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PAUL SAKMANN
Voltaire - der Denker

"Die Gabe zu wollen, ohne einen anderen Grund als eben zu wollen, ist etwas Absurdes. Der Satz Der Wille ist frei ist ein Unsinn, weil es ein Unsinn ist zu sagen: ich will das Wollen. Es ist, wie wenn man sagt, ich wünsche es zu wünschen, ich fürchte es zu fürchten. Der Wille ist so wenig frei, als er blau oder viereckig ist und die Frage, ob er frei ist, ist so absurd wie die, ob ihm Farbe oder Bewegung zukommt; denn der Wille ist das Wollen und die Freiheit ist das Können."

Werfen wir einen Blick auf die Lage, wie sie sich VOLTAIRE [François-Marie Arouet] darbot und von der aus wir ihn zu verstehen haben. Die bedeutendste Weltanschauungsmacht, die er vor sich sieht, ist der  christliche Spiritualismus,  der, vertreten in der Kirche, offiziell herrscht; daneben in ziemlich freundlichem Verhältnis, ja im Bund mit ihm, die  spiritualistische Metaphysik  der kirchenzahm gewordenen Kartesianer, eine Art von rationalem Filtrationserzeugnis dieser Religion. Aber das kirchliche Christentum, das seine bevorrechtete Stellung einem Kompromiß mit der Welt verdankt, in dem der Ernst der Religion geopfert wird, herrscht nicht mehr mit echter innerlicher Macht über die Gemüter.  Kräftige Gegenmächte  arbeiten an der Zersetzung seiner sittlich ausgehöhlten Autorität und unterwühlen den Boden seiner glänzenden Scheinherrschaft, zwei vor allem:  der Naturalismus  und die Skepsis; beide einig in der Leugnung der übernatürlichen Welt, beide echte Früchte am Baum der mondänen Kirchlichkeit. Der Naturalismus dieser französischen Freigeister hat wie jeder Naturalismus seinen nächsten Anhaltspunkt im Bewußtsein des naiv sinnlichen, noch nicht in die Zucht des Denkens genommenen Menschen, dem sich zunächst die materielle Welt mit dem Übergewicht ihrer Massen darbietet; er hat seine Nährwurzeln in den niederen Instinkten und in einem von niederen Interessen erfüllten Innenleben; die neue Naturwissenschaft scheint ihm zu Hilfe zu kommen und ihn zu bestätigen, sofern das astronomische Weltbild die winzige Ärmlichkeit des Menschen gegenüber den in ungeheuren Räumen bewegten Weltmassen anschaulich vordemonstriert und sofern der Mechanismus der Kausalität für Gott, Seele, Freiheit in der kalten Welt der Atome keinen Raum mehr übrig zu lassen scheint. Dieser sinnliche Naturalismus hat, wenn er im Kampf mit der entgegengesetzten Weltanschauung heranwächst, stets die Neigung, die Formen des Zynismus und einer mephistophelischen Ironie anzunehmen. Den französischen Libertinern ist in dieser Hinsicht schon lange der Boden vorbereitet durch den epikuräischen  esprit gaulois [gallischen Geist - wp] und den die Waffen des leichten Spotts schärfenden Geist der Gesellschaft. In der Negation der Übernatürlichkeit ein Bundesgenosse, später nach gemeinsam errungenem Sieg ein Gegner dieses Naturalismus ist es der  kritisch skeptische Geist,  der dem kühleren Romanen, wenn er nicht von irgendeinem Enthusiasmus erregt ist, von jeher naheliegt und der gerade in dieser Zeit noch Nahrung erhält durch erkenntnistheoretische und sinnesphysiologische, sowie durch historische Arbeiten, der den Bankrott von vielen bisher naiv oder auf Autorität hin geglaubten Wahrheiten aufdeckt. VOLTAIREs Denken vollzieht sich in der Auseinandersetzung mit diesen drei Weltmächten, die seinen Geist durchziehen, in ihm sich ihre Schlachten liefern und ihre Kompromisse eingehen.


Voltaires Naturalismus

Die stärkste  von den drei Mächten, die ihn zunächst ganz in ihre Kreise zieht und unauslöschliche Eindrücke in seine Seele prägt,  ist der Naturalismus.  Den praktisch wichtigen Sätzen des Spiritualismus hat er Punkt für Punkt eine naturalistische Gegenthese entgegengestellt: die theologische  Lehre von der unsterblichen Seele,  die entsprechenden philosophische  von der immateriellen denkenden Substanz hat er stets bekämpft,  anfangs versteckt, später offen. Er fühlt den Menschen als sinnliches und sterbliches Wesen, das in eine Klasse gehört mit dem Tier. Wenn er das Ergebnis seiner Selbstbeobachtung ausdrückt, sagt er: Ich bin ein Körper (1) (oder Materie), die Seele oder vielmehr das Seelische ist keine Substanz, sondern eine Qualität, eine Funktion, eine Eigenschaft unserer Organe. Wie die Pflanze ihr Wachstum hat und wie die Biene in ihrem Flug ein Summen hören läßt, so erscheint in uns die Fähigkeit des Denkens; nun nimmt niemand in der vegetierenden Pflanze ein kleines Individuum, die Vegetation, an. An HUMEs Definition der Sache als eines Bündels von Vorstellungen erinnert der Satz: "Die Seele ist nichts als eine unaufhörliche Reihe von Vorstellungen und Gefühlen, die aufeinanderfolgen und sich gegenseitig zerstören." Diese Sätze gewinnt er nicht in langen und mühsamen Schlußfolgerungen; sie sind ihm instinktiv gewiß. Sie haben für ihn die Sicherheit fast einer sinnlichen Anschauung; sie bestätigen sich an der gemeinen Erfahrung und durch naheliegende vergleichende Beobachtung.

Die idealistische  These von der substantiellen Seele,  diesem unbekannten Wesen, "das alles in uns tut und auch noch nach unserem Tod weiterlebt"  ist  ihm eine gar nicht zu vollziehende,  lächerliche, mythologische Idee,  die ihm, namentlich in der intimen Korrespondenz, oft Stoff zum Spaß gibt. Er heißt seine Seele  Lisette  und berichtet über Dialoge, die er mit ihr hat: "Pfui doch  Lisette,"  sagt er zu ihr, "man wird dich für materiell halten": "das ist nicht meine Schuld", antwortet  Lisette,  "ich rühme mich nicht zu sein, was ich nicht bin." Die Vorstellung einer kleinen Person in unserem Gehirn, der Gedanke, daß wir zwei sind, Körper und Geist, ist ihm unmöglich:
    "So oft ich mir das zu beweisen suchte, fühlte ich handgreiflich, daß ich eins bin. Ich soll die Schachtel sein, in der sich ein Wesen befindet, das keinen Raum einnimmt: ein ausgedehntes Ich als Etui eines nicht ausgedehnten Wesens? Oder ein unkörperliches Wesen soll einen Körper bewegen, ein unberührbares Ding soll Organe berühren?"
Es ist mit der Seele wie mit den Planetengeistern, die man ehedem zum Zweck der Erklärung den Planeten glaubte zuschreiben zu müssen. Man wird die überflüssige Seelenhypothese noch einmal ebenso beseitigen, wie wir die Planetengeister losgeworden sind.

Die  physiologischen Tatsachen,  die gemeine  Erfahrung von der Unselbständigkeit des Geistigen und seiner Abhängigkeit vom Materiellen  des Organismus führt er, oft in sehr grober und roher Form,  gegen den verhaßten Seelenbegriff  ins Feld. Was ist das für eine Seele, die krank wird, wenn der Körper erkrankt, die ganz stirbt bei einem Schlaganfall, die täglich stirbt im Schlaf und deren Charakter durchaus vom Blut abhängig ist und von der Mischung seiner Säfte! Wäre Seele eines Narren jene reine Substanz, so könnte ja nichts, was in seinem Körper vorgeht, deren Essenz verändern und doch führt man sie in ihrem Etui ins Narrenhaus; deswegen muß man annehmen, daß ein Narr ein Kranker ist, dessen Gehirn affiziert ist, wie der, der die Gicht hat, ein Kranker ist, dessen Hände und Füße defekt sind. Man hat eben die Gicht im Gehirn, wie man sie an Händen und Füßen hat. In vollem zynischen Behagen verbreitet er sich über die  turpia [Hässlichkeiten - wp] und  pudenda [Schamgegenden - wp] des leiblichen Lebens, von dem das geistige abhängig ist: die Entstehung des menschlichen Organismus aus der Kopulation der Geschlechter, die Lage des Fötus zwischen Harnblase und Mastdarm kontrastiert er so anschaulich als möglich mit der angeblichen Erschaffung der Seele durch Gott und sucht mit Hilfe dieser sinnlichen Phantasiebilder die Schwierigkeiten, die im Begriff der zeitlichen Entstehung unsterblicher Wesen liegen, noch zu verschärfen.
    "Was ist das für ein Gott, der immer auf dem Anstand stehen und auf den coitus von Mensch und Tier sein Augenmerk richten muß!"
Endlich  widerstreitet der Idealismus der Seelenmetaphysik einem Grundsatz des nach Einheit strebenden Denkens.  Die Annahme einer Seelensubstanz würde jede Analogie, jede Einheit in der Natur zerstören. Sie zieht in der Natur eine scharfe Grenzlinie, die in Wirklichkeit durch eine unendliche Folge leichter Übergänge verwischt ist. Die Anhänger der Seelenmetaphysik wissen nicht einmal, zwischen welchen Punkten sie diese Linie durchzuziehen haben. Oder wer kann die Grenze angeben zwischen verkümmerten Kindern und seelenlosen Mißgeburten? Soll das idiotische Kind eine Seele haben oder nicht? Und von diesen Schwierigkeiten abgesehen: Ist die prinzipielle Ausscheidung der Provinz der Menschheit aus dem übrigen Reicht der beseelten Natur haltbar? DESCARTES' verwegene und unsinnige Konsequenz, daß die Tiere bloße Maschinen sind, will doch niemand mehr mit ihm ziehen. Gesteht man den Tieren einmal Leben und Empfinden zu, diesen gemeinsamen Grund des Seelischen in Mensch und Tier, mit welchem Respekt verweigert man ihnen jenes nichtausgedehnte Prinzip, mit welchem Recht gesteht man ihnen nur Instinkt zu und versagt ihnen die Seele? Oder mit umgekehrt gewendeter Spitze desselben Gedankens: Warum wollen wir das Seelische im Menschen nicht nach derselben Methode erklären, mit der wir beim Tier auszukommen pflegen?

Diese Sätze zu finden hat er niemand gebraucht; sie sind bei ihm originale Anschauungen. Es ist ihm aber sehr  willkommen, wenn er auf Verwandtes stößt, besonders auf eine Autorität, mit der er sich decken kann.  Das ist der Fall bei LOCKE. Nicht die einzelnen Argumentationen interessieren ihn an LOCKE, ihm liegt vor allem am Ergebnis seiner Untersuchung: Die Ideen stammen aus den Sinnen; ein Ergebnis, das er zum vollen Sensualismus ausweitet. Jener LOCKEsche Satz bedeutet: Der Bestand unseres ganzen Geisteslebens kann auf das Material unserer Sinnesempfindungen reduziert werden; es gibt keinen Gedanken, der als seine Quelle ein höheres Prinzip in uns voraussetzen würde.  Dieser  Sensualismus kommt seinem naturalistischen Widerstreben gegen den Spiritualismus entgegen und gibt ihm für seine Überzeugung von der Abhängigkeit des Geistigen vom Materiellen, von der Unselbständigkeit und Vergänglichkeit des Seelischen eine willkommene  erkenntnispsychologische Bestätigung.  Wenn unsere Ideen aus den Sinnen stammen, deduziert er weiter, und diese am Organismus haften, wie sollen wir dann noch Ideen haben, wenn wir keine Sinne, weil eben keinen Organismus mehr haben?`Im Übrigen macht er den LOCKEschen Empirismus mit und kopiert manche seiner Gedankengänge und Beweise, unter anderem auch die Polemik gegen die angeborenen Ideen. Sodann hebt er eine seinem Naturalismus willkommene Tendenz der LOCKEschen Erkenntnistheorie noch viel radikaler hervor als LOCKE: Es ist die Betonung der  Passivität der menschlichen Intelligenz.  Die Sensation ist das letzte Element, auf das die Analyse des Menschen stößt; nicht das Denken bildet die Essenz des Menschen, die Empfindung ist das Primäre; denn ohne Empfindung kann man nicht leben, wohl aber ohne Gedanken.
    "Die Ideen kommen mir unwillkürlich zu; ich kann mir keine geben; sie gehören mir nicht mehr eigentümlich zu, wie meine Haare, die ohne mein Zutun wachsen, bleichen und ausfallen und die ich höchstens zustutzen, schneiden und frisieren kann. An der Entstehung unserer Ideen haben wir nicht mehr Anteil als am Lauf unseres Blutes durch unsere Arterien und Venen. Es hängt nicht von mir ab, Ideen einzulassen oder auszuschließen, die sich in meinem Gehirn bekämpfen und meine Markzellen zu ihrem Schlachtfeld machen."
Über LOCKE geht er hinaus, wenn er z. B. sagt: "Wir erhalten unsere zusammengesetzten Ideen"; oder wenn er den Zustand des Bewußtseins grundsätzlich mit einem Traumzustand zusammenwirft. In beiden Fällen glaubt man seinen Willen zu betätigen in gleich unbegründeter Weise; denn beide Male wird man in gleicher Weise unbewußt bestimmt durch das Vorhergegangene; und auch der Traum hat ja seinen Gedankenzusammenhang. Der Sachverhalt ist also keineswegs der, daß ich im Wachen ein aktives Lebewesen, im Schlaf durchaus eine bloße Maschine wäre. Ich bin beidemale das letztere. Auch eine, wie es scheint, selbständige Analyse der Phantasie erhärtet ihm den Gedanken, daß wir Maschinen sind. Und schließlich liegt es in der gleichen Richtung, wenn er dem Instinkt eine die Bedeutung der Vernunft überragende Rolle zuschreibt. Am meisten hat ihn doch an LOCKE gefreut, daß er in seinem Buch, an einer freilich abgelegenen Stelle,  einen Zweifel an der Seelensubstanz ausgesprochen fand  und zwar in einer besonders geschickten, diplomatischen und timiden [schüchternen - wp] Form, die er sich mit Vergnügen aneignet, namentlich solange es bedenklich war mit der Sprache herauszugehen über das, was er in Wirklichkeit dachte. LOCKE meint, man müsse es für die göttliche Allmacht als möglich ansehen (d. h. es sei nicht widersprechend zu denken), daß der Schöpfer einen Teil der Materie mit der Fähigkeit des Denkens ausgerüstet hat. Welch ein Gaudium für ihn, die besondere Frömmigkeit, die in dieser Ansicht enthalten ist, so aufdringlich wie möglich hervorzukehren und die Gegner als irreligiös zurechtzuweisen, die der Macht Gottes Schranken zu setzen wagen.  Er  ist nich so vermessen, daß er zu behaupten wagt, der absolute Herr aller Wesen habe dem Wesen, das man Materie nennt, nicht auch Gefühle und Empfindungen geben können.

Wir schreiten weiter zu einem anderen Gegensatz des VOLTAIREschen Naturalismus gegen den christlich-philosophischen Spiritualismus und zwar auf ethischem Gebiet. Das Christentum und die idealistische Philosophie unterstellen den Menschen einem Sollen. Im freien Gehorsam gegen eine absolute Moral findet der Mensch Wert, Gehalt und Würde, die er durch ihre böswillige Verletzung verliert und in ihr Gegenteil verkehrt. Im freien Gehorsam wird er allein das, wozu er angelegt ist: das Ebenbild Gottes. VOLTAIRE hat gegen diesen Gedanken nicht eben häufig ausdrücklich polemisiert, weil er, wie wir sehen werden, als Prediger eine Moral braucht. Aber sein Gegensatz gegen ihn hat sich doch oft mit und ohne seinen Willen enthüllt, wenn er z. B. in ironischer Bescheidenheit den unverschämten Anspruch ablehnt, unsere Seele für einen Teil der Gottheit zu halten, oder wenn er mit VOLTAIREschem  rictus [offenem Mund - wp] das Ebenbild Gottes auf dem Nachtstuhl verhöhnt, oder wenn er ruhig erklärt: "Die Natur des Menschen ist immer gewesen und hat immer sein sollen, was sie ist", d. h. für ihn, die eines sinnlichen Triebwesens, in dem Magen, Bauch und Geschlechtsteile doch das Grundlegende sind. Das sind instinktartige Anschauungen oder solche, die er schon in sehr früher Jugend eingesogen hat. Den Begriff aber, der die Grundlage der absoluten Moral bildet, hat er verhältnismäßig noch lange beibehalten, um ihn später gründlich zu verwerfen. Weil wir das interessante Schauspiel seiner  allmählichen Zersetzung  Schritt für Schritt verfolgen können, verdient der  Begriff der Freiheit  bei VOLTAIRE eine genauere Behandlung. Wir unterscheiden vier Stadien. Zunächst folgt VOLTAIRE in dieser Frage wie jedermann dem naiven Empfinden, das den Menschen frei denkt, weil es ihn so fühlt. Es dient ihm nicht, wie er selbst meint, zur Förderung, daß er auf LOCKE stößt, den er studiert und dem er nachspricht, LOCKE, der hier selbst unklar ist und verschleiert. Aus dem Nebel der Verworrenheiten ringt sich sein kritisches Denken durch zu den ihm und seiner Natur gemäßen Ergebnissen, die mehr und mehr eine kräftige und entschlossene Formulierung finden. Was er in psychologischer Analyse erarbeitet hat, wächst ihm schließlich zur Einheit zusammen mit seiner allgemeinen Welt- und Lebensansicht.

In dem nie zur Veröffentlichung bestimmten, bloß einer intimen Aussprache mit Frau du CHÂTELET dienenden  Traité de Metaphysique  des vierzigjährigen VOLTAIRE ist - das sieht man deutlich - die ausschlaggebende Instanz für seinen  anfänglich naiven Indeterminismus  das Zeugnis des Freiheitsgefühls, das er auch noch FRIEDRICH II. entgegenhält. Dieses "sentiment intérieur" [innere Gefühl - wp], das eine Stimme Gottes für uns ist und auf das unser ganzes praktisches Verhalten gegründet ist, ist der moralische (nach unserem Sprachgebrauch psychologische) Beweis für die Willensfreiheit, der alle doch immer nur ungewissen metaphysischen Ideen aus dem Feld schlägt.
    "Welch ein Widerspruch, sich für eine Art Bratenwender zu halten und doch immer wie ein freies Wesen zu handeln!"
Er widerlegt den Einwand, daß dieses Gefühl eine Jllusion sei, also entweder eine Selbsttäuschung oder eine Täuschung durch Gott, wie es allerdings bei gewissen Sinnesempfindungen der Fall ist, die wirklich täuschen. Er weist den gemeinen Erfahrungsbeweis für den Determinismus zurück: Man beruft sich auf die häufig zu beobachtende Übermacht der Leidenschaft über die vernünftige Erwägung, um auf die verborgene Abhängigkeit des Willens auch in weniger eklatanten Fällen zu schließen. Die Schlußkraft wäre dieselbe, wie in dem Schluß: Die Menschen sind manchmal krank, also sind sie nie gesund. Im Gegentil, wie das gelegentliche Gefühl der Krankheit die Tatsache der Gesundheit beweist, so beweist das nur gelegentliche Gefühl der Passivität die Tatsache der Kraft und der Freiheit. Freiheit ist die Gesundheit der Seele und jener Hinweis beweist also nur die Schranken des tatsächlichen Bestandes von Freiheit im Menschen und den intermittierenden [unterbrochenen - wp] Charakter dieser Kraft, mehr oder weniger Schwankungen unterworfen ist. Jene Instanz, auf die sich der Determinismus beruft, kann ebensogut als Ausnahme angesehen werden, welche die entgegengesetzte Regel bestätigt. Den alten metaphysischen Beweis gegen die Freiheit aus ihrer Unvereinbarkeit mit dem göttlichen Vorherwissen erledigt er mit den Waffen der CLARKE'schen Theologie. Danach stellt er in einem Brief an FRIEDRICH II. das Verhältnis von Gott und Mensch unter dem originellen Bild eines Königs dar, der sich wohl ganz darüber in Unwissenheit befinden kann, was sein General tun wird, dem er  carte blanche [Blankoscheck - wp] gegeben hat.

Es folgt nun die interessante  Diskussion  mit FRIEDRICH II. (2), die der dialektischen Kraft beider Parteien zur Ehre gereicht. Trotzdem  kommt nichts bei der Debatte heraus  und es kann nichts herauskommen, denn VOLTAIRE will Indeterminist sein und  will den Determinismus wiederlegen mit Argumenten Lockes, unter denen sich der,  von ihm aber nicht als socher erkannte,  psychologische Fundamentalsatz des Determinismus befindet.  Die Hauptschuld an der Verwirrung trägt freilich die  Autorität  VOLTAIREs, der berühmte Meister LOCKE selbst und das Kapitel des  Essay aus dem er sich instruiert. Klar, bei LOCKE ist nur der Satz, den er von HOBBES aufnimmt: Der Mensch ist in seinem Wollen nicht frei; er hat bloß die Freiheit zu handeln, wie er will. Daß mit diesem Satz das Problem grundsätzlich und endgültig in einem deterministischen Sinn erledigt ist, hat LOCKE absichtlich oder unabsichtlich verdeckt. Denn er versucht nun doch wieder die Frage auf einen bloßen Wortstreit hinauszuführen und mit dem Tadel falscher Personifizierungen (3), die man sich in der Diskussion zur Abkürzung gestattet, zu erledigen. Dann sucht LOCKE, um die bedrohten Begriffe der Schuld und Verantwortlichkeit zu retten, seinem ersten (HOBBES'schen) Begriff von Freiheit (Freiheit = die Fähigkeit einer erfolgreichen Betätigung des Willens) nachträglich einen anderen beizugesellen, von dem man nicht weiß, ob er nun die HOBBES'sche Negation (der Mensch im Wollen nicht frei) wieder negieren soll oder nicht; nämlich: Freiheit = die Fähigkeit der vorläufigen Hemmung der Triebe und der Abwägung der Mittel zum notwendigen letzten Endzweck. VOLTAIRE macht sich nun jenen ersten, auf HOBBES zurückgehenden Freiheitsbegriff LOCKEs zueigen und operiert mit ihm in der Meinung, damit noch durchaus Indeterminist bleiben zu können. Es mag wohl bei seinem Mißverständnis auch eine verfehlte Auffassung der sprachlich zweideutigen Definition des Freiheitsbegriffs bei LOCKE eine Rolle spielen. Wenn LOCKE sagt, der Mensch ist frei, d. h. er kann in bestimmten Fällen tun, was er will, so gleitet bei VOLTAIRE der Satzton willkürlich vom "tun" auf das "was" und bekommt den vageren Sinn, in dem es auch das Wollen einschließt, während es bei LOCKE-HOBBES nicht mehr bedeutet, als daß der Mensch in manchen Fällen die Fähigkeit hat, Gewolltes auszuführen. Aus diesem Begriff, der eigentlich nur die Existenz eines dem Willen Folge gebenden psychophysischen Mechanismus aussagt, wird so unter der Hand die Möglichkeit einer Wahr zwischen verschiedenen Alternativen. Und so stoßen wir auf die merkwürdige Erscheinung, daß ein Argument, das in allen späteren Auslassungen VOLTAIREs eine entscheidende Rolle für die Verneinung der Willensfreiheit spielt, hier keineswegs etwa als ansich unrichtig abgewiesen, wohl aber durchaus nicht als Gegeninstanz gegen die Freiheit eingeschätzt wird. Es ist der alte sokratische Satz, daß der Wille wegen seiner unausweichlichen Abhängigkeit vom Urteil, dem Urteil über das erstrebenswerte Gut, das nicht in der Wahl des Menschen steht, eben damit seinerseits nicht auf einer freien Wahl beruth. Da nämlich dieser Staz dem, was LOCKE Freiheit heißt, keineswegs widerstreitet - tun, was Vergnügen macht, heißt ja frei sein - so glaubt er auch damit durchaus noch Indeterminist bleiben zu können.

Die Diskussion mit FRIEDRICH II. und die Lektüre von COLLINS, dessen leidenschaftliche und, wie er später sagt, unloyale Bekämpfung durch CLARKE ihm die Schwäche der Voraussetzungen dieses Indeterminismus enthüllen, bringen nun doch  Klarheit.  Schon in den 1738 erschienenen  Eléments de Newton  zeigt sich der große  Fortschritt. Er besteht darin, daß er den indeterministischen Freiheitsbegriff schärfer faßt
- er definiert ihn als die Kraft, wirksam zu wollen, auch ohne anderen Grund als eben zu wollen - und daß er ihn von jenem ersten LOCKEschen Freiheitsbegriff, in dem er jetzt den Verzicht auf den Indeterminismus erkennt, zu scheiden weiß. Er sieht das Problem scharf in der Frage, ob der Mensch in seiner Entscheidung notwendig bestimmt ist und ist sich darüber klar, daß ihm  die indeterministische Freiheit  in ihren beiden möglichen Formen  unannehmbar ist,  sowohl als Freiheit der Indifferenz, wie auch als Freiheit der Spontaneität.  Die Freiheit der Indifferenz,  die man da annimmt, wo die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten nicht durch Lust- und Unlustmotive beeinflußt werden kann, weil es sich um ganz gleichgültige Dinge handelt (sich rechts oder links drehen, rechts oder links ausspucken), wäre einmal ein sehr nichtiges und ärmliches Geschenk des Schöpfers und unendlich gleichgültig im Vergleich mit der moralischen Freiheit, an der allein unser Interesse haftet.
    "Was tut's, ob  Cartouche (der berüchtigte Räuber) oder der Schah  Nadir  die Freiheit hat mit dem rechten oder mit dem linken Fuß anzutreten? Ich will wissen, ob es ihnen auch möglich war, das Blutvergießen zu unterlassen."
Aber jene Wahlfreiheit in indifferenten Dingen ist nicht einmal ein haltbarer Gedanke. Das scheinbar fehlende Motiv bei der Wahl liegt im mechanischen Ablauf der Idee. Die Idee der Eventualität, die sich bei der Wahl zuerst darbietet, bestimmt den Willen.
    "Man gibt gerade und ungerade zur Wahl. Du wählst gerade und siehst das Motiv nicht? Dein Motiv ist, daß die Vorstellung  gerade  in deinem Geist sich eben in dem Augenblick einstellt, in dem es gilt, eine Wahl zu treffen."
Die Freiheit der Spontaneität,  von der man ein typisches Beispiel im Sieg der Vernunft über die Begierden findet und die man als Bestimmbarkeit des Willens durch vernünftige Motive definieren kann (es ist eben das, was er im Briefwechsel mit FRIEDRICH II. die Gesundheit der Seele nannte) läßt ebensowenig Raum für die Wahlfreiheit. Denn einmal ist es wie VOLTAIRE, hier seine moralische Skepsis enthüllend, meint, nicht weit her mit ihr (elle est peu de chose), wie es mit dem Menschen selbst nicht weit her ist; und dann ist die Anerkennung der Bestimmbarkeit des Trieblebens durch die Vernunft, sobald man sich das Moment der Notwendigkeit im vernünftigen Urteil klar macht, nur Wasser auf die Mühlen des Determinismus. (4) Nun sieht er die deterministische Kraft jenes sokratischen Gedankens von der Bestimmung des Willens durch die Einsicht vollständig ein.

Auf der Höhe dieser hier erreichten Einsicht ist VOLTAIRE von jetzt an geblieben. Mit der gewonnenen Sicherheit wird  die Sprache entschiedener und deutlicher - oft schlägt er nun einen ausgelassenen Ton an. - Er verfolgt seine Überzeugung resolut in ihre Konsequenzen und wird sich klar über ihre Tragweite. Eine Beispiele für seine Gabe scharf zugespitzter Formulierung:
    "So oft ich will, will ich kraft meines gleichviel guten oder schlechten Urteils; dieses Urteil ist notwendig, also ist auch mein Wille notwendig. Daher sind wir nicht freier, wenn wir unsere Begierden bändigen, als wenn wir ihnen die Zügel schießen lassen; in beiden Fällen folgen wir unwiderstehlich unserem letzten Gedanken, der immer notwendig ist; die Gabe zu wollen, ohne einen anderen Grund als eben zu wollen, ist etwas Absurdes. Der Satz  Der Wille ist frei  ist ein Unsinn, weil es ein Unsinn ist zu sagen: ich will das Wollen. Es ist, wie wenn man sagt, ich wünsche es zu wünschen, ich fürchte es zu fürchten. Der Wille ist so wenig frei, als er blau oder viereckig ist und die Frage, ob er frei ist, ist so absurd wie die, ob ihm Farbe oder Bewegung zukommt; denn der Wille ist das Wollen und die Freiheit ist das Können."
CLARKEs Einwurf gegen COLLINs, der Mensch als  agent nécessaire [notwendiger Akteur - wp] sei eine  contradictio in adjecto [Widerspruch insich - wp], wird abgetan als unehrliche theologische Spitzfindigkeit. "Der Pfarrer  Samuel Clarke  hat den Philosophen erstickt." Passiv ist der Mensch, sofern die Ideen ihm ohne sein Zutun kommen, aktiv sofern er sich nach seinem Willen bewegt. Auch CLARKEs früher von ihm selbst benützte Unterscheidung einer moralischen Notwendigkeit von einer physischen, ist eine unhaltbare scholastische Schikane mit bloßen Worten; die erstere fällt mit der letzteren zusammen.

Rücksichtslos und ungeniert, wenn es gilt die Konsequenzen zu ziehen,  hebt er die Gleichheit von Mensch und Tier im Punkt der Freiheit hervor. LOCKE, der nicht gern Farbe bekennt, hat sich über diese Frage ausgeschwiegen.
    "Grundsätzlich ist der Hund so frei wie der Mensch, nur daß es der Mensch in tausendmal höherem Grad ist, weil er eine tausendmal höhere Denkkraft hat. Der Hund hat die Freihiet, seinem Herrn nachzulaufen, die Nachtigall hat die Freiheit, ihr Nest zu machen und zu singen, wenn sie Lust hat und nicht gerade an Schnupfen leidet. Wenn die Nachtigall sich aussprechen könnte, so würde sie zu den Theologen sagen: ich bin unbedingt dazu getrieben zu nisten, ich will nisten, ich kann nisten und ich niste; ihr seid unbedingt dazu getrieben, schlechte Philosophen zu sein; ihr erfüllt euer Schicksal, wie ich das meine."
Der Charakter, der nicht von uns abhängen kann, da er sich aus Ideen und  sentiments [Gefühlen - wp] bildet, die wir uns nicht gegeben haben, wird von ihm als so konstant vorgestellt wie der tierische Instinkt. Das menschliche Naturell ist so unwandelbar wie der Instinkt des Wolfes oder eines Marders.  "Catalina  war ein geborener Wolf,  Cicero  ein geborener Schäferhund." Ist er in diesem Gedankenzug, so kann sein Determinismus einen Stich ins Materialistische bekommen: "Kann man den Charakter ändern", fragt er; "ja, wenn man körperlich ein anderer werden kann, wie das z. B. im Alter, nach Krankheiten und Kuren wohl geschehen mag." So gibt er ein EISENBARTisches Rezept zur Charakterwandlung: "Man purgiere [von Störendem reinigen - wp] den Menschen täglich so lange, bis er daran stirbt."

Von einer Schärfe des Denkens zeugen die  Gedanken, die er sich über die Tragweite des Determinismus in moralischer Hinsicht  macht. Den geläufigen Einwand der Nutzlosigkeit von Lohn und Strafe bei deterministischen Voraussetzungen lehnt er ab mit dem ebenfalls bekannten richtigen Hinweis auf die erst in der deterministischen Betrachtungsweise verständliche Motivationskraft der pädagogischen und abschreckenden Strafe. Originell, bündig und geistvoll wehrt er einen anderen Einwand gegen den Determinismus von moralischer Seite ab: Man sagt, der Fatalist, der alles für unvermeidlich hält, werde nicht mehr arbeiten, er werde in Gleichgültigkeit und Stumpfsinn verfaulen.
    "Seien Sie unbesorgt, meine Herren, wir werden stets Leidenschaften und Vorurteile haben; denn das ist nun einmal unser Los, den Vorurteilen und Leidenschaften untertan zu sein. Wir werden immer tun, was wir nicht lassen können."
Zwar will er der Furcht vor der Zerstörung moralischer Begriffe wie  Verantwortlichkeit, Schuld, Verdienst  apologetisch [rechtfertigend - wp] entgegentreten und will es nicht wahr haben, daß der Determinismus der Moral schadet. Denn Laster bleibe auch so Laster, wie Krankheit Krankheit bleibt. Daß er jene moralischen Begriffe aber doch nicht retten kann, wie auch jeder konsequente Determinismus den Moralismus aufzehrt, hat er doch verraten müssen, unter anderem in der verneinenden Antwort auf die Frage, die er sich stellt:
    "Kann spontane geistige Einwirkung das Naturell ändern? Den Indolenten [Gleichgültigen - wp] zu geregelter Tätigkeit aufmuntern, den Temperamentvollen lethargisch machen, ist so unmöglich, wie einen Blindgeborenen zum Sehen zu bringen; die angebliche Bewältigung von Leidenschaften ist nichts als eine Jllusion. Eine Leidenschaft hat eben dann eine andere aufgefressen. Man gleicht mit einer solchen Einbildung jenem 90jährigen General, der jüngere Offiziere, die mit jungen Mädchen ein wenig Skandal machten, mit den zornigen Worten abstrafte: Ist das das Beispiel, das ich Ihnen gebe, meine Herren? Berechnung kann, einer Maske gleich, den Charakter verbergen, Moral und Religion mögen dem Naturell einen Zügel anlegen. Wir können vervollkommnen, abschwächen, verbergen, was die Natur uns mitgegeben hat, aber wir können nichts hinzutun."
Als Kennzeichen einer letzten, freilich nicht genau gegen die vorigen abzugrenzenden Periode mag das Merkmal dienen, daß er immer mehr  seinen psychologisch konzipierten Determinismus metaphysisch verankert  und in den Zusammenhang einer allgemeinen Weltansicht einordnet. Der Gedanke einer allgemeinen, endlosen, undurchbrechlichen Verkettung von Ursache und Wirkung bestimmt sein Weltbild so entschieden, daß ihm die Vorstellung einer Ausnahmeprovinz, welche die menschliche Freiheit bilden würde, absurd und lächerlich erscheint.
    "Wie sonderbar, wenn ein 5 Fuß hohes Tier unter Mißachtung der ewigen Gesetze, die für alles gelten, nach Willkür handeln könnte! Gott wäre bei der Annahme einer chimärischen Freiheit nicht mehr souverän, sondern ein schwacher Ignorant."
Er hat hier, was nicht oft vorkommt, ein anerkennendes Wort für LEIBNIZ und eignet sich dessen Satz an, daß jedes gegenwärtige Ereignis aus der Vergangenheit geboren und Vater der Zukunft ist, sonst wäre ja das Weltall ein ganz anderes, als es wirklich ist. Darum muß das ausschlaggebende Motiv im menschlichen Wollen Ursache im strengen Sinne sein. Hätte eine Ursache nicht ihre unfehlbare Wirkung, so wäre sie eben nicht Ursache. Durch LOCKEs (besser HOBBES') Definition von Freiheit läßt sich der Begriff der Freiheit mit dem alten und allgemeinen Dogma des Fatalismus vereinigen:
    "Der Mensch, der frei handelt, nach den ewigen Anordnungen Gottes, ist eines der Räder der großen Weltmaschine."
Diese Gedanken sind ihm allmählich so in Fleisch und Blut übergegangen, daß das  sentiment intérieur,  auf das er sich einst gegen FRIEDRICH berief, sich in sein Gegenteil verwandelt hat: "Zwanzigmal des Tages fühle ich, daß ich will und handle, weil ich so wollen und handeln muß." Und als der alte Fritz gelegentlich auf einen übrigens recht locker gegründeten Indeterminismus zurückkommt, schreibt er launig:
    "Ich habe einst getan, was ich konnte, um zu glauben, daß wir frei sind; aber wollen, was man will, weil man will, das scheint mir nun ein königliches Vorrecht, auf das wir anderen armen Sterblichen keinen Anspruch haben. Seien Sie frei, Majestät, so lange Sie wollen, mir kommt so viel Ehre nicht zu."
Noch haben wir einen weiteren, antispiritualistischen Spitze des VOLTAIREschen Naturalismus zu gedenken. Dem Spiritualismus ist es wesentlich, den Schwerpunkt der Welt und den Sinn des Lebens theologisch in ein Jenseits, philosophisch in eine intelligible Welt zu verlegen.  Für Voltaire ist der Mensch nicht Bürger zweier Welten,  sondern nichts als ein winziges Insekt, herumhüpfend auf der Schmutzkruste des kleinen Erdballs, der in einem Winkel des ungeheuren Weltenraums verloren kreist. Die Metaphysik ist, genauso wie die theologische Spekulation, das Chimärenfeld, der Roman des menschlichen Geistes: "Vanitas vanitatum et metaphysica vanitas" [Eitelkeit der Eitelkeiten und metaphysische Eitelkeit - wp], sagte er schon früher einmal zu Herrn von GRAVESEND, der ihm erwidert: "Leider haben Sie recht." Dieser Phantastik gegenüber stellt er sich auf den  reinen Diesseitigkeitsstandpunkt,  indem er bald auf die positivistisch gewertete Fachwissenschaft als das einzig Sichere hinweist, bald die technische Utilität als einzigen Wert preist:
    "Wenn alles Metaphysische uns von der Wahrheit weg in die Irre führt, so ist die einzige legitime Domäne unseres Geistes die Erfahrungswissenschaft. Die Philosophie besteht darin, inne zu halten, wo uns die Fackel der Physik fehlt; sie muß uns lehren, an allem zu zweifeln, was nicht zum Gebiet der Mathematik und Erfahrung gehört. Experiment und exakte Analyse sind die einzige Methode des richtigen Erkennens."
So kommen wir von der gänzlich nutzlosen Metaphysik zu einer praktisch wertvollen "philosophie d'usage" [Philosophie des Nutzens - wp].
    "Maschinen erfinden, die der Gesellschaft nützlich sind, das ist das wahre Ziel der Philosophie. Ein Erfinder, ja ein bloßer Arbeiter in mechanischen Künsten ist mehr wert als  Plato.  Was man nicht in die Praxis umsetzen kann, davon braucht man nicht einmal zu reden."
So banausisch wird also dieser Utilitarismus, daß er alles Verständnis für den interesselosen Trieb des Erkennens überhaupt verliert.


Erster Ansatz des kritischen Denkens.
Voltaire und das naturalistische Weltbild.

Wir schreiten weiter und fragen, wie sich VOLTAIRE  zu dem anschaulichen Weltbild verhält, das dem Naturalismus entspricht.  Der Naturalismus hat, soweit er nicht im naiven Realismus verharrt, stets die Neigung, eine schulgerechte, materialistische Metaphysik aus sich hervorzutreieben, wie das auch die Geschichte des 18. Jahrhunderts genugsam zeigt. Hier zum ersten Mal sehen wir VOLTAIRE nicht mehr im  Bann des Naturalismus;  er ist für ihn  gebrochen  und zwar  durch  jene andere Zeitmacht des  kritisch-skeptischen Denkens,  das sich methodisch in den bekannten erkenntniskritischen Arbeiten der Zeit betätigt, deren Ergebnisse er aufnimmt.

Den  naiven Realismus hat er überwunden  in der Schule LOCKEs, durch den die Erkenntnis von der Subjektivität der Sinnesqualitäten Gemeingut zu werden begann. Es kann scheinen, als ob er  den erkenntnistheoretischen Phänomenalismus  erreicht, wenn er sagt: "Wir sind so organisiert, daß wir nur die Erscheinungen der Dinge, nicht die Dinge selbst sehen." Aber den Schritt, den BERKELEY über LOCKE hinaustut, macht er nicht mit. BERKELEY hat bekanntlich die LOCKEsche These von der Intellektualität der sekundären Qualitäten auf die primäre (räumliche Ausdehnung und Solidität) ausgedehnt und hat LOCKEs Satz von der Unerkennbarkeit der körperlichen Substanz weiter bis zur Behauptung ihrer Irrealität geführt. VOLTAIRE verharrt bei der von LOCKE gegebenen Demarkationslinie: Die Ausdehnung und die Undurchdringlichkeit ist keine Empfindung wie die Farbeneindrücke. Der Raum ist keine subjektive Impression, er ist unabhängig von mir (sans moi). Oder etwas derber und naiver:
    "Das Getast gibt uns eine Empfindung von der Materie; der Stoß eines Steins an den Finger widerlegt die Meinung von der Phänomenalität der Materie.  Berkeleys  Standpunkt ist ein Paradox, ist der Gipfel des Lächerlichen und bedarf eigentlich keiner Widerlegung. Die Realität der Außenwelt steht fester als manche mathematische Wahrheiten. Trotz dem im Gewebe seines Denkens hervortretenden Einschlag erkenntnistheoretischer Reflexion, die ihn über den rohen Realismus hinaushebt, hat doch die sinnenfällige Realität für ihn zu großes Gewicht, als daß er sich von ihr frei machen könnte. Aber Materialist ist er nun auch nicht. Er glaubt ein  juste milieu  zu wahren, wenn er  beide Extreme als absurd  zurückweist, sowohl den  Idealismus der keine Körper, sondern nur Geist anerkennt und die Materie zum bloßen Phänomen macht, als auch die Ansicht des  Materialisten der den Geist leugnet und von sich selbst sagt:  Ich bin nur Körper." 
Wenn VOLTAIRE kein Materialist ist, so hat dies zwei Gründe; einen, der ihm selbst nicht bewußt ist: der monistische Zug des Denkens, der ja auch stark am Bau materialistischer Systeme beteiligt ist, ist bei ihm schwach entwickelt. Wichtiger ist aber doch, daß sein kritischer Scharfblick die  Schwierigkeiten, an denen der Materialismus als Theorie laboriert,  zu deutlich als  unlösbar  erkennt. Für ihn scheitert der Materialismus an der bloßen Tatsache von geistigem Dasein in der Welt. Hier steht ihm immer ein Doppeltes fest: Einmal, das  geistige Leben kann nicht selbst materiell  sein;
    "der Gedanke ist nicht Materie, ja er hat keinerlei Beziehung zur Materie; eine Reflexion ist kein Trompetenstoß und ein Willensentschluß ist weder ein Würfel noch eine Kugel. Die Existenz von Nichtmateriellem ist also evident".
Es kann aber auch  der Geist niemals auf Materie reduziert,  es kann nie das geistige Leben aus einer materiellen Grundlage erklärt werden.
    "Es ist vollständig undenkbar, daß in einem ausgedehnten Wesen Bewegung und Empfindung sich von selbst bilden sollten, es wäre denn, daß man Intelligenz schon als wesentliches Attribut der Materie faßt. Dann müßte dieses Attribut ein immer und überall vorkommendes Merkmal sein. Mist aber denkt doch nicht." (5)
Bewegung kann nie Empfindung und Vorstellung, geschweige denn Vernunft erzeugen. Es ist ein Widersinn, daß intelligenzlose Materie Intelligenz hervorbringen und Milliarden denkender Wesen erzeugen sollte. Der Materialismus ist absurd. Wir sehen, auch auf dem Gebiet also, auf dem er sich den Denkmotiven des Materialismus am meisten nähert, auf dem anthropologischen, zieht er einen Graben zwischen sich und den Materialisten. Er weist scharf, und sicher im Ernst, die Unterstellung von Gegnern zurück, die ihm die These zuschieben wollen, die Seele sei Materie.
    "Materie denkt nicht von selbst und es hilft auch nichts, wenn man eine unendlich feine Materie (matiére quintessenciée) als Subjekt der Denkkraft bezeichnet; auch diese feine Materie hat ansich so wenig ein Privileg der Denkkraft, wie ein Stein."
In der Hitze des Kampfes gegen den Materialismus kann er sich gelegentlich von der Grundlage seiner sensualistischen Psychologie entfernen: "Die Seele kann nicht das Resultat der Sinne sein."

In der  Frage, ob auch  schon die Tatsache der  Bewegung ansich den Materialismus unmöglich macht,  mit anderen Worten: ob die ansich unbewegte materielle Masse zu ihrer Bewegung den Anstoß eines immateriellen Prinzips braucht oder nicht,  schwankt  er. Bald scheint es ihm, so namentlich später, als sei mit der Ewigkeit der Materie auch die Ewigkeit ihrer Eigenschaften gegeben, mithin, da uns die Materie tatsächlich immer als bewegte entgegentritt, auch die Ewigkeit der Bewegung; und von diesem Gesichtspunkt aus könnte man wohl sagen, Bewegung sei für die Materie so wesentlich wie Ausdehnung und Undurchdringlichkeit. Andererseits kommt er, früher zumindest, von dem alten Begriff doch nicht so weit los, daß er nicht immer wieder die Bewegung als eine von außen mitgeteilte Kraft auffaßen würde. Wohl aber weist der faktische Bestand der materiellen Welt Tatsachen auf, die aus ihren eigenen Prinzipien nicht zu erklären sind, die vielmehr über sie hinausweisen als ein sie ergänzendes Prinzip. Das Zutagetreten  eines Zusammenhangs von Zweck und Mitteln  und die der Welt eingewebte  mathematische Gesetzlichkeit  erkennt VOLTAIREs kritischer Verstand als unbedingt  tödlich für den Materialismus.  Damit näher sich VOLTAIRE und nähern wir uns mit ihm einem neuen Ansatzpunkt seines Denkens.

Doch zuvor empfiehlt es sich, wenn dabei auch dem Folgenden etwas vorgegriffen wird, das  Ergebnis von Voltaires Nachdenken über die Seele  auf eine Formel zu bringen.  Er verpönt,  wie wir sahen,  den christlichen Dualismus,  aber fast ebenso  unannehmbar ist ihm der materialistische Monismus.  Sucht er sich vor diesem zu retten, so gerät er doch wieder in einen  Dualismus,  den seiner  deistischen Theologie,  aus dem er schließlich wieder in eine seltsame Art von pantheistischem Monismus einmündet. Jener Rekurs auf Gott, von dem die Rede war, ist dann doch nicht bloß eine Finte; er ist nebenher auch ernst gemeint. Wenn er sagt, Gott könne einen Teil der Materie mit der Fähigkeit des Denkens ausgerüstet haben, so denkt er bald an ein Atom, ein Element, ein elementares Feuerpartikel, eine Hirnparzelle, eine Portion organisierter Materie, der der Schöpfer das Geschenk des Denkens mitgegeben hat; bald nimmt er einen Parallelismus der organisierten Form mit entsprechend abgestufter Intelligenz an, die er sich der Feinheit der Sinne proportional denkt. Wenn nun gegen diese Anschauung gegnerischerseits der Einwurf gerichtet wird, wir können uns nicht vorstellen, wieso Materie denken kann, so gibt er ihn mit dem auch den gegnerischen Standpunkt treffenden, umfassenderen Einwand zurück: "Wir können uns nicht vorstellen, wie überhaupt ein Wesen denkt." Oder er weist darauf hin, daß in der Ausstattung der Materie mit Bewegungsfähigkeit, Schwerkraft usw. genau ebenso unlösbare Probleme liegen. Ebenso wie die Materie mit Schwerkraft ausgestattet ist, so sind gewisse animalische Wesen mit geistigen Kräften begabt worden.
    "Wir sind Maschinen, die der ewige Geometer gemacht und mit einem Prinzip des Wirkens ausgestattet hat. Wir sind Maschinen, deren Federn Gott leitet, wir sind Marionetten der Vorsehung. Gott hat in uns Menschen Automaten schaffen können, die sich mechanisch bewegen."
Aber die Betonung der göttlichen Kausalität kann nun so stark werden, daß  der Rahmen der deistischen Weltanschauung,  die in den maschinellen Bildern erscheint,  gesprengt  wird.  Wir gleiten in ein pantheistisches Fahrwasser hinüber,  wenn erklärt wird, daß Gott uns nicht bloß die Gabe des Empfindens, sondern auch die einzelnen Ideen selbst gibt, und daß wir jeden Augenblick die Werkzeuge eines absoluten Herrn sind, ein Satz, den er gerne mit dem psychologischen Hinweis stützt, daß uns alle unsere Ideen ja unwillkürliche kommen. Offen tritt der Pantheismus zutage in einem Satz wie dem folgenden:
    "Man hat die Hypothese der Planetengeister durch den größeren und göttlicheren Gedanken einer höchsten, intelligenten, allwaltenden Natur ersetzt. Ist das große Wesen die Seele der Planeten, warum soll es nicht auch unsere Seele sein?"
Interessant bleibt die Tatsache, daß VOLTAIRE nach dem Durchdenken dieses Problems MALEBRANCHE näher rückt (wir werden sehen, daß das letzte Wort seiner Theologie ganz ähnlich lautet):
    "Es wäre sehr wohl möglich, daß wir in Gott sind und alles in Gott sehen, wie  Malebranche  philosophisch ausdrückt, was der heilige  Paulus  theologisch sagt:  Ich will lieber die Maschine Gottes als die Maschine einer Seele sein." 
Mit diesem freilich seltsam formulierten Satz steht jedenfalls so viel fest, daß nun bei VOLTAIRE ein wichtiges Glied in der religiösen Gedankenkette der frommen Aufklärung ausgebrochen ist, der Gedanke der Persönlichkeit.

Das zeigt sich vor allem an seiner Stellung zum Lieblingsdogma der positiven Aufklärung, der  Unsterblichkeit.  Er scheut sich öffentlich Farbe zu bekennen; vor den Freunden macht er aus seiner Ketzerei keinen Hehl. Zur Vorsicht hat er, namentlich am Anfang und zwar mit gewissem Recht, betont, daß die Leugnung der Unsterblichkeit keine notwendige Folgerung aus seinen Prinzipien ist. Er kann sich da auf die ungeheure und unbekannte Macht des Urhebers der Natur zurückziehen, der die Fähigkeit zu fühlen und zu denken geben, nehmen und auch wiedererstehen lassen kann. Diese Stellung nimmt er auch später ein, wo er nicht verletzen will, als ihn z. B. der spätere König FRIEDRICH WILHELM III. von Preußen, damals noch Prinz, fragte, ob er mit dem Alter nicht auch etwas anders denkt über die Seele. Aber der Freundin du DEFFAND gegenüber lautet es anders:
    "Das Nichts hat ein Gutes; beruhigen wir uns. Kluge Leute sagen, wir werden davon zu kosten bekommen. Es sei klar, sagen sie, daß wir nach unserem Tod sein werden, was wir waren, ehe wir geboren wurden."

    "Wenn eine Biene tot ist, hört ihr Summen auf, wenn ein Musikinstrument zerbrochen ist, gibt es keinen Ton mehr von sich", antwortet er auf die Frage: Was werden wir sein? "Nichts ist so einleuchtend, als daß der Mensch, wie alle anderen Tiere und Pflanzen und vielleicht wie alles im Weltall, geschaffen ist, um zu sein und um nicht mehr zu sein."
Auch dem eigenen Tod sieht er mit dieser Stimmung entgegen.
    "Alles geht dahin, endlich geht man selbst dahin, um das Nichts aufzusuchen oder etwas, das in keiner Beziehung zu uns steht, als das Nichts für uns ist. Ich präpariere mich ziemlich philosophisch auf die große Reise, von der jedermann spricht mit ziemlich wenig Sachkenntnis. Da wir nicht reisten, ehe wir geboren waren, so werden wir wohl auch nicht reisen, wenn wir nicht mehr sind. Die Denkfähigkeit, die wir mitbekommen haben, verliert sich wie die Eß- und Trink- und Verdauungsfähigkeit. Die Marionetten der unendlichen Vorsehung sind nicht dazu geschaffen, so lange zu dauern, wie diese selbst. Nachdem wir von Furcht und Hoffnung umgetrieben waren in den zwei Minuten unseres Lebens, werden wir den vier Elementen zurückgeben, was wir von ihnen haben und unsere Seele  à rien du tout ou á peu de chose [für nichts oder vielleicht ein bißchen - wp]."

LITERATUR - Paul Sakman, Voltaires Geistesart und Gedankenwelt, Stuttgart 1910
    Anmerkungen
    1) Mit dem Satz: ich bin Körper und ich denke, will er das Urphänomen bezeichnen, auf das die psychologische Bestimmung stößt, in einem zwar nicht ausgesprochenen, aber deutlich erkennbaren Gegensatz zu  Descartes' cogito ergo sum,  das ihm zu ideell ist. So kann er von einer "physischen Gewißheit" seiner Existenz reden.
    2) FRIEDRICH vertritt den Standpunkt eines metaphysisch begründeten Determinismus, in dem die Idee eines allein wirksamen Gottes jede andere Selbständigkeit, wie es die menschliche Freiheit wäre, ausschließt. Er argumentiert, wie er selbst sagt,  a priori,  VOLTAIRE  a posteriori:  "Mein System will die natürlichen Wirkungen mit ihrer ursprünglichen Ursache, Gott, verketten." Übrigens ist diese Debatte von seiten FRIEDRICHs, so sehr sie namentlich im Anfang von einem gewissen spekulativen Schwung getragen scheint, lediglich akademisch gemeint: "Ich will bei derartigen Problemen sehen, wie weit man die Dialektik treiben kann." Und so hat er sich dann auch später gelegentlich selbst die Aunschauung zueigen gemacht, die er in diesen ersten Briefen an VOLTAIRE dialektische bekämpfte.
    3) VOLTAIRE schreibt ihm das dann gelegentlich nach und polemisiert ebenfalls gegen den sokratischen Satz: "Der Verstand beeinflußt den Willen" damit, daß er die Ungenauigkeit der Personifikation von bloßen Funktionen nachweist: Verstand und Wille sind ja nicht kleine Wesen, die aufeinander wirken, sondern bloß verschiedene personifizierte Funktionen unseres geistigen Wesens. Damit meint er dann, die Beweiskraft des Gedankens selbst beseitigt zu haben.
    4) Später führt er die hier noch gesondert behandelten beiden Arten der Freiheit klarer als hier auf einerlei Notwendigkeit zurück, die sich nur nach dem bewußten oder unbewußten Charakter des Beweggrunds unterscheidet; im einen Fall haben wir ein Bewußtsein vom ausschlaggebenden Grund, im andern sind die bestimmenden kleinen Umstände unserem Bewußtsein verborgen. Nur mit hohler Rhetorik könne man auf die Einwände gegen die Freiheit antworten.
    5) Damit ist F. A. LANGEs Meinung erledigt, der zufolge VOLTAIRE Hylozoist gewesen wäre.