründlicheren Kenntnis zu erklären. Nirgends ist die Einsicht von irgendeiner Absicht getrübt. Nicht im Leben, nicht im Denken, nicht in der Philosophie, nicht in der Politik. Denn auch als Politiker ist SPINOZA ein reiner Charakter. Da die Oranier in den Niederlanden fast königliche Macht gewinnen, da sie ihre Gegner bald gesetzlich, bald ungesetzlich ermorden lassen, schreibt der gebannte Jude SPINOZA zugunsten dieser aristokratisch - republikanischen Partei, und verficht doch wieder (mit HOBBES) die Staatsallmacht über die Kirche. Und diesem allmächtigen Staate endlich spricht er das Recht ab, die Denkfreiheit zu beschränken. So ist er ein Denker ohne Furcht und Tadel, ein klassischer Zeuge. Spinozas Stufen der Erkenntnis In der von ihm gelehrten Stufenfolge der menschlichen Erkenntnis, die ihn zum Deus führt, sehen wir SPINOZA gewaltig um Wahrheit ringen. Er zwingt sie nur nicht, weil seine Waffen Worte sind, die Wahrheit aber ungreifbar, weil wortlos. Es ist der Kampf des Menschen mit der Wahrheit ein Kampf des Bären mit dem Adler; das plumpe Tier kann die Erde nicht verlassen, das Wort. Ich glaube aber nicht, daß ich SPINOZAs Vorstellungen entstelle, wenn ich seine Stufenfolge der Erkenntnis mit Worten meiner Sprache auszudrücken suche; SPINOZA wäre tot, dürfte man ihn nicht mehr übersetzen. Die erste Stufe ist die Erkenntnis durch Worte. Diese führt notwendig zum Irrtum. SPINOZA muß dabei geahnt haben, daß diese Abstraktionen, die er darum verworren nennt, immer nur tastend und versuchend um die Wirklichkeitswelt herumjagen, nie aber in sie selbst eindringen. Man hat diese erste Stufe der Erkenntnis ganz richtig dem Standpunkte des naiven Realismus gleich gestellt, der all das und nur das für wahr hält, was seine Sinne ihm von der Welt erzählen. Nur kann ja der naive Realismus noch nicht wissen: daß diese Angaben der Zufallssinne wie die gesamte äußere Welt so auch das gesamte innere Denken allein ermöglichen, daß dieses naive Weltbild sich auch in dem Wortvorrat und in den Formen der Umgangssprache ausprägt. Die erste Stufe der Erkenntnis ist die der menschlichen Gemeinsprachen. Erst durch Bildung einer wissenschaftlichen Sprache (man sagt gewöhnlich: durch das Entstehen von Wissenschaften) wird die nächsthöhere Stufe erreicht. Die zweite Stufe der Erkenntnis ist die der reineren Vernunft, welche die Dinge wesentlich unter einem gewissen Gesichtspunkt der Zeitlosigkeit betrachtet. So möchte ich den berühmten Satz von der Spezies der Ewigkeit (sub specie aeternitatis [im Licht der Ewigkeit - wp]) wiedergeben. Denn die Welt begreifen, heißt das eherne Band ihrer Notwendigkeit begreifen. Lückenlos ist diese ewige Kette der Notwendigkeit. Eins folgt aus dem andern, aber nicht logisch, auch nicht in der Zeit. Zeitlos wie die mathematischen Gesetze, zeitlos wie die Gleichheit der Radien aus dem Kreisbegriff, so zeitlos und darum ewig folgt das eherne Band der Welt aus dem Substanzbegriff des Deus. Und so scheint mir erklärt, was SPINOZA unter dem Gemeinsamen verstanden habe, unter dem, was auf der zweiten Stufe der Erkenntnis den Dingen der Welt "gemeinschaftliche", was darum ewig ist. KIRCHMANN und andere haben unter den Communia wieder nur Begriffe verstanden, KUNO FISCHER hat gar keine Erklärung versucht. SPINOZA aber gibt deutlich zu verstehen, daß er unter den Begriffen oder Universalien der ersten Erkenntnisstufe diejenigen Abstraktionen sich denke, die sich der einzelne Mensch je nach seinem Verhältnis zu den Gegenständen, nach seinem Interesse, nach zufälligen Eindrücken mache. Die bloßen Bilder. Der eine denke sich unter "Mensch" das Geschöpf mit dem aufrechten Gang, der andere das Tier, das lachen kann, oder das zweibeinige Tier ohne Federn, oder das vernünftige Tier. Ebenso gehe es mit den Begriffen oder Universalien "Hund" oder "Pferd". Darum führt ja eben die erste Stufe mit ihren Begriffen zum Irrtum; darum können die Communia der zweiten Stufe, darum kann das Gemeinsame in den Dingen, das zur Wahrheit führt, nicht in Begriffen bestehen oder in Worten. Und wenn ich communia mit "Gesetze" wiedergebe, wenn ich mir SPINOZA so erkläre, daß die Einzeldinge und die von ihnen abgeleiteten Begriffe an der Zeit kleben und darum vom Irrtum nicht loskommen, daß allein in den zeitlosen, mathematischen Beziehungen der Dinge, also in ihren ewigen Gesetzen, die Wahrheit stecke, so glaube ich einen Augenblick, über SPINOZA, indem ich ihn richtig verstehe, hinausgekommen zu sein. Doch nur einen Augenblick. Das Wort "Gesetze" ist uns nur vertrauter, weil es ein mythologischer Begriff neuerer Prägung ist; SPINOZA war weiser, da er nichts weiter behauptete als "etwas, was den Dingen gemeinsam" sei. Der Inbegriff dessen, was auf dieser zweiten Stufe erkannt wird als das Wesentliche, Zeitlose, Gemeinsame der Welt, ist für SPINOZA das Wirkliche, die wirkliche Natur, die natura naturata; darüber hinaus erkennt er auf der dritten und höchsten Stufe intuitiv im Deus die Einheit aller Gesetze, das Bewirkende, die wirkende Natur, die natura naturans. Ich glaube bestimmt, daß LESSINGs Maler (in "Emilia Galottti") diesen pantheistischen Gottesbegriff wiedergeben will, wenn er von der "plastischen Natur" spricht und - ganz LESSING - zweifelnd hinzufügt: "wenn es eine gibt." (Das Wort "plastische Natur" stammt von einem englischen Platoniker, ist aber spinozistisch.) Die dritte Stufe der Erkenntnis möchte ich freilich am liebsten noch freier so übersetzen, daß sie den Trug der Wissenschaften, den Trug der vermeintlich erkannten Gesetzmäßigkeit in der natura naturata durchschaue. So gefaßt, wäre SPINOZAs "Intuition" der Zweifel an dem Werte der wissenschaftlichen Sprache, der Weg zur resignierten Skepsis. Das hieße aber, über SPINOZAs heitere Weltanschauung einen dunklen Schleier werfen, seinen frohen Glauben in einen Unglauben, seine Sehnsucht in eine Negation umwandeln. SPINOZA, der Fürst des Atheismus, der Verfasser des liber pestilentissimus, ist in seinem Empfinden kein Skeptiker. ![]() |