ra-3W. SombartH. Kantorowiczvon Treitschkevon MohlTh. Veblen    
 
RUDOLF EUCKEN
Gesellschaft und Individuum

"Der Gedanke der Gleichheit samt dem des gleichen Wertes und Rechts aller Menschen hat ältere Wurzeln, zur vollen Entwicklung aber ist er erst in den letzten Jahrhunderten gelangt. Dem klassischen Altertum ist er durchaus fremd, und auch was sich zu seinen Gunsten im späteren Altertum regte, konnte gegen die tatsächlichen Unterschiede der Menschen nicht aufkommen. Die Wurzel der Gleichheitsidee liegt in der Religion, für uns speziell im Christentum. Es war das Verhältnis zu Gott, in dem alle Abstände der Menschen verschwanden, es war die Unendlichkeitsidee, der gegenüber alle endlichen Unterschiede gleichgültig wurden."

Das Verhältnis von
Gesellschaft und Indiviuum


a) Geschichtliches

Beim Problem der Gesellschaft steht es heute ähnlich wie bei dem der Geschichte. Das 19. Jahrhundert hatte einen Rückschlag gegen die Aufklärung gebracht, dieser aber hat, obschon noch in voller Wirkung, einen neuen Rückschlag hervorgerufen; so durchkreuzen sich Wirkungen mit Gegenwirkungen und erzeugen eine recht verworrene Lage; sehen wir, ob wir uns ihr zu entwinden vermögen.

Einige Worte seien zunächst den Ausdrücken gewidmet, soweit sie eine Aufklärung fordern. Individuum und Individualität sind ältere Bildungen, die aber erst die Neuzeit weiteren Kreisen zuführte. Individuum heißt zunächst etwas, das sich nicht teilen oder trennen läßt: so kann CICERO  individuum  als Übersetzung von  atomon  verwenden. Dieser Sinn überwiegt im späteren Altertum und auch im Mittelalter; die älteste deutsche Übersetzung (bei NOTKER) ist "unspaltig". Aber schon dem Ausgang des Altertums bedeutet "individuum" auch das Einzelne als einzigartiges, von anderem Unterschiedenes, in seiner Besonderheit nur einmal Vorhandenes; das Mittelalter verwendet diese Bedeutung weiter und prägt auch (jedenfalls schon im 12. Jahrhundert) die Ausdrücke  individualis  und  individualitas.  Dem allgemeinen Leben vermittelt aber diese erst LEIBNIZ, auch hier ein wichtiges Zwischenglied alter und neuer Zeit.

Der Gedanke einer unvergleichlichen Eigenart des Einzelwesens, namentlich des vernünftigen Einzelwesens, kann sich nach zwei Hauptrichtungen entfalten: gegenüber dem Weltall und gegenüber der Gesellschaft. Hier wie da hat er zwei Stufen, deren eine der antiken, die andere der modernen Denkweise entspricht. Dort erscheint die Eigentümlichkeit als innerhalb des Ganzen gelegen: daß auch in den kleinsten Dingen nicht zwei einander völlig gleichen, und daß im menschlichen Zusammensein jeder ein besonderes Werk zu verrichten hat, das erscheint als ein großer Vorzug, das bekundet die Vortrefflichkeit der Einrichtung. Genau formuliert haben diese Lehre zuerst die Stoiker: nicht zwei Haare, zwei Körper, zwei Blätter, noch weniger zwei Lebewesen sind einander völlig gleich. Später steigert sich der Anspruch: nicht damit zufrieden, einen bloßen Teil des Ganzen, ein bloßes Stück der Welt zu bilden, will das Individuum bei sich selbst eine Welt, eine eigentümliche Konzentration der gesamten Wirklichkeit, ein "Mikrokosmus" sein. Damit wird das All eine Welt von Welten und vertieft sich zugleich wesentlich gegen das unmittelbare Dasein. Auch diese Fassung entstamt dem Altertum; seiner spätesten philosophischen Schule, PLOTIN und seinen Anhängern, leuchtete zuerst der Gedanke auf, daß jeder Mensch eine eigene Welt bildet und das ganze All eigentümlich spiegelt; "jeder einzelne sind wir eine geistige Welt". Von hier ist auch der Ausdruck  Mikrokosmus  in Umlauf gekommen, dessen Wurzeln bis auf DEMOKRIT und ARISTOTELES zurückreichen. Im Mittelalter hat namentlich die mystische Spekulation jenen Gedanken festgehalten, von hier kam er durch verschiedene Zwischenglieder (NIKOLAUS von KUES, GIORDANO BRUNO) in die moderne Philosophie, um in LEIBNIZens Monadenlehre seine wissenschaftliche Höhe zu erreichen. Nun erst wendet sich der Gedanke von weltüberfliegender Spekulation und stillem Gemütsleben zur anschaulichen Wirklichkeit, nun erst beginnt er seine radikalen Konsequenzen hervorzutreiben.

Denn diese kosmische, nicht die gliedmäßige Fassung ist es, die in schwere Probleme verstrickt und das Individuum mit der gesellschaftlichen Ordnung hart zusammenstoßen läßt. Als ein bloßes Glied erachtet, gehört das Individuum ja zur Gesellschaft und ob sich innerhalb dieser eine mehr oder weniger große Sonderung empfiehlt, das ist mehr eine Frage der Zeit als ein Kampf von Prinzipien. Unvermeidlich dagegen wird ein solcher, wo das Individuum als Mikrokosmus ein selbständiges Ganzes, ein völliger Selbstzweck, der Hauptschauplatz des Lebens zu sein verlangt. Ja, der Streit erstreckt sich dann über die Frage der Abgrenzung der Sphären hinaus in den innersten Kern des Lebens. Denn wie könnte das Individuum, klein und bedingt wie das nächste Dasein es zeigt, dem Ganzen der Gesellschaft gewachsen sein; notwendig bedarf es eines festen Rückhalts; wo anders aber könnte es einen solchen finden als in einem unmittelbaren Verhältnis zum großen All, zu den schaffenden Quellen des Lebens, mag das nun mehr eine spekulative oder künstlerische oder religiöse Gestalt annehmen. So steht hinter dem Streit zwischen Individuum und Gesellschaft der Kampf einer sozialen und einer kosmischen Lebensführung, es handelt sich hier um den Mittelpunkt unserer geistigen Existenz. - Damit eine Verwicklung in ebenso schwere wie spannende Probleme, ein Auf- und Abwogen der Bewegung durch den Lauf der Jahrhunderte. Wir lassen das Fernere liegen und wenden uns direkt zur Lage und Stimmung der Gegenwart.

Es steht aber unsere Zeit unter dem Einfluß drei verschiedener Strömungen von verschiedener Stärke und Breite: es sind das die Gesamtbewegung der Neuzeit zum Individuum, der Rückschlag des 19. Jahrhunderts zugunsten der Gesellschaft, die Wiederbelebung des Individualismus in künstlerisch-literarischer Gestalt gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Diese Komponenten der heutigen Lage seien etwas näher ins Auge gefaßt.

Die Emanzipation des Individuums ist wohl der hervorstechendste Zug des gesamten modernen Lebens. In ihm entwickelte sich mit überlegener Kraft sowohl ein unmittelbares Verhältnis des Einzelnen zum All und zur Gottheit, als eine selbständige Ergreifung der politischen und sozialen Aufgaben durch das Individuum. Allmählich hat sich das von der Renaissance und von der Reformation aus über das ganze Dasein ausgebreitet, sich immer tiefer in seinen Bestand eingegraben, es durchgängig frischer, kraftvoller, bewegter gestaltet. Wie die neue Wissenschaft in ihre aufsteigende Bahn nur gekommen ist unter Zerlegung der überkommenen Gesamtgrößen, wie Zeit, Raum, Masse usw., in diskrete Elemente, so ist dem modernen Leben wesentlich eine wachsende Selbständigkeit und Sonderung der Individuen. Von der Behandlung der innerlichsten Fragen bis zu den Äußerlichkeiten von Sitte und Verkehr (1) hat das mehr und mehr durchgesetzt. Es wird damit keineswegs alle gegenseitige Beziehung aufgehoben; die Verbindung soll den Individuen nur nicht von draußen aufgedrängt werden, sondern aus einer eigenen Entscheidung und einer freien Vereinbarung hervorgehen. Noch weniger bedeutet die Individualisierung des Daseins eine Preisgabe aller inneren Zusammenhänge. Vielmehr ist auf der Höhe der geistigen Arbeit, bei Männern wie LUTHER und KANT, das Selbständigwerden des Menschen gegen die Menschen nur die eine Seite des Lebensprozesses, dessen andere die unbedingte, aber freie Unterwerfung unter sichtbare Gewalten bildet. Wer solche Männer als Verfechter einer vagen Freiheit lobt oder tadelt, bekundet nur sein völliges Mißverständnis ihrer Eigentümlichkeit.

Im breiteren Strom der Zeit ist die Sache freilich minder frei von Verwicklung, Widerspruch und Zusammenstoß. In Deutschland hatte die Bewegung zum Individuum seit ihrem Durchbrechen in der Sturm- und Drangzeit vorwiegend einen künstlerisch-literarischen Charakter; wie das Individuum jener Zeit sich durch künstlerisches Schaffen über den Durchschnitt hinaushob und als "Genie" allem "Philistertum" weit überlegen fühlte, so hat sich öfter die Erhebung des selbstbewußten künstlerischen Individuums wiederholt. So zunächst in der Romantik, welche eben darin die Größe des Menschen fand, eine Individualität zu sein (SCHLEIERMACHER), und in einer Überspannung dieser Denkweise das unumschränkte Recht der "unendlich freien Subjektivität" proklamierte, Kunst und Wissenschaft dabei hoch über das politische Leben hinaushebend; (2) ähnliche Erscheinungen zeigt später das junge Deutschland, zeigt heute das Übermenschentum. Auch die klassische Zeit des deutschen Humanismus teilt die Hochschätzung des Individuums, und die leitenden Pädagogen, PESTALOZZI wie HERBART, übertragen diese Denkweise auf die Erziehung (3). Aber hier erringt das Individuum eines Selbständigkeit nich, um in einem Gegensatz zur Welt und sozialen Umgebung zu verbleiben und sich in das Bewußtsein einer stolzen Überlegenheit einzuspinnen, sondern es kehrt dahin zurück, dehnt seinen Lebenskreis weiter aus, wächst schließlich in einer Versöhnung mit aller Umgebung zur weltumspannenden Persönlichkeit. So steht uns namentlich die geistige Art und das Lebenswerk GOETHEs vor Augen. Ob aber höher oder niedriger gefaßt, der Zug zum Individuum bleibt die charakteristische Signatur jener Zeit.

Der erste Widerstand dagegen entsprang dem Idealismus selbst, indem der Gedanke eines weltumspannenden, durch seine eigene Bewegung getriebenen Geisteslebens den Schwerpunkt des menschlichen Seins von den Individuen in das Ganze der Menschheit verlegte. Dann aber kam der Realismus mit seiner Wendung zur anschaulichen Welt. Damit eröffnete sich eine unabsehbare Füllen von Aufgaben, die nur in vereinter Kraft lösbar waren und daher die Menschen aus der bisherigen Vereinzelung heraus zu einem engeren Zusammenschluß, zu einem Arbeiten in Reih und Glied trieben. Dahin wirkte das Verlangen nach politischer Freiheit, das Streben nach einer von eigener Kraft und Gesinnung der Bürger getragenen Staatsordnung, dahin die Ausbildung nationaler Kreise, die alle Individuen mit überlegener Art umspannen und zu neuen Aufgaben vereinen, dahin der ungeahnte Aufschwung der Technik, der die Verkettungen der Arbeit ausdehnt und die Arbeiter enger aneinander bindet, dahin schließlich das moderne Wirtschaftsleben mit seinen Riesenbetrieben, seiner Erzeugung schroffer Gegensätze, seiner Ansammlung der Massen. Auch die moderne Beschleunigung des Lebens, das Einandernäherrücken der Menschen, die tausendfache Verschlingung der Lebenskreise trägt dazu bei, die individuellen Züge abzuschleifen und der Summierung zu Massenerscheinungen eine überwältigende Macht zu verleihen. Im Zeitalter der Presse, der Telegraphen und Eisenbahnen bildet sich rascher eine öffentliche Meinung und gewinnt sie einen größeren Einfluß; sie umfängt das Individuum schon im Werden und läßt ihm so als eigenes Werk erscheinen, was in Wahrheit die Umgebung zugeführt hat.

Schließlich steigert, empfangend und zurückwirkend, auch die Theorie die Abhängigkeit des Individuums. Denn die neuere Gesellschaftslehre, die "Soziologie" (QUETELET, COMTE usw.), ist eifrigst bemüht, die völlige Bedingtheit des Menschen durch seine soziale Umgebung, das "Milieu" (4), aufzuweisen; bis in seine Wünsche und Träume scheint er ihr beherrscht durch das, was die Gesellschaft an ihn bringt; selbst ein scheinbarer Kampf des Individuums gegen sie wurzelt schließlich in den Bedürfnissen des Ganzen und liegt damit innerhalb des Ganzen. Zugleich tritt der Begriff des gesellschaftlichen Durchschnitts, des mittleren Menschen, in den Vordergrund; es wird nachgewiesen, daß die Abweichungen des Individuums davon, soweit meßbar, sich innerhalb weit engerer Grenzen bewegen, als der erste Eindruck anzunehmen geneigt ist (5). So verweilt die Aufmerksamkeit weit mehr bei der Gleichheit als bei der Verschiedenheit der Individuen, (6) und die Analyse des individuellen Seelenlebens, diese Stärke unserer großen Dichter, weicht der Massenbeobachtung, die sich in der Statistik ein handliches Werkzeug schafft.

Das alles war nicht bloß eine äußere Verschiebung, es war auch eine innere Wandlung des Lebens. Denn nunmehr wurde an ihm zur Hauptsache, was wir für die Gemeinschaft leisten, nicht was wir für uns denken und tun. Energischer wird alle Kraft zur Betätigung gerufen, deutlicher die Bindung des Individuums an das Ganze hervorgekehrt. Auch das Geistesleben gewinnt einen eigentümlichen Anblick. Die Verbesserung der gesellschaftlichen Lage wird das allüberragende Hauptziel. Die Moral wird zum Wirken für die Gesellschaft, zum Altruismus, die Kunst findet keine höhere Aufgabe als die lebendige Vergegenwärtigung der gesellschaftlichen Zustände, die Erziehung erstrebt mehr die Hebung des allgemeinen Bildungsniveaus als die Entwicklung einer individuellen Art. Den Zentralbegriff dieses neuen Lebens bildet die Arbeit, Arbeit in dem modernen Sinn, wie sie eine Selbständigkeit gegenüber den Individuen erlangt, große Komplexe und feste Methoden entwickelt, allem menschlichen Tun damit feste Bahnen vorschreibt. In einer solchen Verdichtung zur Arbeit konnte das neue Leben mit seiner breiteren Basis, seiner strengeren Sachlichkeit, seinem wehrhaften Ringen gegen die Widerstände der Umgebung, seiner energischenn Verbesserung der Daseinsbedingungen sich der älteren Lebensführung weit überlegen fühlen. Daß das Ja auch ein Nein in sich trug, der Gewinn auch einen Verlust mit sich brachte, kam so lange nicht zur Empfindung, als jene ältere Lebensführung noch fortwirkte und die neuere stillschweigend ergänzte.

Wirkt ein solches Zusammenstreben der Kräfte mit seinen engeren Verschlingungen gegen das Individum in versteckterer Weise, so tut es offensichtlich die mächtige Wirkung, die der Staat im Lauf des 19. Jahrhunderts erlangt hat. Am zwingendsten trieben dazu die wirtschaftlichen Verwicklungen, da ihnen gegenüber alle Anstrengung des bloßen Individuums verloren war. Aber dieser Punkt ist nur der Höhepunkt einer durchgehenden Erscheinung. Es ist die wachsende Komplikation, die technischere Gestaltung der Kultur, welche mehr Ineinandergreifen der einzelnen Kräfte und mehr Organisation des Ganzen verlangt, damit aber nach einer leitenden Spitze ruft. Das erzeugte z. B. mit Notwendigkeit eine stärkere Zentralisation im Unterrichtswesen. Und es fehlte dieser Bewegung des Kulturlebens nicht die beseelende Kraft einer Gedankenwelt. Die Erhebung des Staates zum Hauptträger der Kulturarbeit, ja des Geisteslebens entspricht der modernen Überzeugung von einem Innewohnen der Vernunft in aller Wirklichkeit; es ist kein Zufall, daß die leitenden Systematiker des Pantheismus, SPINOZA und HEGEL, entschiedenste Vorkämpfer der Staatsidee waren, daß SPINOZA nicht bei Gott, sondern beim Heil des Vaterlandes geschworen haben will, HEGEL aber den Staat "wie ein Irdisch-Göttliches" verehrt. So verbünden sich gegen die Selbständigkeit des Individuums die sichtbare Macht des Staates und die unsichtbare der Gesellschaft; wer der einen entflieht oder zu entfliehen glaubt, verfällt leicht umso mehr der anderen.

Aber wie der volle Sieg leicht zu einer Überspannung und damit zu einem Rückschlag führt, so hat auch hier die Umklammerung des Menschen durch Staat und Gesellschaft gegen Ausgang des 19. Jahrhunderts eine Neuerhebung des Individuums hervorgerufen. Was sich davon mit besonderer Geflissenheit hervordrängt, ist unerquicklich genug, wir meinen die Selbstvergötterung unechter Genies und das Sichaufbauschen seiner subjektiven Stimmung zu einer vermeintlichen Weltüberlegenheit. Aber es steckt doch weit mehr dahinter, als diejenigen meinen, welche mit der Verspottung jener Auswüchse die ganze Sache erledigt wähnen. Denn hinter allem Problematischen steckt eine Gegenwehr des Individuums und Subjekts gegen die drohende Einengung und Verkümmerung; was jene Bewegung zur Gesellschaft an Begrenzungen und Verneinungen enthält, das bringt der Widerspruch jetzt zu einem deutlichen Bewußtsein. Eine Abschleifung der individuellen Züge, eine Gefährdung der Selbständigkeit, ein Stocken ursprünglichen Lebens und Schaffens, sie scheinen untrennbar verbunden mit jener gesellschaftlichen Kultur. Ähnlich wie die Geschichte die Gegenwart erdrückte, eine kleine Gegenwart aber auch in der Geschichte nichts Großes zu sehen vermag, so scheint die Gesellschaft die Individuen zu verkleinern, dadurch aber unvermeidlich auch bei sich selbst zu sinken. Gewahren wir denn nicht deutlich genug, wie inmitten aller glänzenden Triumphe technischer Arbeit uns große Persönlichkeiten mehr und mehr entschwinden, zugleich aber das Niveau des gemeinsamen Lebens niedriger wird? Die Arbeit, der Kern der neuen Lebensgestaltung, sollte die Seele kräftigen; nun kommt zur Empfindung, daß sie sie mit ihrer riesenhaften Entwicklung schwächt, ja unterdrückt; so wird die Seele zur Gegenwehr gereizt, wendet sich gegen die gesellschaftliche Kultur und bestreitet den Wert aller ihrer Erfolge. Zugleich aber sucht das Individuum sich von aller gesellschaftlichen Bindung abzulösen, es will sich mit voller Freiheit entfalten und gänzlich "ausleben", es kehrt möglichst sein Unterscheidendes hervor und will sich vom Durchschnitt abheben. Auch zieht es zur eigenen Kräftigung verwandte Bildungen früherer Zeiten heran; so feiert namentlich die Romantik eine Art von Auferstehung.

Wieviel in all dem überspannt und verkehrt sein mag, seine Macht über die Zeit ist unbestreitbar; mag es ferner arm an positiver Leistung sein, den Glauben an die Allgenügsamkeit einer bloß gesellschaftlichen Kultur hat es schwer erschüttert. Nun aber geht inmitten einer solchen Erschütterung die Arbeit mit ihrer gesellschaftlichen Tendenz unablässig fort, ja sie steigert noch ihren Druck auf das Individuum. So werden wir nach widerstreitenden Richtungen auseinandergetrieben; die gesellschaftliche Kultur beherrscht unsere Arbeit, eine Individualkultur verlangt unsere Seele. Müssen wir uns einer solchen Spaltung wehrlos ergeben, oder läßt sich ihr Widerstand leisten und ein Kampf für irgendeine Einheit des Lebens aufnehmen?


b) Die Probleme der Gegenwart
- Die Unzulänglichkeit einer bloß gesellschaftlichen Kultur -

Die Wendung zur Gesellschaft und zur gesellschaftlichen Kultur hat unser Leben in wesentlich neue Bahnen geleitet. Das Zusammenstreben und Zusammenwirken hat viel sonst schlummernde Kraft erweckt, beim Einzelnen und noch mehr beim Ganzen, es hat uns Waffen geschmiedet gegen die Unvernunft des Daseins, es hat dem in der Vereinzelung leicht verweichlichenden Leben mehr Kraft und Härte gegeben. Zugleich eröffnete die engere Verbindung reiche Quellen moralischer Gesinnung, die Teilnahme für einander wuchs, ein Bewußtsein innerer Solidarität wurde ausgebildet. Die Wissenschaft durchschaut besser das Leben und das Sein der Menschheit, wenn sie es vom Ganzen her, sozialpsychologisch, versteht; dem Handeln aber eröffnen sich weite Aussichten, wenn es den Hebel bei den allgemeinen Verhältnissen ansetzt, sich nicht bloß direkt an die Individuen wendet. War es bei solchen Erfolgen ein Wunder, daß die Hoffnungen und Gedanken die tatsächliche Wirkung weit überflogen, daß was soviel geleistet hatte, alles leisten zu können meinte, daß die gesellschaftliche Lebensführung das ganze Dasein des Menschen zu umspannen, alle seine Wünsche zu befriedigen versuchte? Und wenn das vollbegreiflich ist, wie erklärt sich der rasche Rückschlag, woher kommt es, daß dem freudigen Glauben so bald ein zweifelnder Unglaube entgegentrat, und daß dieser immer mehr Raum gewinnt? Vieles läßt sich darüber sagen, schließlich aber kommt alle Mannigfaltigkeit zurück auf ein Einziges: was immer die menschliche Gemeinschaft an Geistigkeit erzeugt, es hat zur Voraussetzung das Wirken eines selbständigen Geisteslebens; versucht jene nun dieses aus sich selbst hervorzubringen, so wird, was in Wahrheit ursprünglich ist, aus Abgeleitetem erklärt, so entsteht eine starke Verkehrung. Die Irrung im Grundgedanken wird aber im tatsächlichen Aufbau des Lebens viel Verengung und Verzerrung ergeben; ein Sinken des Niveaus wird unvermeidlich, wo auf mühsamen Umwegen erstrebt wird, was nur in direkter Ergreifung sein Wesen zu enthüllen und seine Kraft zu gewinnen vermag. Indem der Mensch sein eigenes Vermögen überspannt, wird das Geistesleben klein; eine solche Kleinheit aber wirkt notwendig zurück auf den Menschen und läßt ihn eben da abnehmen, wo er mit Sicherheit zu wachsen glaubte. Sehen wir, wie sich das näher begründet und ausnimmt.

Was zu einem echten Geistesleben not tut und was in ihm liegt, das hat uns durch den ganzen Verlauf der Arbeit beschäftigt. Es entstand hier eine Wirklichkeit, die das Leben allererst von der bisherigen Leere befreit und ihm einen Inhalt eröffnet; gegenüber dem Reicht der natürlichen Selbsterhaltung erhebt sich eine Welt selbsteigener Werte. Bei dieser Welt wird alle Mannigfaltigkeit von einem Ganzen des Lebens umspannt; dieses Ganze aber ist an jeder einzelnen Stelle unmittelbar gegenwärtig und wirksam; nur so kann es mit seinem eigenen Gehalt die Gesinnung gewinnen, die Kraft bewegen; müßte es durch etwas Andersartiges hindurch wirken, so hätte es sich dessen Natur anzupassen und würde sich damit selbst entfremden. Wirkt es aber als Ganzes an einer einzelnen Stelle, so wird diese ihm innerlich verbunden und gewinnt Anteil an seinen Eigenschaften; so vermag der Mensch, soweit er an der geistigen Bewegung teilnimmt, in ihr sein wahres Selbst zu finden, in ihre Behauptung die Kraft und Glut der Selbsterhaltung hineinzulegen, sein geistiges Selbst ins Unendliche zu erweitern. Indem so die ganze Unendlichkeit und Ewigkeit des Geisteslebens zu einem eigenen Besitz zu werden vermag, entwindet sich der Lebensprozeß aller Bindung an die nächste Umgebung und wird zu einem freien Schweben über ihren Schranken; volle Selbständigkeit und Ursprünglichkeit, Unbekümmertsein um alles, was draußen liegt, Schaffen lediglich aus eigener Notwendigkeit, das alles liegt im Geistesleben und gehört zu seinem glücklichen Fortgang.

Was aber bietet für diese Fragen die gesellschaftliche Gestaltung der Kultur? Sie hält sich an den Menschen des natürlichen Daseins, sie erwartet alle Vergeistigung von einem Zusammenschluß der einzelnen Kräfte; dieser Zusammenschluß aber kann auf dem Boden der bloßen Erfahrung nicht mehr sein als eine Berührung im Nebeneinander, eine Ausbildung von Beziehungen mannigfacher Art, nie und nimmer aber ein innerer Zusammenhang. Wohl gewinnt dabei der Einzelpunkt mannigfache Beziehungen zu Menschen und Dingen und zugleich ein Wachstum des Wirkens, aber das beherrschende Zentrum bleibt immer das natürliche Ich; wie sich daon der Lebensprozeß je ablösen könnte, ist nicht zu ersehen. So gibt es hier kein direktes, kein uneigennütziges Interesse für das Ganze; die Zusammenfügung ist dem Einzelwesen so weit wertvoll, als sie seinem besonderen Wohl dient, genau so weit, aber auch keinen Schritt weiter. Ebensowenig hat diese Lebensordnung irgendeinen Platz für ein selbständiges und ursprüngliches Schaffen. Denn alle Betätigung entzündet sich hier an den Beziehungen nach außen und bleibt streng daran gebunden; alles liegt hier an der Leistung für die Welt um uns; die eigene Innerlichkeit des Menschen ein geistiges Selbst kommt nirgends in Frage, wie auch COMTE konsequent genug war, alle und jede Innerlichkeit zu leugnen, wenigstens solange er auf dem Gebiet der reinen Theorie verbleibt.

Auch kann die Verbindung der einzelnen Kräfte auf diesem Boden nie und nimmer neue, innerlich überlegene Größen gegenüber dem Individualleben erzeugen; so entfallen notwendig die Begriffe des Guten und des Wahren. Der herrschende Wertbegriff ist hier das Nützliche als das, was der natürlichen Selbsterhaltung dient. Bei der Wendung zur Gesellschaft erfährt dieser Begriff eine Erweiterung, neben den Nutzen des Individuums tritt der der Gesellschaft. Aber das ihrer Erhaltung Dienliche bleibt grundverschieden vom Guten, womit eine unpräzise Denkweise es oft zusammenwirft; denn auch bei der weitesten Ausdehnung bleibt das Streben an die natürliche Selbsterhaltung gekettet und vermag keine inneren Güter anzuerkennen. Ebensowenig kann sich hier eine Wahrheit behaupten. Denn nichts anderes kann die äußere Verbindung des individuellen Lebenskreises ergeben, als daß in der gegenseitigen Berührung sich gewisse Gedanken als die verbreiteren und als die stärkeren, d. h. aber auch als die zur Lebenserhaltung nützlicheren, über die anderen hinausheben und sich untereinander verketten, in ihrem Zusammenwirken aber eine gewisse Gemeinschaft des Vorstellungslebens erzeugen. Aber von Wahrheit als einer Überwindung des subjektiven Zustandes und einer Erreichung gegenständlicher Erkenntnis bleibt das alles himmelweit entfernt; jene muß hier als ein bloßes Wahngebilde gelten.

In dieser Weise aber die Grenzen der gesellschaftlichen Kultur abstecken und damit alle Idealität des Lebens preisgeben will keineswegs die Mehrzahl ihrer Anhänger; sie glaubt die Ideale vollauf retten, sie wohl gar noch verstärken zu können. Glauben kann sie das aber nur, indem sie den Individuen von Haus aus eine gewisse Geistigkeit beilegt, sie in einem vorgefundenen Bestand auf das Gute und Wahre gerichtet denkt; das Zusammentreten soll dann diese elementaren Größen verbinden und zum Ganzen einer Geisteswelt vereinen. Aber ein solcher Gedankengang enthält grundverkehrte Vorstellungen sowohl vom Geistesleben wie auch vom Stand des Menschen. So verschwindend das Geistige äußerlich sein mag, in ihm liegt immer etwas wesentlich Neues, das Eintreten einer neuen Stufe der Wirklichkeit; wird dieses Neue scharf erfaßt, so ist seine Anerkennung zugleich die Erkenntnis eines weiten Abstandes der Gesamtlage des Menschen vom Ziel, die Aufdeckung starker Widerstände und harter Konflikte im Inneren der Seele. Ganze Welten sehen wir nunmehr hier zusammentreffen, der Kern des Selbst wirdvon der niederen Stufe festgehalten, unter schwersten Widerständen, vor allem des Menschen selbst, muß das Höhere sich aufringen und leidlich durchsetzen, ohne je aus dem Kampf herauszutreten. So bildet weder das Individuum eine geschlossene und einfache Größe, noch ist eine feste Basis gegeben, auf der die Elemente zusammentreffen und sich zusammenschichten, sondern die Höhenlage selbst ist eine Sache unablässigen Streites, immer wieder greift die Erschütterung in die ersten Anfänge zurück, in ruhelosem Auf- und Abwogen schiebt sich Verschiedenartiges und Verschiedenwertiges wirr durcheinander bis zur Untrennbarkeit. Von der Erfahrung aus gesehen, ist das Ganze ein wüstes Chaos; daß sich daraus automatisch ein Geistes- und Gedankenwelt heraushebt, das wäre ein Wunder größer und unverständlicher als alle Wunder, auf welche sich die Religionen stützen.

Wer diese unfertige und durchaus problematische Geisteslage des Menschen klar durchschaut, der wird über die oft angerufene Summierung der Vernunft in der Gesellschaft seine eigenen Gedanken haben. (7) Diese Lehre sei nicht einfach abgelehnt; oft wenigstens dient sie einem allgemeineren Gedanken, dessen alles Wirken zur Menschheit bedarf. Wir meinen den Glauben an irgendeine Macht der Vernunft im menschlichen Zusammensein, die Überzeugung, daß es eine Berufung von der Zufälligkeit der Individuen und der Enge der Parteien an das Ganze der Menschheit gibt, das Vertrauen auf irgendeinen Sieg des Guten auch innerhalb des menschlichen Kreises. Sonst müßte ja der dem großen Strom Widerstrebende alles Wirken nach außen als zwecklos einstellen. Auch liefert die geschichtliche Erfahrung Zeugnisse genug dafür, daß das Große zum Sieg kam trotz hartnäckigen Widerstandes und energischer Ablehnung durch die vermeintlich Sachverständigen; oft haben die Bauleute den Eckstein verworfen, der schließlich doch seine Aufgabe erfüllte; wer anders aber war es, der dazu verhalf als das größere Ganze, die weiteren Kreise, wie sie minder befangen, minder vom Technischen der Zunft okkupiert, eben damit aber neuen Anregungen zugänglicher, dem Allgemeinmenschlichen geöffneter waren? Aber hat sich ein solches Durchdringen des Wahren, soweit es überhaupt erfolgte, durch eine bloße Summierung menschlicher Meinungen vollzogen? Bedarf es dazu nicht eines geistigen Zwanges, und damit eines Wirkens übermenschlicher Kräfte im menschlichen Kreis? Das wenigstens ist augenscheinlich, wie wenig Gewähr einer absoluten Wahrheit die öffentliche Meinung in ihrem unmittelbaren Dasein enthält. Sehen wir doch alle, wieviel Zufälliges bei ihrer Bildung mitspielt, wie leicht dabei der Schein den Gehalt, die Erregung des Augenblicks die bleibende Wirkung, das Haften an einzelnen Seiten die Sorge um das Ganze zurückdrängt, in welchem Vorteil hier die Lauten und die Flachen sind, wie sich von den mannigfachen Bestrebungen das Mittlere, Leichte, Bequeme am ehesten zu einer vereinten Wirkung zusammenfindet. So erscheint auf diesem Boden leicht mehr eine Summierung der Unvernunft als der Vernunft. Der Zusammenschluß zu Massenwirkungen gibt dem Kleinen die Einbildung des Rechts und der Überlegenheit und läßt es einen tyrannischen Druck gegen das Große üben; wie ein heftiges Unwetter mag es alsdann, nach PLATOs Ausdruck, wüten, gegen das Edlere nicht aufkommen kann. Trotz solcher Erfahrungen den Glauben an irgendeinen Sieg der Vernunft im menschlichen Kreis, an irgendein Durchdringen der Wahrheit sowohl gegen die Urteilslosigkeit des großen Haufens wie gegen die Befangenheit der Zunft aufrechthalten kann nur, wer stillschweigend eine größere Tiefe des Menschenlebens und in ihr das Wirken übermenschlicher Mächte, den Zwang geistiger Notwendigkeiten anerkennt. Die öffentliche Meinung ist unwiderstehlich, wenn sie diese Notwendigkeiten und damit den tieferen Zug der Zeit hinter sich hat, sie besagt und vermag geistig nicht das Mindeste, wenn sie ihm widerspricht; was immer sie für die Wahrheit leistet, das wirkt sie nicht aus sich selbst, sondern aus der Kraft eines Höheren.

Bei der Summierung der Vernunft handelt es sich vornehmlich um die Beurteilung des Großen und Wahren durch das Zusammenwirken der Menschen; die gesellschaftliche Kultur steigert aber die Behauptung weiter dahin, auch die Erzeugung des Großen der Gesamtheit beizulegen und selbst die scheinbar führenden Geister zu bloßen Werkzeugen einer Gesamtbewegung zu machen. Richtig ist darin die Abweisung der älteren supranaturalistischen Ansicht, welche das Große wie ein Wunder in dei Welt hineinfallen ließ; denn in Wahrheit bedaraf auch das Grßte der Vorbereitungen und Zusammenhänge; wie könnte es aufkommen, läge nicht in der Zeit irgedein entsprechendes Verlangen, wie könnte es sich bilden ohne ein enges Verhältnis zur Zeit? So trägt es unvermeidlich die Färbung der Zeit; wäre ein AUGUSTIN möglich zur Zeit KANTs und ein KANT zur Zeit AUGUSTINs, ein GOETHE inmitten der Kreuzzüge? Aber wiederum erfährt eine Wahrheit allgemeinerer Art eine Verengung und Verzerrung, wenn jenes dahin gewandt wird, daß lediglich das Ganze als erzeugende Kraft wirke und das Individuum im Besonderen seiner Art durchaus gleichgültig ist. Es sind zwei Hauptrichtungen, die sich bei dieser Behauptung zusammenfinden: die empiristisch-naturalistische und die pantheistisch-evolutionistische, der Positivismus und die logische Spekulation. Dort erscheint die ganze Bewegung als ein Zusammentreten und Sichanhäufen einzlner Elemente; so bildet auch das scheinbar Überragende lediglich einen merkwürdigen Punkt innerhalb der Verkettung; hätte nicht dieses Individuum das durch den Gesamtlauf geforderte Werk verrichtet, so wäre dafür ein anderes eingetreten. Die Evolutionslehre aber, wie sie ihren großartigsten Ausdruck bei HEGEL gefunden hat, kann bei ihrer Verwandlung der Weltgeschichte in eine Bewegung von Gedankenmassen den großen Persönlichkeiten nur die Aufgabe zuweisen, was die allgemeine Lage an Wahrem enthält, zur deutlichen Aussprache zu bringen; die Besonderheit solcher "Werkzeuge des Weltgeistes" ist durchaus gleichgültig, sie darf ja nicht in das einfließen, was ihre weltgeschichtliche Größe bildet. Zugleicht waltet hier die Überzeugung, "das das Wahre die Natur hat, durchzudringen, wenn seine Zeit gekommen ist und daß es nur erscheint, wenn diese gekommen ist und deswegen nie zu früh erscheint, noch ein unreifes Publikum findet." Eine solche Überzeugung quillt aus der Grundanschauung, daß die Geschichte, geistig angesehen, lediglich eine Entwicklung der Vernunft ist und daß die Vernunft in dieser Entwicklung ihr Wesen hat, in ihr sich völlig erschöpft. Diesem logischen Pantheismus und Optimismus mit seiner Verwandlung der Wirklichkeit in inhaltsleere Größen widerstreb unsere Untersuchung mit dem Ganzen ihres Verlaufs; an dieser Stelle aber ist seine Abweichung vom Befund des Menschenlebens besonders einleuchtend. Denn das nächste Verhältnis des Großen zur Zeit ist das der Losreißung von ihr und der Entwicklung einer völligen Selbständigkeit ihr gegenüber bis zum schroffen Widerspruch; erst nach der Befestigung einer solchen Stellung kann sich eine Wiederanknüpfung finden, die aber den Gegensatz keineswegs aufhebt. Und das Bedeutende am Großen ist nicht, was es mit den anderen teilt, sondern das Individuelle, Unvergleichliche, Unableitbare. Sehen wir doch, wie sich geistiges Leben in der Breite der Kultur ausnimmt! Was hier an Geistigkeit vorliegt, ist untrennbar vermengt mit Andersartigem und Niederem, es hat keine Macht über die Seele des Menschen, sondern erscheint wie ein nebensächlicher Anhang des Lebens, es hat keine scharfe Ausprägung und energische Gestaltung bei sich selbst, so daß es notwendige Konsequenzen nicht entwickelt, härteste Widersprüche ruhig erduldet, sich fertig und groß dünkt inmitten ärgster Unzulänglichkeit, kurz es ist ein Stand der Halbheit, Stumpfheit und Verworrenheit, ein Stand trüben und lastenden Nebels. Um daraus heraus in den gegenteiligen Stand einer frischen Bewegung zu kommen, bedarf es zunächst einer energischen Scheidung, einer sonnenklaren Abhebung des geistigen Schaffens von der menschlichen Lage, dann aber, als der Hauptsache, einer vollen Durchbildung zu einheitlicher und geschlossener Art, deren Ja ein kräftiges Nein in sich trägt und die daher auch unerbittlich auszuschließen vermag. Dazu aber gehört notwendig eine unvergleichliche Individualität. Denn nur mit ihr gelangt das Geistesleben aus dem Schattendasein bloß allgemeiner Prinzipien und Begriffe zu einer vollen Wirklichkeit, nur so erreicht es eine anschauliche Gestalt, die alle vorhandenen Möglichkeiten bis auf eine ausschließt, diese aber mit voller Durchbildung zu zwingender Notwendigkeit erhebt. Nirgends ist eine solche Konkretheit des geistigen Schaffens greifbarer als in der Religion. Denn wer irgendeinen Sinn für das Große am Großen hat, und wer zugleich die Zeiten näher erforscht, der sieht z. B. mit voller Deutlichkeit, daß ein AUGUSTIN und ein LUTHER nicht bloß zusammenfaßten, was die Umgebung an sie heranbrachte, sondern daß sie den Problemen der weltgeschichtlichen Lage eine durchaus eigentümliche Lösung gaben und damit ihre Art zu sehen und zu empfinden ganzen Jahrhunderten zwingend auferlegten, die geschichtliche Bewegung in individuelle Bahnen leiteten. Es war das aber keine brutale Unterjochung, da sich im Individuellen ein charakteristisches Geistesleben verkörperte; eine solche Verkörperung aber kann nur da als eine Gefährdung der Wahrheit erscheinen, wo das Geistesleben selbst als ein Allgemeinbegriff gilt, (8) da es in Wahrheit keine volle Wirklichkeit bilden könnte, ohne eine charakteristische Einheit und in diesem Sinne Individualität zu sein. Immer ist es eine Verdunkelung der charakteristischen Natur des Geisteslebens, welche zur Herabsetzung der Persönlichkeiten führt.

War das Große einmal da, so konnte es alles nur irgendwie Entgegenkommende an sich ziehen, Aufstrebendes verstärken, Zerstreutes verbinden, mit dem allen eine Gesamtbewegung erzeugen. Dem späteren Betrachter kann dabei leicht das Große selbst ein bloßes Ergebnis der Summierung dünken, während es vielmehr die Summierung, wenn dieser Begriff überhaupt hier statthaft ist, seinerseits erst möglich gemacht hat. Denn die Summierung, das Sichzusammenfinden, das der gesellschaftlichen Kultur so leicht scheint, ist in Wahrheit ein überaus schweres Problem. Viel Verschiedenes, ja Widersprechendes kann in einer Zeit liegen und die Summierung nach sehr verschiedener Richtung, auch in sehr abweichener Höhenlage erfolgen; viel Tüchtiges strebt an einzelnen Stellen auf, aber es findet sich nicht zusammen und ist daher für das Ganze wie verloren. Daß die Verbindung der aufstrebenden Kräfte nicht gelingen will, das kann wie ein schwerer Druck auf einer Zeit lasten; ein solcher Druck belastet unsere eigene Zeit. Das eben ist das Werk der Großen, durch eine kräftige Ausprägung einer geistigen Art und mutiges Vorangehen eine Summierung in bestimmter und erhöhender Richtung anzubahnen und durchzusetzen; so waren sie die Herren, nicht die Diener der Zeit. Sprechen wir von einer GOETHE-Zeit, weil die universale und künstlerische Denkweise GOETHEs im Deutschland des 18. Jahrhunderts massenhaft umging, oder weil seine überragende Persönlichkeit Gestalten schuf und Ziele vorhielt, an denen sich minder Ausgeprägtes in die Höhe hob und zugleich zusammenfand?

Die Antwort wird alle einig finden, auch die Anhänger der gesellschaftlichen Kultur. Wenn trotzdem das Ganze ihrer Anschauung die Verbindung als etwas Selbstverständliches betrachtet und zugleich in ihr die Hauptkraft der Bewegung findet, so kommt das daher, daß jene Gesamtanschauung unter dem überwiegenden Einfluß von Gebieten steht, wo ein anderes Verhältnis von Persönlichkeit und Gesamtheit vorliegt. In der Technik z. B. und auch in der exakten Wissenschaft erfolgt oft der Fortschritt durch ein langsames Sichaneinanderreihen und Zusammenschichten der einzelnen Leistungen; der letzte Schritt, der Macht und Ruhm brachte, war oft nur das Endglied einer langen Kette, das notwendige Ergebnis einer allmählichen Entwicklung. Bei einer solchen Lage fordert es die Gerechtigkeit, das Verdienst nicht dem einen Abschließenden, sondern allen Mitarbeitern zuzuerkennen. Aber Gebiete, für die eine solche Ordnung gilt, liegen an der Periperhie des Geisteslebens, in der Berühungsfläche mit der Umgebung; es sind Gebiete, wo Überzeugungen und Gesinnungen nicht Frage kommen, wo die Hauptrichtung des Strebens außer Zweifel steht. Und das ist nun der Grundfehler der gesellschaftlichen Lebensführung, daß sie dieses Peripherische über das Gesamtbild des Geisteslebens entscheiden läßt. Das ergibt eine Kultur, welche die zentralen Fragen, die Fragen der Weltanschauung und der Persönlichkeit, der Kunst und der Religion als Nebensachen behandelt, welche über den Leistungen im Zusammensein die Sorge für das eigene Sein des Menschen zurückstellt, wenn nicht vergißt. Eine solche Kultur kennt keine inneren Probleme und Konflikte des Menschen, kein Ringen um Welten, kein unmittelbares Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen der Wirklichkeit; sie macht damit notwendig das Leben eng und klein. Indem man das menschliche Dasein möglichst von den Weltfragen ablöst, in die soziale Sphäre verlegt und in technisch-praktische Arbeit aufgehen läßt, glaubt man es von den Verwicklungen der Metaphysik zu befreien und auf die sichere Basis der Erfahrung zu stellen; man vergißt aber, daß dem weltüberschauenden Wesen, was doch einmal der Mensch ist und bleibt, mit einer solchen Vertreibung der Weltprobleme ein inneres Verhältnis zu sich selbst genommen wird, und daß er damit unvermeidlich eine wahrhaftige Selbständigkeit und Unabhängigkeit verliert. Denn eine solche läßt sich in keiner Weise durch irgendeine Veranstaltung, etwa durch eine möglichst radikale Verfassung, von außen her beibringen, sie kann sich nur entfalten, wo der Mensch eine Innenwelt besitzt und in ihr Probleme findet, deren Lösung ihm wichtiger und zwingender wird als alle Wirkung nach außen, alle Rücksicht auf die Umgebung. Ein solcher Seelenzustand spricht aus LUTHERs Worten: "Ärgernis hin, Ärgernis her, Not bricht Eisen und hat kein Ärgernis. Ich soll der schwachen Gewissen schonen, sofern es ohne Gefahr meiner Seele geschehen mag. Wo nicht, so soll ich meiner Seele raten, es ärgere sich dann die ganze oder halbe Welt." Heute aber glauben noch immer viele Individuen und ganze Parteien, den Menschen zur Freiheit und Größe zu bilden durch ein möglichst verneinendes Verhalten bei den Welt- und Wesensfragen, durch eine möglichste Zerstörung einer selbständigen Innenwelt!

Derartige Entwicklungen nach der Peripherie hin lassen sich eine Zeit lang ertragen, ein überkommener Lebensbestand liefert stillschweigend eine Ergänzung, man kann für einige Zeit von ererbtem Kapital zehren. Aber schließlich muß sich das Kapital erschöpfen, die Frage der Urerzeugung wird unabweisbar, die großen Probleme verlangen unsere eigene Antwort. Die gesellschaftliche Kultur wollte das Geistesleben auf den bloßen Menschen nicht stellen, ohne ihn auch innerlich zu erhöhen; sie wollte mehr aus der Gesellschaft machen, indem sie ihr die höchsten Güter anvertraute. Aber mit eigenen Mitteln kann sie eine solche Erhöhung nicht erreichen, vielmehr zerstört sie bewußt oder unbewußt die Bedingungen der Größe und kann daher nicht verhindern, daß eine bloße Menschen- und Massenkultur eine echte Geisteskultur weit zurückdrängt. Läßt sich leugnen, daß solche Erfahrungen auch heute deutlich und schmerzlich genug hervortreten? Ja würden wir unsere eine Zeit von innen her und im Ganzen sehen, wie uns hervorragende Historiker frühere Zeiten sehen lassen, so möchte sich ein ebenso packendes wie erschütterndes Schauspiel darbieten. Die Menschheit wollte durch einen engeren Zusammenschluß und eine vollere Entfaltung der Kräfte das Leben erhöhen, sie glaubte sich stark genug, alles Geistesleben selbst zu erzeugen, in rastlosem Wirken wollte sie einen Turm erbauen, der bis an den Himmel reicht. Aber nun erfährt sie bei allen äußeren Triumphen ein inneres Sinken und Kleinwerden, ja sie vermag sich selbst nicht mehr zusammenzufinden, sich selbst zu verstehen, ein innerer Zerfall greift weiter und weiter um sich. Überall Gegensatz und Streit, eine wachsende Leidenschaft, eine Auflösung in Parteien, ein Entschwinden gemeinsamer Ziele und Ideen. So ist, wo wir einig werden wollten, unter einer inneren Ablösung von der großen Welt, eine Sprachverwirrung erfolgt, und wir werden immer weiter in die Zerstreuung und Zerstücklung hineingeraten, wenn es nicht gelingt, dem Leben größere Zusammenhänge und dem Streben feste Pole zu erringen.


- Die Unzulänglichkeit einer bloßen Individualkultur -

Die Gegenbewegung gegen die gesellschaftliche Kultur, welche das moderne Individuum unternahm, entsprang zunächst weniger einer Sorge um den Geistesgehalt des Lebens, als sie eine Abwehr der Schädigungen war, womit das Vordringen jener Kultur das Individuum bedrohte; doch standen tiefere Probleme dabei im Hintergrund und wirkten zur Verschärfung des Gegensatzes. - Die gesellschaftliche Kultur behandelt das Individuum als ein Stück ihres großen Räderwerks, sie schätzt es nur nach seinen Leistungen, sie muß es für ihre Zwecke vielfach beengen und beschränken. Dazu wirkt sie mit ihren zahlreichen Verzahnungen und Durchkreuzungen der Elemente, mit ihrer Anhäufung von Massen, ihrem lauten und fabrikmäßigen Getriebe übermächtig zur Unterdrückung und Abschleifung der individuellen Züge, sie gestattet keine stille Ruhe zur Ausbildung einer eigentümlichen Art, sie macht die Menschen gleichartiger, sie erzeugt gewisse Durchschnitte, die sich leicht selbst zum Maßstab für Gut und Böse, für Wahr und Unwahr machen. Gegen eine solche Bindung und Gleichmachung erhebt sich schließlich das Individuum kräftigerer Art und macht geltend, daß der Mensch keineswegs in das Verhältnis zur gesellschaftlichen Umgebung aufgeht, daß vielmehr das Beste an ihm: die Einheit und die Innerlichkeit des Lebens, jenseits jenes Verhältnisses liegt. Und das der Gestaltung des geistigen Lebens zuwendende, kann es das Zeugnis der Weltgeschichte dafür anrufen, daß alle vorwiegend gesellschaftliche Gestaltung der Kultur eine Veräußerlichung und Mechanisierung mit sich brachte, und daß es keineswegs bloß ein trotziges Selbstgefühl der Individuen, sondern das unabweisbare Verlangen nach mehr Innerlichkeit des Lebens war, was einen Bruch damit herbeiführte. Ist es nicht namentlich auf dem Gebiet der Religion sonnenklar, daß ihre gesellschaftliche Gestaltung zur Kirche unvermeidlich die Tendenz mit sich bringt, die Leistung (Gottesdienst, fromme Werke, korrekte Bekenntnisse) vor die Gesinnung, vor das persönliche Leben, vor das Beisichselbstsein einer Unendlichkeit des Inneren zu stellen, daß daher das eigenste Interesse der Religion selbst immer von neuem zu einem Kampf gegen die Kirche zwang? (9) Zu einer solchen Verflechtung der Selbständigkeit des Individuums gesellt sich ein energischer Protest gegen die gleichförmige und schablonenhafte Gestaltung der Kultur, womit die Gesellschaft das Leben bedroht. Sind die Durchschnitte, die dabei herauskommen, nicht recht geringer Art, und führen sie nicht leicht zur Festlegung des Lebens auf einer nicht erheblichen Mittelhöhe? Sind nicht in Wahrheit geistige Kraft und edle Gesinnung selten, und bedürfen sie nicht zu ihrer Ausbildung voller Freiheit, zu einer Wirkung auf das Ganze aber einer deutlichen Ausprägung und sicheren Befestigung in kleinen Kreisen einer engeren Jüngerschar? So gab es keinen wesentlichen Fortschritt der Kultur ohne eine Scheidung der Menschheit, das Höhere mußte wie vorausgeworfen werden, um das übrige irgendwie nach sich ziehen zu können, eine Feuersäule mußte dem großen Haufen voranleuchten und ihm den Weg durch die Wüste zeigen. Trotz aller Bedenken und Proteste ist immer wieder ein Gegensatz esoterischer und exoterischer Lebensführung entstanden, auch die radikalste politische Verfassung hat die Bildung schroffer sozialer Unterschiede nicht verhindern können, ja bis in die Äußerlichkeiten des Anstandes und der Sitte ist, wie einmal die Menschen sind, der Ehrgeiz, es den Besseren gleichzutun, eine unentbehrliche Triebkraft der Bewegung. Und bleibt nicht für jeden Einzelnen alle geistige Tätigkeit matt und wie von außen angeweht, wenn sie sich nicht mit seiner individuellen Art verbindet und damit selbst individuelle Züge annimmt, wenn er bei ihr nicht um sein eigenes Wesen kämpft? Bilden heißt scheiden, differenzieren, individualisieren; so war überall die Scheidung das unentbehrliche Mittel der Bewegung und des Fortschritts.

Aus solchen Erwägungen gehen die Individuen bald von der Abwehr zum Angrif vor und rücken der gesellschaftlichen Kultur ihre Schranken mit voller Deutlichkeit vor Augen. Der Mensch, als denkendes Wesen, hat ein unmittelbares Verhältnis zur Wirklichkeit oder kann es doch haben, er ist kein bloßes Glied einer Verkettung, sondern er kann sich der Unendlichkeit direkt gegenüberstellen und mit ihr ringen, er wird der Enge der bloßen Zuständlichkeit bewußt und kann von ihr zur eigenen Wahrheit streben, damit aber sich selbst zu einem Weltwesen erweitern. Gewiß findet das Hemmungen über Hemmungen, aber schon als Streben erweist es eine Überlegenheit des Menschen über den Kreis der bloßen Gesellschaft. Ist es nun nicht ein Widersinn, einem solchen Wesen das Geistesleben erst durch die Gesellschaft vermitteln und es dabei an das Maß dessen binden zu wollen, was der Zusammenschluß der Kräfte an Geistigkeit erreicht? Soll das Wesen, das aus seinem Grundverhältnis zur Geisteswelt einen unendlichen Wert besitzt, sich seinen Wert erst von menschlicher Schätzung verleihen lassen, soll es von Gnaden der Menschen leben und damit alle Unabhängigkeit der Gesinnung einbüßen? Soll der Mensch sich einer Wahrheit, ja einer geistigen Existenz erst froh und sicher fühlen, nachdem die Gesellschaft sie ihm mit Brief und Siegel verbürgt hat? Soll die Urerzeugung geistiger Güter, wenn nicht auf dem Markt des Lebens, so doch für diesen erfolgen, und sollen damit jene Güter zu bloßen Marktwaren herabsinken? Wir meinen, daß diese Frage stellen sie auch beantworten heißt.

In all dem erscheint das Individuum, d. h. das von geistiger Bewegung erfüllte Individuum, als der Vertreter der Geisteskultur gegenüber einer bloßen Menschenkultur, einer inneren Unendlichkeit gegen alle äußere Begrenzung, es erscheint als die der Verflachung widerstehende, aus der Erstarrung aufrüttelnde, hohe Ziele vorhaltende, das menschliche Streben immer neu auf seine wahren Grundlagen zurückführende Kraft. Und wenn eine solche Schätzung des geistestätigen Individuums notwendig eine Abhebung vom gesellschaftlichen Durchschnitt mit sich bringt, so wird sie auch die diesem Durchschnitt innewohnende Unduldsamkeit gegen alles nur irgendwie Überragende energisch abweisen. Es gibt einmal einen ordinären Neid und Haß des Mittelmäßigen gegen das Größere als gegen eine Überschreitung und Herabsetzung der eigenen kleinen Existenz; dieses Größere wird höchstens leidlich geduldet, wenn es sich bescheiden duckt, für sein Dasein höflich um Entschuldigung bittet, alle Äußerung des Kraftgefühls behutsam unterdrückt. Nahe verwandt ist dem das Subsumieren des Verschiedenartigsten und Verschiedenwertigsten unter die gleichen Begriffe, das Operieren mit nichtssagenden Durchschnittskategorien von Lob und Tadel, jene stumpfe Art, die keine energische Liebe und keinen energischen Haß kennt, die Licht und Dunkel in einen grauen Nebel zusammenrinnen läßt. Demgegenüber zur Kräftigung des Empfindens, zur Schärfung des Urteils, zur Scheidung der Geister zu wirken, das ist nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht des Individuums.

Bei dem allen beruth aber die Überlegenheit des Individuums darauf, daß es eine Geisteswelt hinter sich hat und aus ihrer Kraft schöpft. Dies aber ist keineswegs die Meinung des modernen Invidualismus. Er stellt das Individuum gänzlich auf sein unmittelbares Dasein und heißt es von da aus alle Kultur aufbauen; er entwickelt eine besondere Energie in dem Bestreben, alle unsichtbaren Zusammenhänge zu lockern, nicht nur die Bindung an Menschen, sondern auch die an eine Geisteswelt aufzulösen. Dann verbleibt ihm nichts anderes als der unmittelbare seelische Zustand, das subjektive Befinden; dies muß ihm zum Kern des ganzen Lebens werden, der Individualismus verschmilzt mit dem Subjektivismus. Augenscheinlich vermag sich von da aus eine eigentümliche Wirklichkeit zu entwickeln. Jene Zuständlichkeit läßt sich fixieren, festhalten, steigern; nichts hindert hier die Ausbildung des Eigentümlichen, nichts das Aufquellen immer neuen Lebens, eine unablässige Veränderung. So eine große Leichtheit, Frische, Flüssigkeit, das Leben scheint hier ganz bei sich selbst, abgelöst von aller Bindung nach außen, feiner, zarter, intimer als irgendwo sonst. Auch der Begrif der Wahrheit verliert hier die sonstige Schwere und Starrheit. Denn als wahr gilt nunmehr nur das, was die Seele des Einzelnen empfindet und was sie eben jetzt empfindet; so weicht der Begriff einer einzigen Wahrheit dem unzähliger Wahrheiten, jeder hat hier seine eigene Wahrheit. Eine besondere Freude und Bewußtheit gibt dem der Kontrast zur Gesellschaft, deren Einrichtungen und Anordnungen so oft der unmittelbaren Empfindung des Individuums widerstreiten; so heißt es dann, dem gegenüber das Leben stets in frischem Fluß zu halten, das Eigentümliche möglichst zu stärken und deutlich hervorkehren.

Das alles hätte aber den Stand formloser Erregung und unklarer Bewegung nicht überschritten ohne irgendeine Umsetzung in geistige Arbeit; es fand eine solche Umsetzung durch die Wendung zur Literatur und Kunst. Die Kunst in ihrer mannigfachen Verzweigung wird hier das Hauptmittel, das sonst unstet wogende und wallende Leben irgendwie zu fassen und zu befestigen, durch die Fassung aber es zu verstärken, es bei sich selbst voll durchzubilden und nach außen hin unabhängig zu machen. Konzentration des Lebens in sich selbst und Steigerung seiner Energie, das wird damit die Hauptaufgabe der Kunst. Sie wird die Seele einer individuell-aristokratischen Kultur, die sich als die vornehmere einer praktisch-sozialen weit überlegen fühlt; die Kunst kann das werden, weil sie selbst ber aller bloßen Zweckmäßigkeit liegt, den Menschen am meisten auf sein individuelles Vermögen stellt, vornehmlich aber, weil sie aus aller Verworrenheit und Vergriffenheit des Durchschnittslebens die einfachen und ewigen Grundzüge menschlichen Seins herauszusehen, Niealterndes in ihm zu ergreifen und es damit aus aller Erstarrung im Konventionellen aufzurütteln vermag.

Leicht überträgt sich dann eine solche Abstufung des Lebens auf das Bewußtsein der Individuen und gerät dabei rasch auf eine abschüssige Bahn. Nicht nur, wer an der neuen Art mit eigenem Wirken teilnimmt, sondern auch, wer sich bloß dazu bekennt, glaubt sich schon dadurch der übrigen Menschheit und der gesellschaftlichen Kultur weit überlegen; es entsteht eine Neigung, den Abstand hervorzukehren, das Gegenteil des Landläufigen zu tun, sich in einer Verstärkung der Absonderung groß zu fühlen. Und zugleich greift der Anspruch um sich, unbekümmert um alles, was da gilt, um Sitte und Gesetz, die eigene Art nach freiem Belieben und Gefallen zu entfalten, sich rücksichtslos "auszuleben". Das alles ist keineswegs die Absicht der Individualkultur, aber eine unter menschlichen Verhältnissen schwer vermeidliche Folge.

Derartige subjektivistische Strebungen und Stimmungen haben bekanntlich in der neuesten Gestaltung des Lebens eine weite Ausdehnung gewonnen. Neu ist dabei freilich nur der Name, die Sache ist alt, uralt. Denn wie in periodischer Wiederkehr sind immer wieder Lagen gekommen, wo das unmittelbare Lebensgefühlt von der dargebotenen Kultur nicht befriedigt und nun als das nächste Heilmittel die absolute Emanzipation des Individuums verkündet wurde, wo seine unmittelbare Empfindung, sein selbstgefundenes Urteil, sein künstlerischer Geschmack eine Wendung zum Besseren bringen sollte. Wer PLATOs  Gorgias  kennt, kennt auch die nahe Verwandtschaft der Sophisten mit den heutigen Subjektivisten; in Deutschland brachte zuerst die Geniezeit, diese Vorläuferin der klassischen Literaturepoche, eine derartige Emanzipation des Individuums; damals waren "Genie", "Kraftgenie", "Originalgenie" Modewörter wie heute "Übermensch"; auch "schöne Seele" steht in einer Verwandtschaft mit dieser Bewegung (10) Dann erschien eine neue Welle in der Romantik, deren nahe Verwandtschaft mit dem ästhetischen Subjektivismus der Gegenwart deutlich zutage liegt.

Was sollen wir nun von dem Ganzen denken, wie über das Ganze urteilen? Es ist schwer hier gerecht zu sein, weil es sich offenbar um eine Übergangserscheinung handelt, die umso mehr Sinn und Recht hat, je mehr sie sich weiteren Zusammenhängen einfügt und über sich selbst hinausweist, die umso mehr ins Unrecht gerät, je mehr sie sich bei sich festlegt und in sich selbst einspinnt. Dazu verhindert hier die Verpönung aller bindenden Nomen alle scharfe Scheidung zwischen Höherem und Niederem, zwischen geistiger Notwendigkeit und menschlicher Willkür; bunt wirbelt Besseres und Schlechteres, Edles und Gemeines durcheinander; kaum vermeidlich ist die Gefahr, in Anerkennung des Höheren nachgiebig gegen das Niedere, in Abwehr des Niederen ungerecht gegen das Höhere zu werden. Trotzdem läßt sich auf den Versuch eines Gesamturteils unmöglich verzichten.

Waru ist eine auf das bloße Individuum und seine Zuständlichkeit gestellte Kultur unzulänglich? Aus zwei Hauptgründen:
    1. weil das Individuum des unmittelbaren Daseins - und das allein steht hier in Frage - weder unabhängig noch selbstgenügsam ist,

    2. weil das von ihm entwickelte Leben umso leere und hohler wird, je konsequenter es die Grundbehauptung durchführt.
Das empirische Individuum ist in Wahrheit eher alles andere als unabhängig, denn Vererbung, Umgebung, Erziehung bedingen es nicht nur auf das Mannigfachste, sie scheinen es ganz von sich aus zu gestalten; so dicht ist das von ihnen geflochtene Netz, daß ihm weder List noch Gewalt entrinnen kann. Und sicherlich reicht diese Bindung auch in jenes Innerste der Seele, das der Individualismus für völlig freischwebend erklärt. Oder ist es deshalb schon frei, weil der unmittelbare Eindruck keine Bindung empfindet? Bleibt nicht der Individualist, auch wenn er sich keck der Welt entgegenwirft und völlig von ihr abgelöst scheint, im Schatten und Bannkreis dieser Welt? Ist seine vermeintliche Unabhängigkeit nicht nur eine andere Art der Abhängigkeit, eine indirekte Abhängigkeit? Der Individualist sagt das Gegenteil dessen, was die Umgebung sagt; so ist es dies, welche ihm die Richtung vorschreibt; die Kette ist etwas gelockert, aber nicht gelöst. Der Individualist fühlt sich weit höher als die Umgebung, aber den Abstand ermessen und genießen kann er nur, sofern er die anderen im Auge behält; so bleibt er auch hier an sie gebunden. Er sonnt sich im stolzen Gefühl der Unabhängigkeit, aber zu einer starken Belebung gelangt dieses Gefühl nur, indem er die anderen als Zuschauer und Bewunderer einer solchen Größe denkt. Das Leben kommt also nicht zu einem festen Ruhen und freudigen Schaffen bei sich selbst, zu einem Getriebenwerden durch seine eigenen Notwendigkeiten; es kann auch nicht dazu kommen, weil es keine Innenwelt besitzt, keine großen Aufgaben in sich trägt, nie die bloße Zuständlichkeit durchbricht. Daher kann es die Beziehung zum Menschen nie aufgeben, so muß es vom Kontrast leben, vom Kontrast zehren, so überwindet es nie den Stand der inneren Abhängigkeit.

Auch gerät bei einer solchen Wendung das Bewußtsein der Größe in Gefahr, einen Zusatz von Eitelkeit in sich aufzunehmen, und das gute Recht des Individuums verquickt sich leicht mit Verkehrtem. Starke Unterschiede des Lebens und Seins sind da, der Grad der Belebung der Geistigkeit zeigt weiteste Abstände, die ordinäre Gleichmacherei, deren Stumpfheit alles zusammenwirft, kann nicht energisch genug abgewiesen werden. Auch sei ja nicht die Individualität irgendwie verdunkelt und abgeschwächt. Denn sie ist dem geistigen Schaffen zu seiner vollen Wahrheit und Durchbildung unentbehrlich; gelangt es nicht auf den Punkt seiner eigentümlichen Stärke, wo es lediglich seiner eigenen Natur folgt, so wird es der Widerstände nie Herr werden. Aber in all dem muß eine willkürüberlegene Notwendigkeit des Lebensprozesses walten, ein geistiger Zwang den Menschen treiben und leiten; nur dann verbleibt die Sache gesund und wahr. Sie verfällt sofort ins Künstliche und Ungesunde, wenn das Individuum darauf ausgeht, sich möglichst an jeder Stelle individuell und groß zu zeigen, wenn es den Abstand geflissentlich hervorkehrt, wenn es gar zur Sache reflektierenden Genusses macht, was in reiner Hingebung und selbstloser Liebe ergriffen und ausgeführt sein will. Jedes Zurücktreten hinter die Sache, jedes Aufkommen eitler Selbstbespiegelung schwächt die geistige Kraft, lockert den Zusammenhang mit den inneren Notwendigkeiten, an dem alles Gelingen liegt.

Nun wäre es ein bitteres Unrecht, zu verkennen, daß unter der Fahne des modernen Individualismus vieles kämpft und schafft, was einem solchen reflektierenden Subjektivismus mit seinem epikureischen Selbstgenuß weit überlegen ist; namentlich läßt sich der Ernst und der Eifer der modernen bildenden Kunst, sowie die unverkennbare Größe ihre Leistung unmöglich aus einem bloßen Mehrseinwollen, einem bloßen Sichbesserfühlen erklären. Vielmehr wirken hier neue sachliche Aufgaben, frische Antriebe des Schaffens, welche der Wirklichkeit neue Seiten abgewinnen, ein innerliches Verhältnis zu ihr eröffnen. Aber je bedeutender hier die Arbeit, desto mehr erfolgt in ihr eine Versetzung in innere Zusammenhänge und Notwendigkeiten, eine Unterwerfung des Schaffens unter eine überlegene Wahrheit, eine Erhebung über den bloßen Subjektivismus und Indiviualismus. Unvermerkt verschiebt sich hier der Begriff des Individuums: aus einem Individuum gegenüber der Geisteswelt wird ein Individuum mit der Geisteswelt; einem solchen aber kann der heutige Sturm und Drang nur als ein Übergang zu einer höheren Stufe der Wahrheit gelten.

Ähnlich bewahrt auch bei der Frage des Lebensinhalts den absoluten Individualismus und Subjektivismus nur eine unablässige Ergänzung vor einer unerträglichen Leere. Streng genommen, muß er die Seele in lauter einzelne Vorgänge, schließlich in bloße Stimmungen auflösen, die in rascher Flucht einander jagen und verdrängen. Da jeder Augenblick genausoviel Recht hat wie der andere, so hätte jeder seine eigene Wahrheit; das mag zunächst als ein reiner Gewinn erscheinen, rasch verwandelt es sich in einen schweren Verlust. Ja, wenn das menschliche Leben gänzlich in lauter einzelne Augenblicke aufginge! Aber das tut es eben nicht. Die Augenblicke mit ihren Erlebnissen versinken nicht endgültig, sie kehren zurück, sie stellen sich uns vor die Seele; so muß der Mensch sie vergleichen, sie zu verbinden suchen, sie irgendwie messen; er erscheint damit als etwas den bloßen Augenblicken Überlegenes. Und so muß er auch das Unwahrwerden dessen erleben, was ihm heute als wahr galt, so empfindet er die Flüchtigkeit und Nichtigkeit des ganzen Getriebes, so überzeugt er sich, daß eine Wahrheit für gestern oder heute überhaupt keine Wahrheit ist, daß sein Leben also alle Wahrheit verliert, wenn es sich nicht über die bloßen Augenblicke zu erheben vermag. Zu einer solchen Erhebung aber bietet der bloße Individualismus nicht die mindeste Handhabe. So sehen wir es auch im Gesamtbild des Zeitlebens. Gibt es etwa, das mehr ermüdet und tiefer niederdrückt, als der unablässige Umschlag der Meinungen und Stimmungen, das eifrige Verketzern dessen, was eben noch begeistert verehrt wurde, die Herabsetung aller geistigen Bewegung zu einer Sache bloßer Laune und Mode?

Der Individualismus möchte dem menschlichen Leben zur vollen Entwicklung seiner Kraft verhelfen und ihm möglichst den Charakter der Größe geben. Das ist ein Streben, das wir vollauf zu verstehen und würdigen wissen. Steht der Mensch an einem Wendepunkt des Weltlebens, beginnt in ihm eine höhere Stufe der Wirklichkeit durchzubrechen, so gilt es dieses Höhere zu ergreifen und gegen allen Widerspruch des Alltags durchzusetzen, selbst aber, um mit MARK AUREL zu sprechen, wie auf einem Berg leben. So hat sich dann von alters her, wo immer der Abstand zwischen den Forderungen des Geisteslebens und der Durchschnittslage der Menschheit zur deutlichen Empfindung gelangte, mit zwingender Notwendigkeit der Gedanke einer höheren Art des Lebens, einer inneren Größe des Menschen entwickelt; er läßt sich von der Höhe der griechischen Kultur durch mannigfaltigste Wandlungen hindurch bis zur Gegenwart verfolgen. (11) Aber wird der moderne Individualismus zu einer wahrhaftigen Größe gelangen können, wenn er alle inneren Zusammenhänge und damit alle Möglichkeit einer Erweiterung des Menschen zu einem Weltweisen aufgibt? Es gibt kaum einen härteren Widerspruch, als den Menschen zu einer überlegenen Innerlichkeit führen zu wollen und zugleich eine selbständige Innenwelt scharf und erbittert zu bekämpfen. Mag der heutige Stand der Religion, die ja an erster Stelle jene selbständige Innenwelt vertritt, unerfreulich genug sein, wir sollten doch als freie Menschen unsere Begriffe und Überzeugungen von den höchsten Dingen nicht nach dem bilden, was die Umgebung uns zuführt, sondern nach dem, was die Notwendigkeit des eigenen Lebens verlangt. Ohne eine Umkehrung der ersten Lage, ohne Metaphysik keine selbständige Innenwelt, keine wahrhafte Größe des Lebens. Wo immer daher aus dem Wirbel des modernen Lebens Gestalten merklich hervorragen, da ist eine Wandlung zur Metaphysik mit im Spiel. So z. B. bei NIETZSCHE. In seinen Begriffen hat er alle Metaphysik nachdrücklichst bekämpft, in seinen Stimmungen wirkt eine ganz andere Welt als die des nächsten Anblicks, und eben als künstlerischer Bildner dieser Welt, als Metaphysiker der Stimmung, hat er die hinreißende Gewalt über die Gemüter gewonnen. Ähnlich aber geht es der gesamten modernen Strömung zur Romantik. Daß aber die bloße Stimmung nicht ausreicht, die Größe gegenüber den ungeheuren Widerständen der nächsten Wirklichkeit, vor allem gegenüber den Verwicklungen im eigenen Wesen zu befestigen und durchzusetzen, darüber sei kein Wort verloren.

Nicht anders steht es mit dem Verlangen nach Kraft. Ja gerade heute bedürfen wir gegenüber schweren Verwicklungen und großen Aufgaben des Gesamtlebens viel Kraft, mehr Kraft, als die bloßgesellschaftliche Kultur zu bereiten vermag. Aber durch ein bloß subjektives Sichemporheben, ein Sicheinreden der Kraft, ein Sichdistanzieren von den anderen Menschen kommen wir nie und nimmer zu wahrhaftiger Kraft. Diese hat zur Voraussetzung die innere Gegenwart einer selbständigen Geisteswelt, ein Schöpfen aus ihrer Unendlichkeit, ein Bezwungenwerden des Menschen von ihren Notwendigkeiten, ein Getragen- und Gehobenwerden von ihrer Macht über alles Bloßmenschliche hinaus. Eine derartige Erhebung des Menschen zur Kraft ist völlig gesichert vor allem Übermut und allem Eigendünkel; hier gilt das Wort ECKHARTs: "Die höchste Hoheit der Höhe liegt im tiefsten Grund der Demut; je tiefer der Grund, desto höher auch die Höhe; die Höhe und die Tiefe sind eins."

Unser Gesamturteil über den modernen Individualismus ist also das: ist er mehr als eine Reaktion gegen eine bloßgesellschaftliche Kultur, so steht er im Dienst einer geistigen Erneuerung des Lebens und muß dann auch weitere Zusammenhänge anerkennen; legt er sich beim bloßen Subjekt fest, so wirkt er zur Zerstückelung und Verflüchtigung des Lebens, so bindet er uns an eben die bloße Menschenkultur, der er so gern entrinnen möchte.


- Die Notwendigkeit einer inneren Überwindung
des Gegensatzes -

Wenn weder die bloß gesellschaftliche noch die individualistische Kultur den Aufgaben gewachsen ist, und wenn zugleich außer Zweifel steht, daß nur eine klägliche Stumpfheit einen direkten Kompromiß beider versuchen, das Leben zwischen hier und dort verteilen kann, so ist seine innere Überlegenheit über den Gegensatz klar. Individuum und Gesellschaft sind notwendige Mittel und Erscheinungsweise des Geisteslebens, es bedarf zu seiner Ursprünglichkeit der Individuen, zu seiner Befestigung der Gesellschaft; Individuum und Gesellschaft aber ziehen ihre Kraft und Wahrheit nicht aus sich selbst, sondern aus den geistigen Zusammenhängen, denen sie dienen. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wird sich auf dem Boden der Geschichte verschieden gestalten; die Gesellschaft hat den Zug des Lebens für sich, wo es nach Auflösungen und Erschütterungen vor allem einer Befestigung bedarf, wie z. B. gegen Ausgang des Altertums. Was damals auch die kräftigsten Individuen zwingend zur Anlehnung an die Gemeinschaft trieb, das stellt uns namentlich AUGUSTIN klar vor Augen. Die Bewegung zum Individuum erhält dagegen das Übergewicht, wo frisch aufstrebende Kräfte die überkommenen Ordnungen als zu eng und starr empfinden und sich in einer Befreiung von ihnen neue Bahnen zu suchen haben. Das war die Hauptwoge der Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert hinein. Daß dann ein Rückschlag kam, und daß in der Gegenwart sowohl die Gesellschaft wie auch das Individuum eine Verstärkung verlangt, daß eine praktisch-soziale und eine künstlerisch-individuale Art um den Menschen kämpfen, das zeigt mit besonderer Deutlichkeit die innere Zerklüftung unserer Zeit, das muß aber zugleich als ein starker Antrieb zur Erhebung über jenen Gegensatz, zur Wendung von einer bloßen Menschenkultur zu einer Geistes- und Wesenskultur wirken. Nur durch ein inneres Vordringen des Lebens läßt sich jener Zerklüftung begegnen; denn was überall von den echten Problemen, das gilt besonders hier, daß nicht Meinungen gegen Meinungen, sondern Lebensentfaltungen gegen Lebensentfaltungen stehen.
LITERATUR: Rudolf Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart, Leipzig 1904
    Anmerkungen
    1) Zum Beispiel findet JHERING (Der Zweck im Recht II, Seite 439) bei der ästhetischen Gestaltung des gemeinsamen Mahles einen höchst beachtenswerten Fortschritt der modernen Zeit gegenüber der Vergangenheit in der "Erhebung vom Kommunismus zum Individualismus". Während früher die Geräte der Tischgenossen gemeinsam waren, erhält sie heute jeder für sich allein zum ausschließlichen Gebrauch.
    2) Bezeichnend dafür sind die Worte FRIEDRICH SCHLEGELs: "Nicht in die politische Welt verschleudere du Glauben und Liebe, aber in der göttlichen Welt der Wissenschaft und der Kunst opfere dein Innerstes in den heiligenn Feuerstrom ewiger Bildung."
    3) Namentlich PESTALOZZI verficht mit großer Energie die Überlegenheit des Individuellen gegen das bloß Kollektive, er spottet über "Kollektivhandlungen", über ein "Kollektivgewissen", über "Regimentsbekenntnisse" und meint: "Die kollektive Existenz unseres Geschlechts kann dasselbe nur zivilisieren, sie kann es nicht kultivieren". (Werke IV, Seite 254)
    4)  Milieu  in präziser Zuspitzung dürfte zuerst von LAMARCK in seiner "Philosophie zoologique" verwandt sein; dann hat COMTE es von der Zoologie der Gesellschaftslehre zugeführt, TAINE aber hat es hier mit besonderer Vorliebe verwandt. Erst von ihm aus ist es in Deutschland zu einem Modewort geworden.
    5) Hierfür sei namentlich QUETELETs "Anthropométrie" erwähnt.
    6) Der Gedanke der Gleichheit samt dem des gleichen Wertes und Rechts aller Menschen hat ältere Wurzeln, zur vollen Entwicklung aber ist er erst in den letzten Jahrhunderten gelangt. Dem klassischen Altertum ist er durchaus fremd, und auch was sich zu seinen Gunsten im späteren Altertum regte, konnte gegen die tatsächlichen Unterschiede der Menschen nicht aufkommen. Die Wurzel der Gleichheitsidee liegt in der Religion, für uns speziell im Christentum. Es war das Verhältnis zu Gott, in dem alle Abstände der Menschen verschwanden, es war die Unendlichkeitsidee, der gegenüber alle endlichen Unterschiede gleichgültig wurden. Aber Konsequenzen wurden daraus zunächst wenige entwickelt, und in der weiteren Geschichte des Christentums trat der Gedanke des allgemeinen Priestertums weit zurück hinter dem der Hierarchie. Was von einzelnen verketzerten Nebenströmungen im Mittelalter mühsam genug aufrecht erhalten war, das gelangte in der Reformation zu einem volleren Durchbruch, und es war namentlich ihr calvinistischer Zweig, der daraus energische Folgerungen für die Gestaltung des Gemeindelebens zog. Von hier aus fand sich auch der Übergang in das politische Gebiet: unter CROMWELL zuerst enthält ein Verfassungsentwurf das Verlangen des allgemeinen Stimmrechts (1647). Weiter wirkt dann für die Idee der Gleichheit die Aufklärung mit ihrer Berufung auf die allen Menschen gleichmäßig innewohnende Vernunft. So sagt z. B. DESCARTES (de methode, zu Anfang): Das Vermögen richtig zu urteilen und das Wahre vom Falschen zu scheiden ist bei allen Menschen von Natur aus gleich. ROUSSEAU hat endlich mit besonderer Energie den Gedanken der Gleichheit ins allgemeine Leben geworfen. Die Formel von der "Gleichheit all dessen, was Menschengesicht trägt", hat FICHTE aufgebracht. Im 18. Jahrhundert erfolgt auch die Zusammenstellung von Freiheit und Gleichheit und zwar wohl zuerst für das Gebiet des geselligen Verkehrs. So sagt z. B. schon MONTESQUIEU in seinen Persischen Briefen (erschienen zuerst 1721), Buch II: In Paris regieren Freiheit und Gleichheit.
    7) Prinzipiell verfochten hat diese Lehre bekanntlich zuerst ARISTOTELES (Politik 1281B, 8, 34). Die Gesamtheit scheint ihm befähigter zu politischem wie zu künstlerischem Urteil als die Individuen, weil der eine dies, der andere jenes besser beurteilt, im Zusammentreten aber ein gewisser Ausgleich erfolgt; auch scheint ihm das Ganze freier von Zorn und anderen Affekten als die Individuen. Dabei denkt aber ARISTOTELES immer an den begrenzten Kreis eines Stadtstaates, den gemeinsame Traditionen und Ordnungen auch innerlich zusammenhalten, nicht an jede beliebige und unübersehbare Masse.
    8) Nur für eine solche Fassung gilt SPINOZAs Wort:  omnis determinatio est negatio  [Alle Bestimmung ist Verneinung, Begrenzung. - wp]
    9) Hier liegt die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit eines freieren, eines reinreligiösen Katholizismus, dessen einzelne Vertreter so sehr sympathisch berühren. Man will eine reine Innerlichkeit, aber man will zugleich eine Anlehnung an ein festgegründetes System. Aber eine Innerlichkeit, die ihre Richtschnur draußen hat, der die Art ihrer Äußerung genau vorgeschrieben wird, ist keine volle Innerlichkeit; zu einer solchen gehört notwendig ein selbständiges Gestalten des gesamten Lebens vom Standort der Geisteswelt. Die Gefahren dessen sehen auch wir, aber wo gibt es in unserem unfertigen Menschenleben große Dinge, die ohne Gefahr erreichbar wären?
    10) Über das Aufkommen und die Schicksale des Audrucks  Genie  handelt in mustergültiger und erschöpfender Weise HILDEBRAND in GRIMMs deutschem Wörterbuch. So sei hier nur eine Stelle aus dem kürzlich veröffentlichten Briefwechsel zwischen GOETHE und LAVATER angeführt, die für die schärfere Abgrenzung von "Genie" gegenüber "Talent" wichtig ist. GOETHE schreibt (Schriften der Goethe-Gesellschaft, Bd. 16, Seite 125) am 24. Juli 1780: "Bei Gelegenheit von WIELANDs  Oberon  brauchst du das Wort Talent, als wenn es der Gegensatz von Genie wäre, wo nicht gar, doch etwas sehr subordiniertes. Wir sollten aber bedenken, daß das eigentliche Talent nichts sein kann als die Sprache des Genies." LAVATER antwortet darauf (am 5. August 1780) mit einer längeren Auseinandersetzung über den Unterschied von Talent und Genie (Seite 130f), woraus nur folgendes angeführt sein mag: "Nur  ein  Wort von Talent und Genie. Zwei Worte, die ihrem Sinn und Gehalt nach ungefähr so verschieden sein mögen wie  schön  und  erhaben.  Talent, mein' ich, macht mit Leichtigkeit, was tausend andere nur mit äußerster Mühe und Langsamkeit machen können; oder es macht mit Frohmut und Grazie, was andere nur gerecht und korrekt machen; Genie macht, was niemand machen kann. Alle Werke des Talents erregen bewunderndes Wohlgefallen; Genie erweckt Ehrfurcht, erregt ein Gefühl, das der Anbetung nahekommt." - Über "schöne Seele" bringt die beste Aufklärung die neueste (21.) von IPPEL besorgte Auflage von BÜCHMANNs "Geflügelten Worten".
    11) Eine solche Verfolgung des Problems durch die verschiedenen Zeiten hindurch wäre eine anziehende, nicht allzuschwere Aufgabe. Den wissenschaftlichen Ausgangspunkt würden dabei die eindringenden Untersuchungen des ARISTOTELES über den Großgesinnten zu bilden haben. Hier sind die Begriffe noch mitten im Fluß, der Gedanke einer Größe innerhalb des menschlichen Kreises verwandelt sich fast unvermerkt in den einer Größe im Gegensatz zu allem Menschlichen. Die alte Welt denkt bei der Größe namentlich an eine dem menschlichen Getriebe überlegene Ruhe und Selbständigkeit, die Neuzeit mehr an ein überlegenes Leistungsvermögen und eine geistige Produktivität; so auch hier der Gegensatz der Ideale von Beharren und Bewegung. Das viele Gerede von Größe dürfte namentlich aus der Zeit LUDWIGs XIV. stammen, wenigstens berauschen sich die Schriftsteller jener Zeit besonders an jenem Begriff.