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RENÉ DESCARTES
Über die Prinzipien
der menschlichen Erkenntnis


"Mag nun unser Urheber sein, wer er wolle, und mag er so mächtig und so trügerisch sein, als man wolle, so haben wir doch die Macht in uns, dem nicht ganz Gewissen und Ausgemittelten unsere Zustimmung zu versagen und so uns vor jedem Irrtum zu verwahren."

1. Da wir als Kinder auf die Welt kommen und über sinnliche Gegenstände urteilen, bevor wir den vollen Gebrauch unserer Vernunft erlangt haben, so werden wir durch viele Vorurteile an der Erkenntnis der Wahrheit gehindert und es scheint kein anderes Mittel dagegen zu geben, als einmal im Leben sich zu entschließen, an allem zu zweifeln, wo der geringste Verdacht einer Ungewißheit angetroffen wird.

2. Es ist sogar nützlich, schon das Zweifelhafte für falsch zu nehmen, um desto sicherer das zu finden, was ganz sicher und am leichtesten erkennbar ist.

3. Dieses einstweilige Zweifeln ist aber auf die Erforschung der Wahrheit zu beschränken. Denn im tätigen Leben würde oft die Gelegenheit zum Handeln vorübergehen, ehe wir uns aus den Zweifeln befreit hätten, und hier muß man oft das bloß Wahrscheinliche hinnehmen und manchmal selbst unter gleich wahrscheinlichen Dingen eine Wahl treffen.

4. Da wir hier aber bloß auf die Erforschung der Wahrheit ausgehen, werden wir zunächst zweifeln, ob die sinnlichen oder bildlich vorgestellten Dinge bestehen. Denn erstens betreffen wir die Sinne bisweilen auf dem Irrtum und die Klugheit fordert, niemals denen viel zu trauen, die uns auch nur einmal getäuscht haben. Sodann glauben wir alle Tage im Traum vieles wahrzunehmen oder vorzustellen, was nirgends ist, und es zeigt sich gegen diese Zweifel kein sicheres Zeichen, an dem der Traum vom Wachen zu unterscheiden wäre.

5. Wir werden auch das Übrige bezweifeln, was wir bisher für das Gewisseste gehalten haben; selbst die mathematischen Beweise und die Sätze, welche wir bisher für selbstverständlich angesehen haben. Denn teils haben wir gesehen, daß manche in solchen geirrt und das, was uns falsch schien, für ganz gewiß und selbstverständlich angenommen haben; teils haben wir gehört, daß es einen allmächtigen Gott gibt, der uns geschaffen hat, und wir wissen nicht, ob er uns vielleicht nicht so hat schaffen wollen, daß wir immer und selbst in dem, was uns offenbar scheint, getäuscht werden. Denn das ist ebensogut möglich, als die Täuschung in einzelnen Fällen, deren Vorkommen wir bereits gemerkt haben. Setzen wir aber voraus, daß nicht der allmächtige Gott, sondern wir selbst oder irgendein anderer uns geschaffen habe, so wird es, je weniger mächtig wir den Urheber unseres Daseins annehmen, umso wahrscheinlicher, daß wir unvollkommen sind und immer getäuscht werden.

6. Mag nun unser Urheber sein, wer er wolle, und mag er so mächtig und so trügerisch sein, als man wolle, so haben wir doch die Macht in uns, dem nicht ganz Gewissen und Ausgemittelten unsere Zustimmung zu versagen und so uns vor jedem Irrtum zu verwahren.

7. Indem wir so alles nur irgend Zweifelhafte zurückweisen und für falsch gelten lassen, können wir leicht annehmen, daß es keinen Gott, keinen Himmel, keinen Körper gibt; daß wir selbst weder Hände noch Füße, überhaupt keinen Körper haben; aber wir können nicht annehmen, daß wir, die wir solches denken, nichts sind; denn es ist ein Widerspruch, daß das, was denkt, in dem Zeitpunkt, wo es denkt, nicht bestehe. Deshalb ist die Erkenntnis:  "Ich denke, also bin ich",  von allen die erste und gewisseste, welche bei einem ordnungsmäßigen Philosophieren hervortritt.

8. Auch ist dies der beste Weg, um die Natur der Seele und ihren Unterschied vom Körper zu erkennen. Denn wenn man prüft, wer wir sind, die wir alles von uns verschiedene für falsch halten, so sehen wir deutlich, daß weder die Ausdehnung noch die Gestalt noch die Ortsbewegung noch Ähnliches, was man dem Körper zuschreibt, zu unserer Natur gehört, sondern nur das Denken. Dies wird deshalb ehe und sicherer als die körperlichen Gegenstände erkannt; denn man begreift es schon, während man über alles andere noch zweifelt.

9. Unter Denken verstehe ich alles, was mit Bewußtsein in uns geschieht, insofern wir uns dessen bewußt sind. Deshalb gehört nicht bloß das Einsehen, Wollen, Bildlich-Vorstellen, sondern auch das Wahrnehmen hier zum Denken. Denn wenn ich sage: "Ich sehe oder ich wandle, deshalb bin ich", und ich dies vom Sehen oder Wandeln, was mit dem Körper erfolgt, verstehe, so ist der Schluß nicht durchaus sicher; denn ich kann meinen, daß ich sehe oder wandle, obgleich ich die Augen nicht öffne und mich nicht von der Stelle bewege, wie dies in den Träumen oft vorkommt; ja, es könnte geschehen, ohne daß ich überhaupt einen Körper hätte. Verstehe ich es aber von der Wahrnehmung selbst oder vom Wissen meines Sehens oder Wandelns, so ist die Folgerung ganz sicher, weil es dann auf die Seele bezogen wird, welche allein wahrnimmt oder denkt, daß sie sieht oder wandelt.

10. Ich erkläre hier viele andere Ausdrücke, deren ich mich schon bedient habe, oder im folgenden bedienen werde, nicht näher, weil sie ansich genügend bekannt sind. Ich habe oft bemerkt, daß Philosophen fehlerhafterweise das Einfachste und ansich Bekannte durch logische Definitionen zu erklären suchten, obgleich sie es dadurch nur dunkler machten. Wenn ich deshalb hier gesagt habe, der Satz:  "Ich denke, also bin ich",  sei von allen der erste und gewisseste, welcher bei einem ordnungsmäßigen Philosophen hervortrete, so habe ich damit nicht bestreiten wollen, daß man vorher wissen müsse, was "Denken", was "Dasein", was "Gewißheit" sei, ebenso, daß es möglich sei, daß das, was denkt, nicht bestehe und ähnliches; sondern ich habe nur ihre Aufzählung nicht für nötig erachtet, weil es die einfachsten Begriffe sind, und sie für sich allein nicht die Erkenntnis eines bestehenden Dinges gewähren.

11. Um aber einzusehen, daß wir unsere Seele nicht bloß früher und gewisser, sondern auch klarer als den Körper erkennen, ist festzuhalten, wie nach natürlichem Licht es offenbar ist, daß das  Nichts  keine Zustände oder Eigenschaften hat. Wo wir mithin solche antreffen, da muß auch ein Gegenstand oder eine Substanz, der sie angehören, bestehen. Ferner ist ebenso offenbar, daß wir diese Substanz, der sie angehören, bestehen. Ferner ist ebenso offenbar, daß wir diese Substanz umso klarer erkennen, je mehr wir dergleichen Zustände im Gegenstand oder in der Substanz antreffen. Nur ist offenbar, daß wir deren mehr in unserer Seele als in irgendeiner anderen Sache antreffen, weil es unmöglich ist, daß wir etwas anderes erkennen, ohne daß uns das nicht auch viel sicherer zur Erkenntnis unserer Seele führte. Wenn ich z. B. annehme, daß die Erde ist, weil ich sie fühle oder sehe, so muß ich danach noch viel mehr annehmen, daß meine Seele besteht. Denn es ist möglich, daß ich meine, die Erde zu berühren, obgleich keine Erde besteht; aber es ist unmöglich, daß ich dies meine und meine Seele, die dies meint, nicht sei. Dasselbe gilt von allem anderen.

12. Wenn dies Personen, die nicht ordnungsgemäß philosophieren, nicht so erscheint, so kommt es davon, daß sie die Seele niemals genau vom Körper unterschieden haben; und wenn sie auch ihr eigenes Dasein für gewisser als alles andere erachteten, so bemerkten sie doch nicht, daß unter dem eigenen Dasein hier nur die Seele allein zu verstehen ist; vielmehr verstanden sie darunter bloß ihren Körper, den sie mit ihren Augen sahen und mit ihren Händen betasteten, und dem sie das Wahrnehmungsvermögen fälschlich zuschrieben. So wurden sie von der Erkenntnis der Natur der Seele abgeführt.

13. Wenn nun die Seele, die sich zwar selbst erkannt hat, über alles andere aber noch zweifelt, rings umherschaut, um ihre Kenntnisse auszudehnen, so findet sie zwar zunächst in sich die Vorstellungen von vielen Dingen; aber solange sie nur diese Vorstellungen betrachtet, ohne zu behaupten oder zu leugnen, daß etwas ihnen Ähnliches außerhalb ihrer bestehe, kann sie nicht irren. Sie findet auch gewisse gemeinsame Begriffe und bildet daraus mancherlei Beweise, welche sie für wahr hält, solange sie darauf acht hat. So hat sie z. B. die Vorstellungen der Gestalten und Zahlen in sich, und unter anderen gemeinsamen Begriffen den, daß  Gleiches  zu  Gleichem hingetan, Gleiches ergibt;  auch wird aus solchen leicht bewiesen, daß die drei Winkel eines Dreiecks gleich zwei rehten sind usw. Hiernach hält die Seele dies und ähnliches für wahr, solange sie auf die Vordersätze achtet, aus denen sie dies abgeleitet hat. Da man indessen nicht immer darauf acht haben kann, und man sich später besinnt, daß man nicht sicher ist, ob man nicht mit einer solchen Natur erschaffen worden, daß man sich selbst im anscheinend Unzweifelhaftesten irrt, so erscheint auch hier der Zweifel für berechtigt, und jede gewisse Erkenntnis unmöglich, solange man den Urheber seines Daseins nicht kennt.

14. Wenn die Seele dann unter ihren verschiedenen Vorstellungen die eines allweisen, allmächtigen und höchst vollkommenen Wesens betrachtet, welche bei weitem die vornehmste ist, so erkennt sie darin dessen Dasein nicht bloß als möglich oder zufällig, wie bei den Vorstellungen anderer Dinge, die sie bestimmt auffaßt, sondern als durchaus notwendig und ewig. So wie z. B. die Seele in der Vorstellung eines Dreiecks es als notwendig darin enthalten erkennt, daß seine drei Winkel gleich zwei rechten sind, und deshalb überzeugt ist, daß ein Dreieck drei Winkel hat, die zwei rechten gleich sind, so muß sie lediglich daraus, daß sie einsieht, in der Vorstellung eines höchst vollkommenen Wesens sei das notwendig und ewige Dasein enthalten, folgern, daß das höchst vollkommene Wesen bestehe.

15. Sie wird umso mehr davon überzeugt sein, wenn sie beachtet, daß in keiner anderen von ihren Vorstellungen dieses notwendige Dasein in dieser Weise enthalten ist; denn sie wird daraus ersehen, daß diese Vorstellung eines höchst vollkommenen Wesens nicht von ihr gebildet ist und keine chimärische, sondern eine wahre und unveränderliche Natur darstellt, welche bestehen muß, da das notwendige Dasein in ihr enthalten ist.

16. Dies wird, sage ich, unsere Seele leicht annehmen, wenn sie sich vorher von allen Vorurteilen losgemacht hat. Wir sind jedoch gewöhnt, bei allen anderen Dingen das Wesen vom Dasein zu unterscheiden, auch mancherlei Vorstellungen von Dingen, die niemals sind oder waren, beliebig zu bilden, und daher kommt es leicht, daß, wenn wir uns nicht ganz in der Betrachtung des höchst vollkommenen Wesens vertiefen, nun zweifeln, ob dessen Vorstellung nicht zu denen gehöre, die wir willkürlich bilden, oder bei denen wenigstens das Dasein nicht zu ihrem Wesen gehört.

17. Wenn wir die Vorstellungen in uns weiter betrachten, so sehen wir, daß sie, als bloße Weise zu denken, nicht sehr verschieden voneinander sind, wohl aber insofern die eine diese, die andere jene Sache vorstellt, und daß, je mehr gegenständliche Vollkommenheit sie in sich enthalten, umso vollkommener ihre ursachen sein müssen. Wenn z. B. jemand die Vorstellung einer sehr künstlichen Maschine hat, so kann man mit Recht nach der Ursache fragen, woher er sie hat; ob er irgendwo eine solche von einem anderen gefertigte Maschine gesehen hat oder ob er die mechanischen Wissenschaften so genau gelernt hat und seine erfinderische Kraft so groß ist, daß er diese nirgends gesehene Maschine selbst habe ausdenken können? Denn das ganze Kunstwerk, was in seiner Vorstellung nur gegenständlich oder wie in einem Bild enthalten ist, muß in dessen Ursache, sei sie, welche sie wolle, nicht bloß gegenständlich oder vorgestellt, sondern wenigstens oder in der ersten und vornehmsten Ursache in gleichem oder überwiegendem Maße wirklich vorhanden sein.

18. Deshalb können wir, da wir die Vorstellung Gottes oder eines höchsten Wesens in uns haben, mit Recht fragen, woher wir sie haben. Wir werden in dieser Vorstellung eine solche Unermeßlichkeit finden, daß wir uns überzeugen, sie könne uns nur von einem Gegenstand eingeflößt sein, welcher  wirklich  alle Vollkommenheiten in sich vereinigt, d. h. nur vom  wirklich  daseienden Gott. Denn es ist nach dem natürlichen Licht offenbar, daß aus nichts nicht etwas werden kann, und daß das Vollkommene nicht von einem Unvollkommeneren als seine wirkende und vollständige Ursache hervorgebracht werden kann, und daß in uns keine Vorstellung oder kein Bild einer Sache sein kann, von dem nicht irgendwo in oder außer uns ein Urteil besteht, was alle seine Vollkommenheiten enthält. Da wir nun jene höchsten Vollkommenheiten, deren Vorstellung wir haben, auf keine Weise in uns antreffen, so folgern wir daraus mit Recht, daß sie in einem von uns verschiedenen Wesen, nämlich in Gott sein müssen oder mindestens einmal gewesen sein müssen, worauf klar folgt, daß sie auch noch bestehen.

19. Dies ist denen, welche gewohnt sind, die Vorstellung Gottes zu betrachten und auf seine höchsten Vollkommenheiten zu achten, ganz gewiß und offenbar. Denn wenn wir auch diese Vollkommenheiten nicht begreifen, weil es die Natur des Unendlichen ist, daß es von uns, die wir endlich sind, nicht begriffen wird, so können wir sie doch klarer und deutlicher als die körperlichen Dinge einsehen, weil sie unser Denken mehr erfüllen, einfacher sind und durch keine Beschränkungen verdunkelt werden.

20. Da jedoch nicht jedermann dies bemerkt, und da wir, gleich denen, welche die Vorstellung einer künstlichen Maschine zwar besitzen, aber meist nicht wissen, woher sie sie haben, uns auch nicht entsinnen, daß uns die Vorstellung Gottes einmal von Gott gekommen sei, indem wir sie immer gehabt haben, so ist noch zu untersuchen, von wem wir selbst sind, die wir die Vorstellung eines höchst vollkommenen Gottes in uns haben. Denn nach dem natürlichen Licht kann offenbar ein Ding, das etwas Vollkommeneres weiß, als es selbst ist, nicht von sich kommen; denn sonst hätte es sich selbst alle die Vollkommenheiten zugeteilt, deren Vorstellung es in sich hat und deshalb kann es auch nur von jemand kommen, der alle jene Vollkommenheiten in sich trägt, d. h. der Gott ist.

21. Nichts kann die Kraft dieses Beweises erschüttern, sobald wir auf die Natur der Zeit oder die Dauer der Dinge achthaben; denn deren Teile sind nicht voneinander abhängig noch jemals zugleich. Deshalb folgt aus unserem Dasein in diesem Augenblick nicht unser Dasein in der nächstfolgenden Zeit, wenn nicht eine Ursache, nämlich die, welche uns hervorgebracht hat, uns fortwährend gleichsam wieder hervorbringt, d. h. erhält. Denn es ist leich einzusehen, daß diese uns erhaltende Kraft nicht mehr in uns selbst sein kann und daß der, welcher so mächtig ist, daß er uns, die wir von ihm verschieden sind, erhält, umso mehr auch sich selbst erhält oder vielmehr, daß er der Erhaltung von niemand bedarf und deshalb Gott.

22. Dieser Beweis vom Dasein Gottes aus seiner Vorstellung hat den großen Vorzug, daß wir, soweit die Schwäche unserer Natur es zuläßt, erkennen, wer er ist. Denn wenn wir auf diese uns angeborene Vorstellung blicken, so finden wir, daß er ewig, allwissend, allmächtig, die Quelle aller Güte und Wahrheit und der Schöpfer aller Dinge ist, und daß er endlich alles in sich hat, was wir klar als eine unendlich oder durch keine Unvollkommenheit beschränkte Vollkommenheit erkennen.
LITERATUR - René Descartes, Über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis in Friedrich Ramhorst [Hg], Anthologie der neueren Philosophie I, Berlin 1919