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Idealisten [1/7]
Die Gehorchenden Es ist gesagt worden, alles Richtige sei schon einmal gedacht worden, es käme nur darauf an, es nochmals zu denken. Diesen Satz kann man erweitern und sagen: alles Wesentliche muß in jedem Geist immer von neuem gedacht werden, weil in jeder Seele Welt und Leben unaufhörlich neu geboren werden. Dieses eben will die Natur: sich selbst in ihrer simplen Notwendigkeit stets als ein scheinbar Neues fühlen. Reich und groß wird das Leben nur darum nur dem, der alle ihn rings beschränkenden Formen des Zusammenlebens mit lebendigem Gefühl und klarem Geist nachschafft, sie anerkennt, indem er sie mit freiem Bewußtsein bestätigt oder erweitert und durch eigenes Denken zu denselben Resultaten kommt, die er als Staats- oder Gesellschaftsinstitutionen, als Konventionen oder Traditionen vorgefunden hat. Ihm verleiht dieser Gehormsam jede konservative Gesinnung, die wahrhaft fortschrittlich zu wirken vermag, gibt ihm die lebendige Treue, die nicht mit der zufälligen Autorität den Standpunkt wechselt. Dem Staatsgesetz ist nicht gehorsam, wer sich ihm ängstlich fügt, sondern wer ihm frei zustimmt; nicht der anerkennt die Befehle der öffentlichen Ordnung, der sich dagegen nicht aufzulehnen wagt, sondern der, der sich selber schon befohlen hat, was sie fordern. Die geltenden Sittengesetze ehrt nicht, wer sie nicht zu überschreiten wagt, sondern wer sie überzeugt als Wohltat empfindet und ihnen Opfer zu bringen bereit ist; und die Bedeutung der Berufskonventionen in allen Berufen erkennt nur, wer sich nicht gedankenlos den Metierregeln fügt, sondern sie als eine Summe aufgespeicherter Erfahrung in sich lebendig werden fühlt. Die lebensvolle Kunst seiner Zeit zu verstehen und sie, als eine Blume der Notwendigkeit, zu lieben: auch das gehört zum rechten Gehorsam. Ihn übt jeder Tüchtige in seinem Kreis: der Minister, der seine Politik auf Wirklichkeiten stützt, der Architekt, der erwiesenen, profanen oder geistigen Bedürfnissen ausdrucksvolle architektonische Gehäuse schafft, der Kaufmann, der den Ehrgeiz hat einer aus natürlichen Trieben geborenen Nachfrage ein würdiges Angebot zu schaffen, der Richter, der die starren Gesetzesparagraphen in seinem Gefühl zu menschlich warmem Leben erweckt, der Künstler, der den ihm von der Zeit dargebotenen Stilgedanken zu einer ihm persönlich notwendigen Kunstform macht und der Fürst, der sich ganz als ein Diener der idealgeborenen Volkskraft fühlt. Sie alle vermögen den von allen Seiten hart einengenden Zwang nur zu ertragen, wenn sie ihn sittlich machen, mittels der Idee. Indem sie dieses tun, füllen sie dann aber, das Gute wirkend, auch gleich den Platz, wohin Talent, Neigung und Schicksal sie gestellt hat. Und sie sind erst Meister in einem, verrichten sie die ihnen überlieferte Berufsarbeit so, als hätten sie sie neu erfunden, so haben sie im Einen immer auch das Ganze. Oder, um mit GOETHE zu reden: "der Beste, wenn er eins tut, tut er alles, oder um weniger paradox zu sein, in dem Einen, das er recht tut, sieht er das Gleichnis von Allem, was recht getan wird." Selbst der leidenschaftliche Freiheitssin des Jünglings, der sich gegen physischen Zwang empört, ist im Grunde Sehnsicht zum Gehorsam. Die Jugend müht sich, überall das Naturgewollte zu erkennen, hat aber nicht Einsicht genug, es auch in der geordneten und zuweilen starren Form wahrzunehmen. Ganz von unten herauf, vom Ursprung her will der Jüngling das allen Menschen Notwendige geistig nachschaffen und das schon fertig Gedachte nochmals durchdenken. Die feurigsten Revolutionäre werden darum in Alter die besten Konservativen. Schädlich ist nur der Revolutionär, der nicht das geschichtlich, sozial, wirtschaftlich oder kulturell Notwendige meint, sondern mit trüber Halbbildung sich selbst nur in den Dingen eitel bespiegelt, der die Schranken hinwegwünscht, um seine materiellen Interessen selbstisch zu fördern und dessen Einsicht in egoistischer Verblendung nur ausreicht, die Härten der Lebensdisziplin zu erkennen, nicht aber die tiefere Ethik darin. Ist dieser liberal gesinnte Dilettant des Gehorsams durchaus unerfreulich, so ist es mehr aber noch der knechtisch Beharrende, der sich aus Furcht, Servilität oder trägem Indifferentismus jeder Autorität beugt, nur weil sie die Macht ist. Dieser sklavisch vegetierende Geist ist der für das Staatsleben gefährlichste, weil von ihm nicht einmal Versuche ausgehen, zu freiem Gehorsam zu gelangen und weil er dem flüchtigen Blick doch als der beste und treueste Bürger erscheinen kann. Wieder zeigt es sich, daß gerade den edelsten Tugenden die häßlichsten Kontraste gegenüberstehen. Wie nichts höher steht als die Liebe und wie nichts ekler ist als sie, wenn sie entartet, so wird der nicht frei und intelligent geübte Gehorsam zu einem Laster, das ganze Völker in Gefahr zu bringen vermag. So groß und charaktervoll freier Gehorsam den Mann oder ein Volk erscheinen läßt, so sehr erniedrigt sie der gedankenlose und serviel Gehorsam. Gelte er nun der Autorität eines Gedankens oder einer Person. Denn es zeigt sich dann, daß das Volk, das einem toten Gehorsam verfallen ist, die Unfreiheit von Stand zu Stand, von Stufe zu Stufe weitergibt. Wo sich der Arbeiter, um seine Existenz besorgt, vor der Geldmacht feige duckt, wo der Beamte sich vor seinem Vorgesetzten demütigt und jedermann sein Schicksal von der übergeordneten Autorität abhängig macht, da beugen sich die hoch Gestellten immer auch versteinerten Begriffen, toten Vorurteilen und leblosen Prinzipien. Denn auch lebendig gehorchen kann ja, in der Umkehrung des Satzes, nur, wer lebendig zu befehlen versteht. Wer über Sklaven herrscht, muß Tyrann werden, auch wenn er es nicht möchte; und muß damit zum Sklaven seines Selbst werden. Und wer einem Tyrannen unfrei und sklavisch gehorcht, der kann seinen Untergebenen auch wieder nur ein Tyrann sein. Der Abhängige wendet umso mehr nach unten ideenlose Gewalt an, je mehr er selbst von oben - und sei es nur von seinen eigenen Vorurteilen - vergewaltigt wird. Daneben aber sieht man dann immer auch die Erscheinung, daß der blinde Gehorsam das sittlich Höhere, das neben ihm entsteht, mit Haß und Verleumdung verfolgt und nicht selten den Schein zu wecken vermag, als wären die Leistungen des freien, geistigen Gehorsams auf zerstörungslustigen Trotz zurückzuführen. Wohl der Zeit, wo innerer und äußerer Gehorsam zusammengehen können. Nur in Zeiten reicher idealer Lebensentfaltung ist es möglich, daß der Mann seine Entwicklung dahin lenkt, wohin die Autorität deutet, daß er die innere Überzeugung mit dem äußeren Gehorchen in Übereinstimmung bringt und daß er in den Idealen, die ihm von der Zeit gezeigt werden, die lebendigen Sehnsüchte seines Herzens beglückt erkennt. Stark ist die Nation, der ein Fürst in der Tat Erzieher ist, weil er "weiter sieht, tiefer wurzelt als seine Untertanen"; edel ist das Volk, dessen Beamten mit einem aufs Ganze gerichteten Interesse den kraftvoll wirkenden Lebensmächten zu dienen suchen und dessen Adel "nicht nur königstreu, sondern königlich gesinnt" ist; glücklich ist das Land, wo Titel und Orden die Würdigsten aus der Menge herausheben, wo nur die an Erfahrungen und Überzeugungen Reichen lehren dürfen und wo das Genie in Kunst und Leben etwas gilt. Unfrei aber ist das Volk, wo die Besten ihren Fürsten als Rute empfinden, den Adel mit den Drohnen des Bienenstocks zu vergleichen Lust haben, das bürokratisch entartete Beamtentum verachten, über Titel und Würden lachen, geringschätzig auf die verdienstlos sich Bereichernden blicken und in der politisch organisierten Opposition sogar alle Fehler des falschen Gehorsams wiederfinden; wo die Masse in gedankenlosem Gehorsam dahinlebt und sich kommandieren läßt, was sie für heilig, edel, schön und wirklich zu halten hat. Ein solches Volk leidet Schaden an seiner Seele. Denn Völker haben Seelen wie Individuen. Die Ursache, daß die Nationen sich heute einem unintelligenten Gehorsam unterwerfen, überall in den Reichen, deren Staatsleben von den Revolutionen des vorigen Jahrhunderts determiniert worden ist, muß im Übergewicht materialistischer Lebensanschauungen gesucht werden. Das ist freilich ein bedenklich zu benutzendes Wort, da es leicht in den Verdacht bringt, als schätze man das sinnlich Wahrnehmbare und Wirkliche gering. Solche Auffassung wäre aber ein Fehler der Terminologie. Der schlechthin materielle Mensch hat niemals jenen rechten Realitätssinn, woraus allein allein das lebendige Ideal hervorwachsen kann. Denn er vermag, weil er zweckvoll begehrt oder zurückweist, profan tendenzvoll will oder nicht will und mehr die intellektuell bediente Begierde als die Vernunft regieren läßt, niemals objektiv im höheren Sinne zu sein. Er sieht an den Dingen nur Eigenschaften, die ihm ganz unmittelbar nützen oder schaden können und erfaßt die Erscheinungen und Ideen darum nicht wie sie nach vielen Richtungen zugleich wirken. Da er aber nicht das sachlich Wesentliche sehen kann, vermag er auch die Wirkungen seiner Tätigkeit nicht aus dem Naturgegebenen abzuleiten und somit nicht für die Dauer zu schaffen. Denn ausdauern tut nur, was in Natur wurzelt. Der Materialist kennt nicht jenen freien Gehorsam, der dem Göttlichen den Willen abzulauschen sucht; er hat nicht ursprüngliche Idealität, weil er all seine Lebensenerige verbraucht, um die Existenz nur zu sichern oder zu verbessern. Der Materialismus ist in diesen Jahrzehnten, wo es so schwer geworden ist, sich nur zu behaupten, aus einer Not fast zu einer Weltanschauung geworden. Man müßte eine Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts schreiben, wollte man den Ursachen im einzelnen nachgehen. Von der Entstehung der Industrien müßte man sprechen und von den damit verbundenen Entwicklungen innerhalb des Arbeiterstandes, von den Konsequenzen des gesteigerten Verkehrs, von den sozialen und in der Folge wirtschaftlichen Umwälzungen, den politischen Neubildungen und davon, daß viele Probleme der bloßen Existenz auf ganz neue Grundlagen gestellt worden sind. Von Herrschern müßte die Rede sein, die Imperatoren noch sein wollen, wo sie es doch nicht mehr sind, vom Volke, das sich parlamentarisch selbst regieren will und es noch nicht kann; von den Sklaven, die Herren zu sein glauben und den Herren, die ebensosehr wie sie Sklaven sind. Der Daseinskampf, der sich früher auf engem Bezirk gemächlicher abspielte, geht nun auf weiter Basis vor sich; alle kommen mit allen kämpfend in Berührung, der Wettstreit verschärft sich grausam und keine feste soziale Gliederung verhindert durch das Durcheinanderfluten heterogener Elemente. Der Einzelne hat vollauf zu tun, um an der Oberfläche zu bleiben; er vermag über sich hinaus kaum noch zu denken. Und ist seine Existenz gesichert, so gewährt ihm der Lohn seiner Anstrengungen, das Geld, gleich so große macht über die weniger Geschickten, daß nur der von Natur Edle den Trieb, dieses Machtgefühl zur Grundlage des sittlichen Selbstgefühls zu machen, widerstehen kann. Mit freierem Blick wird in diesem Kampf um Dinge der Notdurft eigentlich nur das Wirtschaftliche selbst betrachtet. Nicht daß die Lebenden schon irgendwie ideal in ihrem wirtschaftlichen Wollen wären; aber es zucken doch durch die mächtigen Wettkämpfe des Erwerbs höhere soziale Instinkte; ein monumentales Ideal erhebt sich wie hinter Nebeln und Wetterwolken. Es übt freilich nirgend schon schöpferische Gewalt; aber es ist doch stark genug, um im Ökonomischen wenigstens idealistische Phrasen dauernd nicht zur Herrschaft kommen zu lassen. Was freilich nicht eben viel sagen will. Denn die Laster des Materialismus herrschen noch unerschüttert, so daß es nicht leicht ist, an die eines Tages wohl stattfindende geistige Selbstentzündung innerhalb der wirtschaftlichen Energieaufhäufung zu glauben. Diese Laster äußern sich nicht nur als Indifferenz gegen ideal geborene, freie und sachlich wertvolle Gedanken, sondern sogar als Haß gegen das lebendig Sittliche und Schöne. Trotz seiner Vermannigfaltigung ist das Leben darum unendlich arm geworden. Was wie höheres Interesse aussieht, ist immer fast geschäftlicher Vorwand. Fast nirgends mehr quillt es spontan aus dem Inneren. Überall herrscht die Furcht, die Geschäfte möchten gestört, die Möglichkeiten des Erwerbs noch mehr verwirrt werden. Was ist die ängstliche Kriegsfurcht unserer Tage doch anderes, als ein Zeichen von Materialismus! Nur weil man nicht Opfer für Ideen und Gefühle zu bringen fähig ist, flieht man den Gedanken an Gefahr, Wagnis, Opfer und Tod, fürchtet man die Leidenschaft, die zerstört um frei bauen zu können, die ungehorsam scheint aus einem tieferen Gehorsam. Es kommt nicht zu starkem Streit um Fragen des religiösen Empfindens oder des nationalen Ehrgefühls. Niemanden treibt es mehr zum Kampf um Imponderabilien, denn alle Welt hat mit dem Wägbaren vollauf zu tun und die eigentlich brennenden Fragen des nationalen Lebens werden von Worten umschrieben wie: Absatzgebiete und Weltmärkte für die Industrie, Arbeitsgelegenheiten für das Proletariat. Da es aber selbst eine solche Zeit nicht unterlassen mag, Idealität wenigstens vorzuschützen, um vor sich selbst gerechtfertigt dazustehen, so treten an die Stelle lebendiger Ideale überkommene Idealbegriffe und formalistisch gewordene Ideen des Höheren, wie sie das kräftigere Leben der Vergangenheit einst geprägt hat. Selbst in der geistigen Verwilderung dieser Zeit erhält sich der Instinkt dafür, daß ein Volk Ideale so nötig hat wie Korn und Gesetze und daß es ohne Ideale dem Untergang entgegeneilt. Die Regierenden betrachten es als ihre Pflicht, dem Volk "die Ideale zu erhalten" und machen sich so, als die eigentlichen Mandatare des allgemeinen Materialismus, zu Urhebern ungeheuerlicher Kulturlügen. Sie lassen dekorativ klingende Phrasen der Ethik, der Staatsmoral, der Kunst, des Patriotismus verkünden und vertreten die offiziellen Idealdogmen umso eifriger, je mehr diese Dogmen gewaltsamer Vertretung bedürfen. Gerade die Leblosigkeit der Ideale zwingt die Regierenden in die Rolle von tyrannischen Schulmeistern, die disziplinarisch anordnen, was das Gefühl spontan tun sollte. Das Volk leitet sich nicht mehr selbst, durch einen freien Willen zum Gehorsam, sondern wird in der verächtlichen Bedeutung des Wortes regiert. In allen kapitalistisch sich entwickelnden Ländern wird heute von oben herab mehr oder weniger kommandiert, was ideal zu heißen hat. In Republiken wie in Monarchien. In England und Frankreich findet man ähnliche Erscheinungen wie in Deutschland; und im "freien" Amerika ist es nicht viel besser. Überall sehen wir die Politik materielle Ziele verfolgen und es mutet schon bedeutend an, wenn das Profane wenigstens kühn und vollständig getan wird. Selbst die Ziele der offiziellen Kunst oder der Staatsreligionen sind ganz ungeistig, trotzdem sie als über die Maßen idealistisch dargestellt werden. Auch sie sind Mittel der Staatsdisziplin. Und wie in Politik, Religion und Kunst ist es fast auf allen Gebieten. Mit größter Naivität wird jeden Tag die Sünde wider den heiligen Geist begangen. Freiwillig begeben sich Hunderttausende ihres angeborenen Adels, "fliehen erschrocken vor dem Gespenst ihrer inneren Größe und nennen Tugend, die selbstgeschmiedeten Ketten mit Anstand tragen." Größer und würdiger dünken sie sich unter dem Kommando. Es gibt nicht mehr allgemeine Ideale, die dem Fürsten wie dem Ärmsten gehören, sondern es gibt welche für Vornehme und andere für Subalterne. Das Ideal ist ein gesellschaftlicher Modewert. Der eine dünkt sich edel, weil er sich das Heilige und Schöne von der Obrigkeit diktieren läßt und ein anderer kommt sich charaktervoll vor, weil er, auch wiederum aus materialistisch denkendem Trotz, opponiert. Alles liegt an der Oberfläche. Kratzt man den Lack der Gesinnung ab, so kommt die nackte Barbarei zum Vorschein. Daß man unter solchen Umständen in der idealen Forderung maßlos wird, ist eine natürliche Folge. Man kann das Höchste und Letzte fordern, wo nicht der kleinste Schritt getan wird, um das Ziel auf selbstgefundenen Wegen zu erreichen. Das lebendige Ideal will immer etwas Mögliches, weil es eben Gehorsam gegen das Naturgewollte, Ehrfurcht vor dem Notwendigen und Wirklichen ist. Es ist nicht "über den Dingen, sondern in den Dingen, wie Gott nicht bloß Sonntags von neun bis elf in der Kirche, sondern jederzeit und überall ist und gefunden werden kann." Die künstlichen, die kommandierten Ideale aber dürfen in Wolkenkuckucksheim liegen, weil sie von der Natur ein für allemal separiert sind. Man verlangt im Handels- und Industrieland Großbritannien eine gotisch, im Preußen des zwanzigsten Jahrhunderts eine renaissanceliche Kultur; fordert vom Apfelbaum Rosen und Zuckerwerk und von der trächtigen Kuh junge Pferde. Die "höchsten Forderungen" sind wohlfeil wie Lügen. Die Menge aber nimmt aus der Entfernung die Papierblumen für lenzlich duftende Blüten; und während die allgemeine Moral vergiftet wird, prahlen die kommandierten Ideale mit dem Schein heroisch edler Menschlichkeit. Der Deutsche gehorcht seiner ganzen Anlage nach, im guten wie im schlechten Sinne, mi Hingebung und Leidenschaft. In seinem geistigen Wesen ist ein ebenso schöner wie gefährlicher Zug zur Schrankenlosigkeit, ist die eingeborene Leidenschaft, das Universale zu fühlen, das allgemein Menschliche zu denken und eine Lust, sich spekulierend mit den letzten Dingen zu beschäftigen. Nur der Deutsche besitzt eine sein typisches Selbst symbolisierende Dichtung wie den "Faust"; nur in Deutschland konnte es geschehen, daß fast alle großen Geister weltbürgerliche Gesinnung als höchste Stufe der Humanität verkündeten; nur ein deutsches Genie konnte die Vaterlandsliebe als "eine erhabene Schwäche" definieren. Die Ziel und Weg weisenden Geister in England, Frankreich oder Italien waren in ihrem Denken und Wollen immer viel mehr national determiniert. Die Forderung, die alles oder nichts will, sitzt dem Deutschen umso tiefer im Blut, als sie nicht auf Temperamentswallungen beruth, wie etwa beim russischen Volk, sondern im wesentlichen eine Forderung klar sehender Vernunft ist. Die schwersten Lasten hat sich der Deutsche von je aufgebürdet. Den edlen und bewußt wählenden Gehorsam hat er oft zuweit getrieben, ist zu ausschließlich Idealist gewesen und hat es darum nicht vermeiden können, äußerlich in problematische Zustände zu geraten. Er ist ein eifriger Protestant geworden, weil er zwischen sich und dem ewigen keinen Mittler dulden mochte, weil er für sich selbst die ganze Lebensverantwortung tragen wollte. Die heroische Unbesonnenheit, die hierin lag, hat er mit der Wohltat einer organisationsfähigen Religionsform, einer lebendigen kirchlichen Disziplin, ja, mit der anarchischen Entartung des religiösen Instinkts sogar bezahlen müssen. Und sein Weltbürgertum, das aus so edler Menschlichkeit stammt, hat ihm den Sinn für politisches Handeln oft derart gelähmt, daß er einer gesund eigennützigen Politik kaum jemals dauern fähig gewesen ist. Der allzu peinlich geübte innere Gehorsam gegen das Naturgewollte hat dazu verführt, die naheliegenden nationalen Ideale auf Kosten des "absoluten Ideals" fahren zu lassen. Nur aus diesem Punkt ist unsere ewige Sehnsucht nach dem Griechentum, als nach dem höchsten Menschheitsideal zu erklären. Unsere Genies stellen sich asketisch unter das Gesetz des kategorischen Imperativs und verbluten an ihrer inneren Unbedingtheit. GOETHE und BISMARCK haben so nützlich, so praktisch kulturfördernd gewirkt, weil sie im Denken und politischen Handeln dieser inneren deutschen Maßlosigkeit, die man von SCHILLER bis HEBBEL, von KANT über SCHOPENHAUER bis NIETZSCHE, von CORNELIUS bis BOECKLIN, von BEETHOVEN bis WAGNER, ja von PÖPPELMANN bis SCHINCKEL verfolgen kann, regulierend und Schranken weisend entgegengetreten sind. Der Deutsche ist innerlich sehr individualistisch liberal und aristokratisch freiheitlich gesinnt. Vergleicht man ihn dem Franzosen, so findet man, daß er die viel konservativere Natur ist, die sich selbst streng regiert, indem sie sich selbstgeschaffenen Konventionen und Lebensformen fügt. Nur darum kann der Franzose frei und ungebunden in den Fragen des äußerlichen Gehorsams sein. So paradox es scheinen mag: er ist revolutionslustig, weil er sehr konservativ empfindet; er kann die äußere Staatsform leichtherziger verändern, weil er nie zu fürchten braucht, daß ihm die organisierenden und bewahrenden Grundinstinkte des Staatslebens verloren gehen. Seine Revolutionslust ist das natürliche Gegenspiel seines Konservatismus, ist ein Akt der Selbsterhaltung. Umgekehrt muß der Deutsche der Autorität äußerlich unbedingten Gehorsam schenken, weil er fühlt, daß seine innere Freiheitlichkeit und Schrankenlosigkeit des Zaums und Zügels bedarf. Bis zur Aufgabe seiner persönlichen Selbstbestimmung unterwirft er sich der staatlichen Gewalt, den Reglements und Paragraphen, weil seine innere Romantik ihm diese Disziplin als notwendig erscheinen läßt. Auch dieser äußerliche Gehorsam ist Selbsterhaltungstrieb und er wird darum mit Überzeugung und Hingabe geübt. Das macht den Deutschen zum guten Soldaten und zum brauchbaren Material für jeden Organisator. Keiner hat wie er die passiven Tugenden der Geduld, der Ordnung und der Unterordnung. Der Befehl hat ihm etwas Heiliges. Er fragt weniger als andere Völker, ob der Befehl auch gut und vernünftig ist, oder ob die ihn bevormundende Macht auch die höhere Idee vertritt. Sein Gehorsam ist zu Zeiten blind. Das mag nun angehen, solange dem Wortgehorsam wirklich eine tiefe lebendige Idealität gegenübersteht, solange der äußere Gehorsam in der Tat nichts ist, als die freiwillige Selbstbegrenung eines grenzenlosen Dranges. Indem die Kräfte sich dann balanzieren und durchdringen, wird notwendig etwas Harmonisches entstehen. Das ist bisher aber nur für kurze Zeitspannen und unter besonders günstigen Umständen geschehen, weil der Absolutismus der deutschen Idealität dem Gedanken nationaler Selbstbeschränkung in gewissem Sinne widerspricht. Nicht als ob das deutsche Ideal eigentlich unwirklich und phantastisch wäre; aber es geht stark aufs Weltpsychologische, setzt sich gern über die Grenzen nationaler Determination hinweg und ist darum selten nur praktisch in seinem ganzen Umfang zu verwirklichen. Der Deutsche sucht sein Nationalgefühl in so ganz anderen Dingen wie der Engländer oder Franzose, daß er nicht gut ideal zu bleiben vermag, wenn er im nationalen Sinne wirklich einmal real praktisch denkt und handelt. Wir erblicken den Deutschen darum in seiner Geschichte entweder als einen übertriebenen Idealisten, der realpolitisch zu kurz gekommen ist, oder, im Erfolg, als einen Nützlichkeitsmenschen, dem man tiefere Innerlichkeit kaum zutrauen möchte. Es ist kein Zufall, daß wir ihn als Idealisten sehen, wenn es der Nation äußerlich schlecht geht und als Materialisten in den Jahrzehnten des politischen Glücks. Als Materialisten haben wir den neuen Reichsdeutschen eben jetzt so drastisch vor Augen, daß er dem Ausländer von einem anderen Menschenschlag zu stammen scheint, als von den Zeitgenossen der Klassiker. Dieser Deutsche der Gegenwart, der im schweren Erhaltungskampf den freien, intelligenten Gehorsam, das heißt: seinen Idealismus verlernt hat, läßt nun aber keineswegs auch vom äußeren, automatischen Gehorsam. Fester als je hängt er sich, innerlich steuerlos, an die Zeichen der äußeren Herrschaft und an die Idealismen, die ihm von staatswegen als Ersatz für die innerlich verlorenen dargeboten werden. Und darum sind große Teile der Nation in allen geistigen Fragen zu willenlosen Geschöpfen in den Händen der Autorität geworden, während sie wirtschaftlich doch in rastloser Arbeit einen Wert auf den andern häufen. Die Autorität aber ist ebenfalls ideelos; denn lebendiges Wollen und schöpferische Gedanken könnten ihr wiederum nur aus den Tiefen des Volkes suggeriert werden. |