cr-4L e v i a t h a nF. MauthnerRousseauR. Euckenvon MohlSimmel    
 
FERDINAND TÖNNIES
Anmerkungen über die
Philosophie des Hobbes

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"Hobbes gewann die Überzeugung, daß die wissenschaftliche  Form,  wie sie in den euklidischen Elementen vorliege, nämlich Demonstration durch syllogistische Verbindung von Definitionen und etwa noch anderen prinzipiellen Sätzen, als einzig mögliche auf alle Gegenstände des Erkennens auszudehnen sei. Insbesondere würden sich Moral und Politik (darauf war sein Interesse am intensivsten gerichtet), bislang die Schauplätze leidenschaftlicher, rhetorischer Urteile, durch strenge Anwendung jener Methode zur Gewißheit erheben lassen."


Erster Artikel

1. THOMAS HOBBES ist einer von den Philosophen, welche den Bestrebungen des 17. und 18. Jahrhunderts ihre Wege gewiesen haben. Der Kern dieser Bestrebungen ist ihre Feindschaft gegen das Mittelalter und gegen die geistige Macht, welche dasselbe beherrscht hatte, die katholische Kirche; ihr Ziel, auf der neuen Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis eine neue geistige Macht zu schaffen, welche jene nicht nur zu vernichten, sondern auch zu ersetzen stark sein sollte. Demgemäß kann die Geschichte der neueren Philosophie als ein Kampf teils gegen den Inhalt, teils gegen die Formen der kirchlichen Philosophie, der Scholastik und als eine allmähliche Eroberung des Gebietes derselben angesehen werden. Von der Tiefe dieses prinzipiellen Gegensatzes hat gerade HOBBES ein sehr starkes Bewußtsein und er bestimmt sich nach demselben den Umfang und das Ziel seiner Aufgabe.

2. Das Wesen jener kirchlichen Philosophie läßt sich zum Zweck dieser Eröterung genügend bezeichnen in einigen Ausdrücken ihres Meisters, des heiligen THOMAS von AQUIN (1). Er sagt:
    "Die heilige Wissenschaft, welche behandle was höher sei als die Vernunft, könne zwar einiges annehmen von den philosophischen Disziplinen, jedoch nicht als ob sie notwendig ihrer bedürfe, sondern zur größeren Verdeutlichung dessen, was in ihr selber geboten werde; den sie empfange nicht ihre Prinzipien von den anderen Wissenschaften, sondern unmittelbar von Gott durch Offenbarung; und folglich empfange sie nicht von den andern Wissenschaften als von Überlegenen, sondern benutze sie als Untergebene und als Mägde; wie die Architektonik Handlanger benutze und die Staatskunst Soldaten ... Von jener alleinherrlichen Offenbarungswissenschaft aber heißt es ein andermal, es könnten wohl einige wahrscheinliche Gründe auf die Verdeutlichung ihrer Wahrheit führen, zur Übung und zum Trost der Gläubigen, aber nicht zur Widerlegung der Gegner; weil eben die Unzulänglichkeit der Gründe sie mehr in ihrem Irrtum bestärken würde, sofern sie dächten, daß wir ums schwächlicher Gründe willen der Wahrheit des Glaubens zustimmen ..."
Gar keine wissenschaftliche, sondern eher eine Art von künstlerischer Absicht lag jener Wortarchitektonik zugrunde: es war die Philosophie eines Lebens, welches keine Wissenschaft brauchte, auf den stetigen und geschlossenen Formen von Ackerbau und Handwerk und auf fest organisierten Herrschaftsverhältnissen beruhend.

3. Die neue Zeit, welche die Bedürfnisse wachsender Bevölkerung durch Verbesserung der Produktionsinstrumente und durch Ausdehnung des Handelsverkehrs zu befriedigen genötigt war und dadurch die Grundlagen der mittelalterlichen Kultur erschütterte, konnte zu ihren Zwecken die Produkte klösterlicher Beschaulichkeit oder akademischer Disputierkunst nicht benutzen, sondern bedurfte praktischer, d. h. die wirklichen irdischen Dinge und das wirkliche irdische Geschehen genau darstellender Wissenschaft. Aus diesem Verlangen und nicht aus den Ansprüchen häretischer Logik und Metaphysik gingen die kräftigsten unter den zahlreichen Angriffen hervor, welche während des 15. und 16. Jahrhunderts wider das System der Schulweisheit gerichtet wurden. Diese Angriffe verbreiteten eine mißtrauische und feindselige Stimmung, jedoch ist zu vermuten, daß die großartige katholische Reaktion, welche sich im Jesuitismus verkörperte, derselben teils durch Konzessionen, teils durch Zwangsmittel völlig Herr geworden wäre, wenn nicht alsbald die positiven Wissenschaften, und zwei vor allen anderen, sich stärker gerüstet vorgeschoben hätten.

4. Von der ersten, der Astronomie, ist es überflüssig, hier zu reden; da ihre mächtige Wirkung auf die Zertrümmerung der mittelalterlichen Weltbetrachtung und auf die Ausbildung der neuen Gedanken immer hervorgehoben wird. In verzerrter Gestalt, als Astrologie, genügte sie den mittelalterlichen Bedürfnissen, als welche nicht auf stetige rationale Beherrschung, sondern auf gelegentliche zaubernde Bestechung der Natur gerichtet waren; ihr ernsteres Studium entsprang aus den Interessen der immer größere Lebenskreise bewegenden Seefahrt. Die damit eng verbundene Entwicklung der Manufaktur, welche Einzelwerkzeuge in Massenwerkzeuge oder Maschinen umzuwandeln trachtete, gab Anregung und Förderung für die andere Wissenschaft, die Mechanik. Wie die Maschine zur ökonomischen, so war die Mechanik, ihre Darstellerin, zur wissenschaftlichen Weltherrschaft berufen. Sie wurde zuerst mit Eifer und Verständnis gepflegt in den wirtschaftlich am weitesten entwickelten italienischen Städten. Aber früh blühte sie auch in den Niederlanden, in Frankreich und in England. So finden wir schon im 16., jedoch besonders zu Anfang des 17. Jahrhunderts in diesen Ländern, zuerst für die Probleme der Statik, dann auch für die dynamischen, ein erstaunlich lebhaftes Interesse und eine geradezu musterhafte sachliche Hingebung. Und wie jede große Bestrebung ein schöpferisches Genie hervorzubringen pflegt, so geschah es auch hier. Die neue Wissenschaft wurde epochemachend durch GALILEI. Sie wurde durch GALILEI philosophisch.

5. Die traditionelle Historiographie der Philosophie hat GALILEI unter den Tisch geschoben; ein künftiger Geschichtsschreiber dieser Historiographie mag untersuchen weshalb. Es werden ja an den Namen der Philosophie die mannigfaltigsten Begriffe angeknüpft; in verschiedenen Ländern verschiedene, in jedem Land zu anderen Zeiten andere. Der Geschichtsforscher aber muß sich einen deutlichen und strengen Begriff bilden, dem vorherrschenden sprachlichen Gebrauch der Zeiten und der Länder gemäß, von denen er handelt. Er wird finden, daß die scholastische Periode mit ihrer Gegnerin, der Aufklärung, über den formalen Bereich jenes Begriffs im Wesentlichen einige gewesen sei; wonach er den Komplex aller Wissenschaften bezeichnete, welche allgemeine und notwendige Wahrheiten hervorbrächten. Will man nun, um die Geschichte der Philosophie nicht in eine Geschichte der Einzelwissenschaften aufzulösen, mit diesem Inhalt die bei uns überwiegende Vorstellung verbinden, so kann man von philosophischer  Behandlung  einer Wissenschaft sprechen und darunter eine solche verstehen, welche ihr eigenes Gebiet auf seinen Zusammenhang hin mit einem aus den Erzeugnissen aller gestalteten Universalgebilde betrachtet und es für die Vervollkommnung desselben fruchtbar zu machen bemüht ist. Ja, man wird auch gar nichts einwenden dürfen, wenn ein Geschichtsschreiber der Philosophie die Einzelwissenschaften nur darstellt, insoweit sie an einem solchen Weltbild mitgearbeitet haben und etwa nur noch diejenigen Wissenschaften als ganz und gar philosophische ansieht, welche noch nicht einen selbständigen Platz eingenommen und darum auch noch nicht einen für die Gesamtanschauung gleichgültigen oder minder wichtigen Inhalt gewonnen haben. Nun ist es eine sichere historische Tatsache, daß wenigstens bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts Physik für eine philosophische Wissenschaft erachtet worden ist; ferner daß seit Anfang des 17. Jahrhunderts jeder Versuch, eine wissenschaftliche Weltanschauung auszubilden, mit den Ergebnissen und Hypothesen der neuen Lehre von der Bewegung der Körper sich so oder so hat auseinandersetzen müssen; endlich daß der Urheber dieser Lehre nach ihren Hauptumrissen, und der zugleich die vorher über ihren Gegenstand herrschenden Meinungen von Grund aus zerstörte, GALILEI gewesen ist.

6. GALILEI vernichtete die Physik der Schulen. Gar viele hatten vor ihm einzelne Theoreme derselben mit Leidenschaft bekämpft, aber den meisten blieben doch ihre Grundbegriffe als denknotwendig feststehen. Auch waren diese je durch Disputationen ebensogut zu behaupten als zu bestreiten - wer hatte denn Tatsachen gezeigt und mit anderen Mitteln erklärt, welche jene durch Altertum und durch metaphysische Brauchbarkeit geheiligte Welterklärung unmöglich machten? Und es war doch ein großes und für Menschen sehr bestechendes Prinzip mit allseitiger Konsequenz darin durchgeführt; nämlich der Begriff des  Zweckes.  Er hatte für das christliche Mittelalter seinen inneren Ursprung aus dem jüdischen Theismus; äußerlich aber stammte er aus der griechischen Philosophie. Das Wort, welches ARISTOTELES von seinem Vorgänger ANAXAGORAS sagt, der sei mit jenem Begriff unter die hellenischen Denker wie ein Nüchterner unter Trunkene getreten, gewinnt, von hier aus gesehen, eine universalhistorische Beleuchtung. In der neuen Zeit ist der gegenständliche Vorgang der umgekehrte, aber auch der Gegensatz ist ein anderer: GALILEI trat unter die Gelehrten, wie ein Wissender unter Unwissende. Sein Fallgesetz und sein Wurfgesetz zeigten, daß die für selbstverständlich und unerläßlich gehaltenen Einteilungen der Körper in schwere oder erdige, und leichte oder feurige; der Bewegungen in natürliche und gezwungene, unbrauchbar, indem die angeblichen Unterschiede, die sich darauf gründeten, in Wirklichkeit nicht vorhanden seien. GALILEI stellte sich den Erscheinungen gleichsam sprachlos gegenüber. Er dachte und sagte, daß
    "das wahre Buch der Philosophie das Buch der Natur sei, welches immer aufgeschlagen vor unseren Augen liege, es sei aber in anderen Lettern geschrieben als in denen unseres Alphabeths; die Lettern seien Triangel, Quadrate, Kreise, Kugeln, Kegel, Pyramiden und andere mathematische Figuren". (2)
Darum kann man das Buch nur mit Hilfe der Mathematik lesen (Opere XI, 21) und PLATON ist zu loben wegen seines Ausspruchs, daß das Studium der Mathematik den philosophischen Studien vorangehen müsse (XIII, 93). So wurde mittelbar die Mathematik die eigentlich revolutionäre Wissenschaft; wie auch SPINOZA sagt: die Wahrheit wäre dem Menschengeschlecht in Ewigkeit verborgen geblieben, wenn nicht die Mathematik, welche sich nicht mit Zwecken, sondern nur mit Begriffen und Eigenschaften der Figuren beschäftigt, den Menschen eine andere Norm der Wahrheit gezeigt hätte (Ethik I, 36 appendix). GALILEI hat die Anwendung der Mathematik auf Physik nicht erfunden; man hatte längst gepflogen, nach dem Vorgang der Alten, zumal des ARCHIMEDES, sich statische Probleme an geometrischen Figuren zu verdeutlichen und daran zu lösen. Aber ihrer Anwendung auf die Lehre von den Bewegungen hat GALILEI zuerst einen festen Boden gegeben und ebendamit diese Lehre neugeschaffen. Und zwar geschah dies durch zwei große und glückliche Abstraktionen, welche für den Philosophen schon am Anfang seiner Laufbahn zu Axiomen geworden waren. Durch die erste wird gesetzt, daß die Wirkung jeder einfachen Kraft eine Bewegung in gerader Linie, mithin jede Kurvenbewegung das Resultat zusammengesetzter Kräfte sei. Die andere ist das Gesetz, daß, wie ein ruhender Körper in seinem Zustand, so auch ein bewegter in geradliniger Bewegung, mit gleichmäßiger Geschwindigkeit zu  beharren  tendiere und daß diese Tendenz nur durch  äußere  Kraft aufgehoben werden könne. Dieser Fundamentalsatz der Mechanik ist von GALILEI schon in der gegen 1590 geschriebenen, aber nicht gedruckten Abhandlung de motu gravium aufgestellt, dann aber 1632 im Dialog über die Weltsysteme und 1638 in den Dialoghi delle nuove scienze der Gelehrtenwelt öffentlich vorgelegt worden. (3) Vergleicht man das Prinzip mit der scholastischen vis inertiae [Kraft der Trägheit - wp], welche jeden Körper seinem Element, d. h. dem Zustand der Ruhe zustreben läßt, so sieht man den mechanistischen Grundcharakter der neuen gegenüber dem teleologischen der alten Physik in hellem Licht. Diese will Qualitäten klassifizieren, jene Quantitäten vergleichen;
    "messen alles was meßbar ist und versuchen meßbar zu machen was es noch nicht ist",
mit diesen Worten bezeichnet GALILEI die Aufgabe seiner Wissenschaft. (MARTIN, Galilée, Seite 282). 7. Ich habe die bisherigen Anmerkungen für nötig gehalten, um in die folgenden einzuführen. Denn gerade in jener neuen Wissenschaft, durch deren Begründung GALILEI die scholastische Physik überwand, hat auch das gesamte Denken des HOBBES seine Wurzeln. Die Richtigkeit dieser Behauptung wird gezeigt werden. Die Geschichtsbücher freilich, zumal die aus diesem Jahrhundert, bringen HOBBES in einen anderen Zusammenhang. Er soll ein Schüler des BACON von Verulam gewesen sein, dessen  Empirismus  er fortgebildet, den er durch politische Philosophie ergänzt habe, und dgl. mehr. Dies ist eine seltsame und gänzlich unwahre Fabel. Sie hat ihren Ursprung in zwei Umständen:
    1) BACON und HOBBES waren beide Engländer und noch einigermaßen Zeitgenossen;

    2) aus der vita Hobbesii hat sich von Glied zu Glied (oft mit heftigen Ausschmückungen) die Notiz vererbt, daß HOBBES dem BACON beim Übersetzen einiger Schriften geholfen und daß dieser von jenem gesagt habe, er fasse seine Gedanken mit einer Leichtigkeit auf wie kein anderer.
Über die Quelle und den Wert dieser Nachricht will ich mich hier nicht verbreiten; daß auf sie und auf den ersten Umstand hin behauptet wird, der eine sei in seinem Denken vom andern abhängig, ja sein Schüler gewesen, das ist offenbar nicht zu billigen. Indessen es hat noch eine andere Sache dazu mitgewirkt, nämlich die, daß überhaupt über die Bedeutung BACONs für die Naturwissenschaft und für die gesamte Philosophie sehr wenig begründete Vorstellungen in Umlauf gekommen sind; zuerst durch die Schuld der philosophisch recht kurzsichtigen Mitglieder der Royal Society in England, welche den naturforschenden Großkanzler gleichsam als ihren Schutzheiligen verehrten; dann aber durch die französische Enzyklopädie, dieses Agitationswerk einer durch und durch unhistorischen Geistesrichtung; der es aber doch nimmermehr eingefallen wäre, als ein Anhängsel BACONs THOMAS HOBBES zu behandeln. Schon HUME nahm Gelegenheit, jene falsche Schätzung BACONs zu berichtigen und GALILEI als den Vater der modernen Naturwissenschaft hervorzuheben. HOBBES und seine Denkgenossen scheinen den Lordkanzler wegen seiner belletristischen Schriftstellerei (in den Essays, dem Wisdom of the Ancients usw.) als einen Mann von aufgeklärten und zum Teil originellen Meinungen hoch genug geschätzt zu haben; aber Wissenschaftliches von ihm zu lernen, konnten nur die Zurückgebliebenen geneigt sein. Das Beste was er geleistet hat, der wenn auch schwächliche Versuch, eine Theorie der induktiven Methode aufzustellen, konnte gar nicht in eine ungünstigere Periode fallen als in diese Blütezeit der mathematischen Deduktion, in der man aber über die Notwendigkeit planmäßige Beobachtungen und Experimente zu machen, längst einig war und beides trefflich verstand; für die logische Theorie dieser Praxis sich jedoch so wenig interessierte, als es die Naturforscher während der beiden folgenden Jahrhunderte getan haben. In einer Kritik, welche ein berufener Vertreter der mathematisch-physikalischen Studien kurz nach dem Erscheinen des Novum Organum über dieses Buch geschrieben hat (4), heißt es, der Autor "hätte die Gelehrten der verschiedenen Nationen um Rat angehen sollen, ehe er eine Masse von Regeln, von Ermahnungen und von Instanzen vorlegte, für die kein Bedürfnis vorhanden ist, entweder weil sie schon in Übung sind unter den Gelehrten, oder weil sie unnütz sind - dies ist die Ursache gewesen, daß sehr viele aus seinem Buch über den Fortschritt der Wissenschaften sich gar nichts gemacht haben". BACON steht eben als Nichtmathematiker gänzlich außerhalb der philosophischen Bewegung jener Zeit; erst als deren mächtiges Anwachsen es erschwert hatte, ihre Entwicklung zu übersehen, konnte man wähnen, daß er ein Bahnbrecher oder Wegweise für dieselbe gewesen sei. Insonderheit ist es auch falsch, ihn als Urheber der empiristischen Erkenntnistheorie zu bezeichnen, in welcher dann HOBBES, LOCKE, HUME ihm sollen gefolgt sein - BACON kennt noch gar kein erkenntnistheoretisches Problem, wenigstens bleibt es bei ihm gänzlich in Dämmerung; wenn er von Erfahrungen zu Axiomen hinauf- anstatt von Axiomen zu Folgerungen hinabsteigen will, so hatte er gut reden, der sich um Geometrie nicht kümmerte; ob und wie Wissenschaft möglich sei, welche der aus Definitionen und Axiomen demonstrierenden Geometrie an Gewißheit gleichkomme? das ist doch die Zentralfrage der Erkenntnistheorie gewesen. THOMAS HOBBES war einer der ersten in der neuen Epoche, welche um ihre Lösung sich bemühten.

8. HOBBES war schon in jungen Jahren über die Verkehrtheit der scholastischen Philosophie, die er vorher mit großem Eifer studiert hatte, ins Klare gekommen. Er wandte sich dann historischen und politischen Studien zu, deren erste Frucht seine Übersetzung des THUKYDIDES war. Erst im Jahre 1628, 40 Jahre alt, lernte er die Elemente des EUKLID kennen; dieses Ereignis scheint er selber als einen Wendepunkt seines Lebens angesehen zu haben. Indessen sind sichere Spuren vorhanden, daß er schon früher Mathematik betrieben hatte; auch ist Grund zu der Vermutung, daß er mit dem Charakter und mit den Ergebnissen der neuen Astronomie und Physik bereits bekannt war; zu einem überaus eifrigen Gelehrten auf diesem Gebiet, der mit den ersten Forschern aller Länder brieflichen Verkehr hatte, dem Baronet CHARLES CAVENDISH, stand er in nahen persönlichen Beziehungen; das Studium des EUKLID bedeutet, daß er nunmehr diesen Disziplinen, an denen er alle freidenkenden Männer seines Zeitalters teilnehmen sah, auch selber mit aller Energie sich zuwandte. Er gewann damals wohl gleich die Überzeugung, daß die wissenschaftliche  Form,  wie sie in den euklidischen Elementen vorliege, nämlich Demonstration durch syllogistische Verbindung von Definitionen und etwa noch anderen prinzipiellen Sätzen, als einzig mögliche auf alle Gegenstände des Erkennens auszudehnen sei. Insbesondere würden sich Moral und Politik (darauf war sein Interesse am intensivsten gerichtet), bislang die Schauplätze leidenschaftlicher, rhetorischer Urteile, durch strenge Anwendung jener Methode zur Gewißheit erheben lassen. Wie er sich damals diese Aufgabe ferner klar gemacht, insbesondere wie er sich die Unterschiede dieser Methode von jener des scholastischen Philosophierens vorgestellt habe, läßt sich nicht sagen.  Sachlich  war sein Denken, wie es scheint, von der Untersuchung der Begriffe  gut  und  schlecht  auf Begriffe überhaupt, von da auf die Natur der Sinnesqualitäten, und also auf die der Wahrnehmung geführt worden. Nun bildete er sich um die Mitte des 4. Jahrzehnts den Plan, seine Gedanken über diese Gegenstände in den Zusammenhang eines einheitlichen, demonstrierten Systems der Wissenschaft zu setzen. Daß dieses möglich sei, sagte ihm die Überzeugung, welche schon im Jahre 1634 tief in seiner Seele befestigt hatte:  daß in der Natur alles mechanisch geschehe  (vit. Hobb. auct. Seite 27), d. h. daß, während nach ARISTOTELES immer vielerlei Veränderungen: der Substanz, der Qualität, der Quantität und des Ortes als ebensoviele verschiedene Arten der Bewegung waren betrachtet worden, vielmehr alle Veränderung auf eine einzige, nämlich die örtliche Bewegung als die allein der sinnlichen Erfahrung bekannte Form sich müsse zurückführen lassen. Zur Erforschung der Natur dieser Bewegung hatte GALILEI die neuen Wege gewiesen; den bis dahin gültigen Unterschied zwischen natürlichem und gewaltsamem Ursprung derselben hatte er aufgehoben, indem er jenen auch auf von außen bewegende Kräfte zurückführte. Als solche Kräfte aber sind aus intimer Erfahrung nur die des menschlichen Körpers bekannt; dieser aber muß, um einen fremden (leblosen - nur mit diesen beschäftigt sich ja zunächst die Mechanik) Körper zu bewegen, in  Berührung  mit demselben treten. In diesem Umstand ist die  psychologische  Erklärung zu suchen, daß man bei Verallgemeinerung der mechanischen Prinzipien auch diese Vorstellung von notwendiger Berührung verallgemeinerte und als denknotwendig betrachtete. Daß aber für HOBBES gerade im Einfluß GALILEIs - den er übrigens im Jahre 1636 persönlich besuchte - das entscheidende Moment zur Gestaltung seiner Weltanschauung lag, das hat er selber deutlich genug kundgegeben, was in einer mit dergleichen Bekenntnissen so wortkargen Zeit umso mehr von Gewicht ist. Sehr häufig wird man in seinen Werken betont finden, daß alles auf die Natur der Bewegung ankomme, wer die nicht verstehe, verstehe nichts von Physik, und Physik bedeutet für ihn eigentlich die ganze Wissenschaft. Nun aber an bedeutender Stelle (de corp. ep. dedic.) sagt er nachdrücklich:
    "der uns zuerst die Eingangspforte der gesamten Physik erschlossen hat, nämlich das Wesen der Bewegung, war in unseren Tagen GALILEI; so daß man nach meiner Meinung  vor  sein Auftreten den Beginn des Zeitalters der Physik nicht ansetzen darf" (vgl. exam. et. mend. math. hod. Seite 56, ed. 1668).
In diesem Zusammenhang, wo er sonst noch KOPERNIKUS, HARVEY, MERSENNE und GASSENDI als seine Vorgänger nennt, sagt er, wie mir deucht, auch über sein Verhältnis zu BACON durch sein Schweigen genug.

9. HOBBES war nun zunächst hauptsächlich bemüht zu erforschen,
    "was für eine Bewegung es sein möchte, welche die Wahrnehmung, den Verstand, die Phantasmen und andere Eigentümlichkeiten der lebendigen Wesen bewirke" (vita Seite 4).
Innerhalb dieser Untersuchungen, aber noch ehe die mechanistische Tendenz zu völliger Entschiedenheit gekommen war, fällt ein kleiner ungedruckter Traktat (5), eingeteil in drei Sektionen, deren jede wieder aus  Principles  und  Conclusions,  meist in kurzen Sätzen, besteht. Hier ist noch die scholastische Theorie der Spezies zur Erklärung der Sinneswahrnehmung beibehalten; aber der Akt der Wahrnehmung selber, sowie der Akt des Verstehens sollen als Bewegungen der animalischen Geister erwiesen werden, und diese werden als räumlich bewegt, d. i. empfangene Bewegung mitteilend bezeichnet; und die Gegenstände der Wahrnehmung, als Licht, Farbe, Wärme seien nichts als die verschiedenen Wirkungen äußerer Dinge auf die animalischen Geister, durch verschiedene Organe; was in der eigentümlichen Weise begründet wird, daß wenn sie den Spezies inhärente Qualitäten wären, Wärme auch gesehen werden, Licht auch gefühlt werden müßte. Es ist unmöglich, das Jahr zu bestimmen, in welchem dieser Traktat verfaßt wurde; er ist jedenfalls die früheste philosophische Arbeit des HOBBES; er hat später behauptet, schon im Jahre 1630 dem Grafen WILHELM von Newcastle gegenüber "Licht für eine Einbildung im Geiste" erklärt zu haben, "verursacht durch Bewegung im Gehirn, welche Bewegung wiederum verursacht sei durch die Bewegung der Körper, welche wir leuchtende nennen" (Engl. Works ed. Molesworth. VII, Seite 468: er ruft jenen Edelmann selber zum Zeugen dafür an). Im Verlauf dieser Gedanken gab sich dann HOBBES im Laufe der dreißiger Jahre eifrigen Bemühungen um die mechanistische Behandlung der Optik hin; welche eine lebhafte Förderung erhielten durch das Erscheinen der DESCARTES'schen Dioptrique (1637). Hier fand HOBBES auch eine der seinigen verwandte Ansicht über die sinnlichen Qualitäten; mit einer Polemik gegen die scholastische Doktrin; vielleicht hat er erst nach diesem Vorgang den Begriff und Ausdruck Species fahren lassen und erst von nun an die  Propagierung  der Bewegung vom Objekt durch ein Medium zum Sinnesorgan als alleinige Ursache der Wahrnehmung angenommen. Übrigens aber fühlte er sich zu einer Bekämpfung vieler einzelner Punkte jenes Werkes veranlaßt; DESCARTES erhielt seine Einwürfe durch die Vermittlung MERSENNEs und beantwortete sie in dem hochfahrenden Ton, der ihm eigen war, sobald er etwas wie Rivalen witterte; man findet die Briefe, die sich hauptsächlich auf technisch-mathematische Fragen beziehen, in den Ausgaben der DESCARTES'schen Korrespondenz und in Band V der Opera latina Hobbesii es. Molesworth. Aber in weitläufiger Ausführung überliefert die Polemik des HOBBES gegen die DESCARTES'sche Dioptrik ein zweiter ungedruckter Traktat, welcher in lateinischer Sprache das ganze Gebiet der Optik behandelt; (6) von Interesse ist daraus etwa Folgendes: er stellt hier seine eigene Theorie der sinnlichen Wahrnehmung der DESCARTES'schen scharf gegenüber, da diese den Gegenständen, z. B. den leuchtenden Körpern nicht eine Bewegung, sondern nur eine Aktion oder eine Neigung zur Bewegung zuschreibe; dies sei ohne Sinn, da mit dem Ausdruck sich keine Art von sinnlicher Vorstellung verbinden lasse; und eine Tendenz zur Bewegung (conatus) sei nicht anders denkbar denn als Teil der Bewegung selber, wenn auch noch so geringen Quantums; Bewegung ohne bestimmte Richtung gebe es nicht. Hier steht HOBBES offenbar als konsequenter Vertreter des mechanistischen Gedankens gegen den Rest des scholastischen Begriffs von potentielle Seiendem bei DESCARTES. Es ist wiederum nicht zu sagen, in welches Jahr dieses Manuskript zu setzen sei; ziemlich sicher aber doch  vor  1644, da die Zitate aus DESCARTES in einer lateinischen Übersetzung gegeben sind, die mit der in jenem Jahr publizierten gar nicht übereinstimmt. Übrgigens hat HOBBES auch später noch hervorgehoben, daß seine Wahrnehmungstheorie eben wegen dieses Punktes von der DESCARTES'schen verschieden sei (Engl. Works VII, Seite 340).

10. Die Ereignisse der Zeit veranlaßten, daß HOBBES kurz vor dem Jahr 1640 an eine Ausarbeitung seiner moralischen und politischen Theorie, deren Grundzüge ihm wahrscheinlich längst feststanden, heranging; er vollendete die Arbeit im Mai jenes Jahres und nannte sie: Elements of law, natural and politic. (7)

Die "Elements of law, natural and politic" enthalten in den ersten sechs Kapiteln, knapp zusammengedrängt, was HOBBES damals (1640) über das Wesen des Erkennens und der Wissenschaft gedacht hat. Es wird zunächst vom Vorstellungsvermögen des Menschen gehandelt, sinnliche Wahrnehmung definiert und die Nicht-Inhärenz der Qualitäten in den Gegenständen nachgewiesen; mit dem Schluß, daß alle Gegenstände nur Erscheinungen sind; die wirklich in der Welt außerhalb von uns vorhandenen Dinge sind Bewegungen, durch welche jene Erscheinungen verursacht werden. Es folgen Definitionen der Einbildung (als einer allmählich abnehmenden Vorstellung nach dem Akt der Wahrnehmung), des Traums, der Fiktion, des Phantasmas und schließlich der Erinnerung (welche als Vorstellung von einer vergangenen Vorstellung nebst einer teilweisen Wiederkehr derselben bezeichnet wird). Die Ursache des Zusammenhangs der Vorstellungen sei ihr erster Zusammenhang zu der Zeit, wo sie durch Sinneswahrnehmung hervorgebracht wurden. Die Erinnerung von der Folge eines Dings auf ein anderes, d. h. welches vorhergehend, welches nachfolgend, welches begleitender Umstand war, ist Erfahrung; wenn jemand so oft gleichen Vorumständen gleiche Nachumstände hat folgen sehen, daß er jedesmal das eine  wegen  des anderen  erwartet,  so nennt er sie  Zeichen  voneinander. Solche Zeichen sind aber nur mutmaßliche; ihre Zuverlässigkeit ist niemals voll und evident;  Erfahrung  bringt keine allgemeinen Schlußfolgerungen hervor. (Hum. Nat. Kap. IV, 10) Obgleich die Assoziation der Vorstellungen in der Erinnerung nicht von unserem Willen, sondern von ihrer ursprünglichen Assoziation abhängig ist, so können wir doch selber solche Urassoziationen zustande bringen, indem wir einen Gegenstand zum  Erinnerungsmerkmal  eines anderen machen; dergleichen Merkmale sind auch die menschlichen Stimmtöne, welche Namen heißen. Aus zwei Namen machen wir mit Hilfe des Wortes "ist" ein Urteil; ein Urteil ist wahr, wenn die zweite Benennung die erste in sich begreift; wenn nicht, falsch. Die Verbindung mehrerer Urteile ist Denken. So ergeben sich (Kap. VI, 1) zwei Gattungen von Erkenntnis; die eine ist Sinneswahrnehmung oder ursprüngliche Erkenntnis und Erinnerung davon; die andere heißt Wissenschaft oder Wissen umd die Wahrheit von Sätzen - beide (heißt es dann hier) sind bloß Erfahrung: nämlich von den Wirkungen der Dinge auf die Sinne - vom Gebrauch der Namen in der Sprache; die Aufzeichnung des ersteren Wissens ist Historie; die des anderen Philosophie. - Es ist deutlich, daß an der letzten Stelle der Ausdruck "Erfahrung" in einem allgemeineren Sinn als vorher verstanden werden soll; und man muß sagen, daß durch die ganze Erörterung dem Empirismus als einer unwissenschaftlichen Erkenntnisweise der Rationalismus als die wissenschaftliche entgegengesetzt wird. Die Idee des letzteren geht aus von der Geometrie; im Text der Schrift ist dies auch mehrfach angedeutet; mathematische Physik hat vermutlich insofern auf die Theorie eingewirkt, als sie die sonst nur abstrakt gedachte Ausdehnbarkeit der Methode in concreto mit ihren Erfolgen zeigte. Denn alles, was wir im praktischen Leben der Physik verdanken, das verdankt die Physik der Geometrie; daher sei fast alles was die heutige Zeit von vergangener Barbarei unterscheidet, als Wohltat der Geometrie anzusehen: so heißt es in der kurz nachher (1641) geschriebenen Dedikations-Epistel des Buches "Über den Bürger". Mit denselben Erfolgen - nämlich allgemeiner Anerkennung und lebendigem Nutzen - werde sich dereinst das Unternehmen belohnt zeigen, nach geometrischer Methode Moral und Politik zu deduzieren. Daß ein Unterschied sei zwischen der Anwendung von Geometrie auf Naturerscheinungen und der Behandlung einer Wissenschaft nach Art der Geometrie, scheint dem Autor damals noch nicht in den Sinn gekommen zu sein. - Die weitere Entwicklung seiner erkenntnistheoretischen Ansichten versuche ich nunmehr zunächst darzulegen.
LITERATUR - Ferdinand Tönnies, Anmerkungen über die Philosophie des Hobbes, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 3, Leipzig 1879
    Anmerkungen
    1) Welche ich dem Buch des Katholiken KARL WERNER, Der heilige Thomas von Aquino, 3 Bde., Regensburg 1858, entnehme.
    2) GALILEO GALILEI, Opere ed Alberi VII, 354f. Ich zitiere nach THOMAS HENRI MARTIN, Galilée, Paris 1868, habe aber die Stellen selbst verglichen.
    3) MARTIN, a. a. O., Seite 316
    4) Nämlich der unermüdliche Vermittler zwischen den Forschern jener Zeit, und spätere intime Freund des HOBBES, MARIN MERSENNE, vom Orden der fratres minimi, im 16. Kapitel des Buches "La vérité des Sciences, contre les Sceptiques ou Pyrrhoniens"; Paris 1625. Dieses Buch ist, wie alle Schriften MERSENNEs, überaus selten und soviel ich sehe, ganz unbekannt; ich benutzte das Exemplar der Bodleiana zu Oxford. Was noch weiteres darin über BACON gesagt wird, ist gleichfalls sehr scharf und treffend.
    5) Enthalten in einem Manuskript-Band, bezeichnet "Philosophical Tracts, collected by Thomas Hobbes", den ich im British Museum fand (Harl. 6796); das hier bedeutete Stück trägt keine besondere Signatur; daß es aber von HOBBES stamme, geht, - abgesehen vom Titel des ganzen Bandes - für mich aus dem Inhalt und aus der Handschrift hervor.
    6) Enthalten in demselben Manuskript-Band, wie der vorhin genannte.
    7) Sie wurde in vielen Abschriften verbreitet und 10 Jahre später ließen einige Verehrer des Verfassers ohne dessen Einwilligung die ersten 13 Kapitel des ersten Teils unter dem Titel "Human Nature", den Rest des Werkes bald darauf unter dem Titel "De corpore politico" im Buchhandel erscheinen; so getrennt befinden sich jetzt beide Schriften in der Sammlung "Thomas Hobbes' moral and political works", London 1750 und in der Gesamtausgabe "English works, ed. Molesworth, London 1835f Vol. IV. Die erste ist jedoch, wie mir eine Kollektion mehrerer Manuskripte des ganzen Werkes, welche sich im British Museum befinden, ergeben hat, nach einem sehr fehlerhaften, zum Teil verstümmelten Exemplar gedruckt; der Text der zweiten ist besser, aber doch gleichfalls an vielen Stellen korrupt. Diese letztere hat im Wesentlichen denselben Inhalt, der zuerst im Jahre 1642 zu Paris lateinisch als "dritter Abschnitt der Elemente der Philosohie: über den Bürger" erschien.