F. A. LangeJ. FrauenstaedtW. OstwaldA. CornillDas Ungegebene | |||
[mit NS-Vergangenheit] Der moderne Materialismus als Weltanschauung und Geschichtsprinzip [1/2]
1. Vorlesung Die materialistische Weltanschauung im Licht der Erkenntnistheorie Gern habe ich die Aufgabe übernommen, an dieser Stelle über den modernen Materialismus als Weltanschauung und Geschichtsprinzip zu reden. Über den modernen Materialismus: der Materialismus ist eigentlich eine unmoderne Auffassung. Er ist gegenüber den Begriffen der heutigen Psychologie, Biologie, ja der heutigen Physik rückständig. Er ist rückständig in unseren Tagen kritizistischer Schulung auch als unheilbarer Dogmatismus. Aber es geht mit dem materialistischen Gedanken wie nach einer vielverbreiteten biologischen Lehre. Nach dieser sollen sich in den Jugendzuständen höherer Tierindividuen die früheren Entwicklungsstadien des Stammes wiederholen. So sehen wir auch im Nachdenken des einzelnen die Jugendsprünge des menschlichen Geistes sich oft erneuern. Ihre scheinbare Einfachheit und Natürlichkeit legt materialistische Auffassungen zunächst gewiß nahe. Bei ihnen stehen bleiben hieße aber, bei überwundenen Formen des Denkens verharren. Ist der Materialismus alt, zeigen seine dogmatischen Behauptungen die Züge des Alters durch die Abwesenheit kritizistischen Geistes, so gibt es doch einen Punkt, durch den sich der Materialismus vor KANT und der Materialismus nach KANT unterscheidet. Vor KANT gab es lediglich einen mathematischen oder mechanistischen Materialismus. Heute hat sich das materialistische Denken um eine weite Provinz bereichert, es ist vom Gedanken der Entwicklung durchwoben. Dementsprechend gibt sich der heutige Materialist nicht nur als dogmatisierender Physiker oder Chemiker. Er gibt sich auch als dogmatisierender Biologe. Evolutionistischer Materialismus ist heute Trumpf. Indem man diesen dem überkommenen mechanistischen Materialismus angefügt und beides verschmolzen hat, glaubt man das System des Materialismus lebenskräftig erneuert, vervollständigt und gegen alle Angriffe geschützt zu haben. Nun stützt, wie man meint, der evolutionistische Teil des Gebäudes den mechanistischen und der mechanistische den evolutionistischen. Ich denke zeigen zu können, daß jeder den andern aufhebt. Hören wir zuerst die Hauptgedanken der vereinigten mechanistisch-evolutionistischen, also, wie er sich selbst gern nennt, des modernen Materialismus! Allem voran steht die Behauptung von der Wirklichkeit der Atome und ihrer Bewegungen. Jedes Atom vereinige in seiner Substanz zwei Attribute, Materie und Energie. Die Menge von beiden erhalte sich seit Ewigkeit her konstant. Der Atomsubstanz komme noch eine dritte Eigenschaft, Entwicklung, zu. Sie entwickle sich aus sich selbst. Zuerst habe sie sich in imponderabile [unvergleichliche - wp] Ätheratome und ponderabile Körperatome zerlegt. Aus letzteren seien durch alle möglichen Bewegungen und Verbindungen derselben die einzelnen Dinge hervorgegangen. Andere Faktoren als die genannten mechanistisch wirkenden seien beim Evolutionsprozeß der Welt nicht beteiligt. Die Naturkausalität sei in sich geschlossen und unzerreißbar. Es gebe weder Gott noch Seele. Das geistige Leben bilde eine bloß abhängige Funktion des körperlichen und werde vom Kausalnexus der Nerventätigkeit beherrscht; Willensfreiheit sei eine Chimäre. Dies der Materialismus als Weltanschauung. Es ist klar, daß er sich auch zum Geschichtsprinzip erweitern wird. In das Gesetz der Welt, ihren Mechanismus und Evolutionismus, sei auch das geschichtliche Leben verflochten. Dieses könne nicht auf neuen und besonderen Faktoren beruhen. Die allgemeine Naturgesetzlichkeit greife in dasselbe herüber und bestimme es durch und durch. So sei insbesondere alle Kultur ein blind bewegter Entwicklungsmechanismus, der von den Kräften der Natur getrieben werde. Sein unaufhaltsam vorwärts rollender Gang ziehe die menschliche Tätigkeit in sich hinein, statt von ihr Ziel und Richtung zu empfangen. In sich geschlossene Naturkausalität auch hier. Prüfen wir nun diese Weltanschauung und dieses Geschichtsprinzip, die so zuversichtlich vor uns hintreten und zwar zunächst die materialistische Weltanschauung! Ist sie, fragen wir zuerst, sich selbst gegenüber vollständig? Das ist die erkenntnistheoretische Frage. Ist sie, fragen wir zweitens, dem Denken gegenüber notwendig? Das ist die logische Frage. Ist sie, fragen wir drittens, den Tatsachen gegenüber ausreichend? In diesen Untersuchungen hat vor allem die Psychologie das Wort. Ich beginne mit der erkenntnistheoretischen Frage. Ist, lautet dieselbe, die materialistische Weltanschauung in sich geschlossen oder vollständig? Ihre Behauptung haben wir wohl gehört; aber behaupten läßt sich vieles, ohne daß die Wirklichkeit damit übereinstmmen müßte. Wenn der Materialist von Atomen und ihren Kräften spricht, so meint er damit jedenfalls die Wirklichkeit selbst, ja das letzte Wesen der Wirklichkeit ergriffen zu haben. Mit welchem Rechte meint er das? Quid juris? [mit welchem Recht? - wp] Das ist unsere Frage. Es ist zugleich die kritizistische Frage, deren Wichtigkeit jeder Metaphysik gegenüber KANT so dringend eingeschärft hat. Erst dann vervollständigt sich ein metaphysisches System zur Wissenschaft, verwandelt es sich aus doxa [Behauptung - wp] in episteme [Wissen - wp], wenn es ihm gelungen ist, sich vor dem Tiefsinn dieser Frage zu verantworten. Auch dem Materialismus müssen wir die Frage vorlegen und ihn auffordern, sich durch Antwort darauf wissenschaftlich zu rechtfertigen. Besteht denn gerade zwischen dem Denken des Materialisten und der Wirklichkeit eine prästabilisierte Harmonie? Wenn aber nicht, warum glaubt er an die objektive Richtigkeit seines Systems, das doch zunächst nur eine Idee in seinem Kopf ist? Hier ließe sich nicht etwa auf die bloße innere Folgerichtigkeit der materialistischen Ideen hinweisen. Denn der Mathematiker, der mit imaginären Einheiten und vieldimensionalen Räumen rechnet, baut innerlich folgerichtige Systeme auf, ohne die äußere Wirklichkeit derselben zu behaupten. Ebenso warnt die Geschichte der Philosophie, unseren noch so nützlichen Begriffen ohne weiteres reale Deutung zu geben. Auf jeder Seite ihres Buchs weiß sie von der verhängnisvollen Neigung zu berichten, das, was wesent lich für unser Denken ist, ja vielleicht nur ein erleichternder Kunstgriff desselben, ein bequemer Ansatzpunkt für Rechnungen, ein brauchbares Modell zur Veranschaulichung ist, für wesen haft in rerum natura [der Natur der Dinge entsprechend - wp] anzusehen. Zu allen Zeiten haben die Menschen versucht, das, was nur logisches Hilfsmittel zum Begreifen der Dinge ist, als die tiefste Realität der Dinge auszugeben. Die Zahlen sind bloße Abstraktionen, aber unentbehrliche für unser Ver stehen der Dinge. Eben deswegen glaubten die Pythagoreer, daß die Dinge aus ihnen be stehen. Wir brauchen Klassen- und Artbegriffe, um die Dinge logisch zu ordnen. PLATON hypostasierte [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] auch die Klassen- und Artbegriffe und gab ihnen unter dem Namen der Ideen reale Existenz. Unter oberste Gesetze, im Idealfall unter ein oberstes Gesetz, fassen wir die zahllosen Einzelgeschehnisse der Welt zusammen: diese sind konkret und wirklich, jenes ist allgemein und abstrakt. SPINOZA drehte das Verhältnis um. Er machte das oberste Gesetz, aus dem wir nur logisch ableiten, zum kausal hervorbringenden Grund der Dinge und nannte es Gott-Natur. Das alles ist Begriffsrealismus. Die Beute eines solchen könnte auch das materialistische System sein. Nichts zwingt uns, solange der Materialist auf die Frage quid juris? keine Rechenschaft gibt, in Atomen und Kräften mehr als bloße Begriffskonstruktionen zu sehen. Vielmehr, sie sind zunächst nichts anderes, als Hilfsmittel des Naturerkennens, letzte schematische Ansatzpunkte für Rechnungen, Modelle zur geometrischen und dynamischen Konstruktionen, Veranschaulichungshilfen der analytischen Mechanik, ähnlich den irrationalen Zahlen oder den imaginären Einheiten. Atome und Kräfte sind Ingredenzien derjenigen abstrahierenden, alles in Bewegungsgleichungen anschauenden Betrachtungsweise, die wir seit den Tagen GALILEIs die mechanistische nennen. Sie sind zunächst nur gleichsam ein Hammer des Denkens, mit denen es innerhalb der genannten Betrachtungsweise die Dinge bearbeitet. Die materialistische Weltanschauung aber geht weit über deren Handhabung im Dienste einer bloßen Methode hinaus. Sie tut dasselbe, wie jeder Begriffsrealismus. Sie tut mit Atomen und Kräften, was PYTHAGORAS mit den Zahlen, PLATON mit den Gattungsbegriffen, SPINOZA mit dem Gesetz getan hatten; sie nimmt die mechanistischen Denkmittel nicht logisch, sondern real, läßt Atome und Kräfte wirkliche, wirksame Existenzen sein und verwandelt so die Begriffe einer bloßen Methode in Metaphysik, die mechanistische Erklärungsweise in die Seinsweise der Welt. Wenn jemand so verfährt, muß er es stets besonders rechtfertigen. Sonst handelte er ebenso überstürzt, wie wenn einer meinte, die Häuser beständen schon darum, weil wir sie mit Hämmern bearbeiten, aus Hämmern. Hiermit haben wir die Frage formuliert, die wir an den Materialismus zu stellen haben. Er ist uns als die Metaphysik der mechanischen Methode entgegentreten. Nun fragen wir den Materialisten: "Was berechtigt dich, die Denkmittel der mechanischen Methode metaphysisch zu nehmen? Quid juris?" Wir fordern ihn auf, sich durch genügende Antwort auf diese Frage zur Wissenschaft zu vervollständigen. Es ist der Nutzen dieser Fragestellung, daß sie sogleich das Feld für noch eine andere Nachforschung öffnet. Gesetzt nämlich, der Materialist nennte ein Prinzip, das ihm verbürgte, an die Harmonie der Wirklichkeit mit den unentbehrlichen Gedanken der mechanischen Methode zu glauben, das ihm also gestattete, dasjenige, was innerhalb dieser Betrachtungsweise wesent lich ist, als wesen haft in der Welt der Dinge zu statuieren, so werden wir weiter fragen: "Ist denn dieses Prinzip gerade auf Atome und Kräfte anzuwenden? Ist der Gedanke der Atome und Kräfte innerhalb dieser Betrachtungsweise wesent lich ist, als wesen haft in der Welt der Dinge zu statuieren, so werden wir weiter fragen: "Ist denn jenes Prinzip gerade auf Atome und Kräfte anzuwenden? Ist der Gedanke der Atome und Kräfte innerhalb der mechanistischen Methode wirklich wesent lich? Zeigt sie in ihrer historischen Entwicklung nicht vielmehr die Tendenz, sich von den genannten Begriffen zu befreien?" Die Atome und Kräfte möchten dann nicht nur ein bloßes Hilfsmittel unseres Denkens sein, sie könnten sich vielleicht sogar als ein veraltetes oder veralterndes solches Hilfsmittel erweisen. Davon später, wenn wir zu untersuchen haben werden, ob die materialistische Weltanschauung dem Denken gegenüber notwendig ist. Und nun, welche Antwort gibt der Materialist auf unsere jetzige, kritizistische Frage? Wie begründet er sein Recht, vom Gedanken und bequemen rechnerischen Gebrauch der Atome und Kräfte zum Glauben an ihre Existenz überzugehen? Atome und Kräfte sind zunächst nur Ideen, Ideen der Naturwissenschaft. Aber Ideen, auch die Ideen einer Wissenschaft, sind darum noch keine Sachen. Die Antwort läßt nicht auf sich warten. Die Begriffe der Naturwissenschaft, hören wir von den Materialisten, seien zugleich Sachen. Hier stimme die Gleichung idea = res, wenn sie auch sonst nicht ohne weiteres stimme. Man sähe ja, daß sich nach der mechanistischen Betrachtungsweise die Tatsachen richten. Würden nicht die Gesetze der Physik und Chemie durch jede neue Erfahrung nur immer erst bestätigt? Und seien wir nicht imstande anhand der atomistisch-energetischen Theorien den Lauf der Natur sogar vorauszusagen? Das Vorhandensein eines bis dahin unbekannten Planeten hatten LEVERRIERs Rechnungen ergeben; die spätere Beobachtung bestätigte sein Resultat. Der Optiker FRESNEL bestimmte vorgängig gewisse Brechungserscheinungen. Nachher suchte er sie im Experiment auf und fand sie vor. Auf die Eigenschaften neuer Elemente vermögen ebenso unsere heutigen Chemiker aus MENDELEJEFFs Atomgewichtstabellen zu schließen. Alles Beweise, daß die Natur den mechanistischen Voraussetzungen der Physiker und Chemiker gehorcht. Hier droht ein Einwand, dem die Materialisten jedoch sofort begegnen. Das alles gelte, könnte man vom nicht-materialistischen Standpunkt aus sagen, nur für die der mechanistischen Fassung zugänglichen Erfahrungen. Aber nicht alle Erfahrungen brauchten ihr zugänglich zu sein. Es könnte sich wohl weisen, daß nur ein Teil der Wirklichkeit den Denkmitteln dieser Auffassung entspricht. Daneben könnte es ein anderes Gebiet der Wirklichkeit geben, das sich mechanistisch weder bestimmen, noch vorausbestimmen ließe. Viele glauben z. B. an ein freies Wollen. Sie halten den freien Willen für Wirklichkeit und sind überzeugt, daß es solchen gibt, gegeben hat und immer geben wird. Warum sollte nicht auch ihrer Überzeugung und ihrer Voraussage die Gunst der Tatsachen, etwas in Gestalt anderer Erfahrungen, entgegenkommen? Das ergäbe freilich ein dualistisches Bild der Wirklichkeit. Geistige Potenzen, Wertbeziehungen und persönliches Leben, das sie aneignete oder ablehnte, erschienen neben und über den Atomen und Kräfte auf der Schaubühne der Welt. Eben diese Möglichkeit schließt der Materialist von vornherein aus. Er will ja nicht bloß, daß sich Wirklichkeit nach seinen Ideen richtet, die ganze Wirklichkeit soll es tun. Es soll nichts als den Mechanismus von Atomen und Kräften in der Welt geben. Kurz, der Materialismus will ein monistisches System sein und dafür schafft er sich sofort eine methodische Grundlage. Er erklärt nämlich die Tyrannis, die Alleinherrschaft der naturwissenschaftlichen Methode, indem er jetzt sein Argument verstärkt. Solche andere Erfahrungen, wie wir sie voraussetzten, existieren nach ihm nicht und können nicht existieren. Denn die Erfahrung sei überall dieselbe und müsse es sein. Es gebe daher, behauptet er, auch nur eine Art, sie wissenschaftlich zu beobachten und das sei die mechanistische; die Prinzipien dieser Betrachtungsweise müßten allen anderen Gesichtspunkten als Norm und Maß vorangehen. Mit der Annahme amechanistischer Prinzipien dagegen werde die notwendige Einheit der Erfahrung durchbrochen. Wenn uns aber amechanistische Erfahrungen vorgetäuscht würden, so wäre das stets ein falsches, vorurteilsvolles oder nicht tief genug durchgeführtes Hinsehen. Es gebe in der Tat nichts, was der mechanistischen Betrachtung unzugänglich wäre. Das könnte höchstens so scheinen. Es läge daran, daß wir die betreffenden Dinge, z. B. die Maschinerie des Gehirns, noch nicht vollständig genug erkannt hätten. Unsere Beobachtungsmittel, unsere Mikroskope, Verkleinerungsinstrumente, Meßapparate usw. reichten bis jetzt noch nicht hin, um die letzten, hier in Betracht kommenden Feinheiten aufzuschließen. Möglich müsse es aber sein, auch die scheinbar widerstrebendsten Erfahrungen der mechanistischen Erklärung einzuordnen. Denn die physikalischen und chemischen Gesetze der letzteren seien die unverbrüchlichen Gesetze der Erfahrung selber. Sie seien allgütig und umfaßten die ganze Welt der Wirklichkeit. Hiermit kennen wir die materialistische Antwort auf unsere kritizistische Frage. Hiermit kennen wir die materialistische Antwort auf unsere kritizistische Frage. Die universale Brauchbarkeit der mechanistischen Methode zur Bestimmung und Vorausbestimmung der Erfahrung wird herangezogen, um die Wirklichkeit ihrer Denkgebilde und zwar ausschließlich ihrer Denkgebilde, zu sichern. Weil diesen alle beobachtete Erfahrung gehorche und keine Erfahrung je vorkommen könne, die ihnen nicht gehorche, deshalb seien die Denkgebilde der Naturwissenschaft mehr als bloße Abstraktionen. Ob die Materialisten mit vorstehender Antwort durchkommen werden? Sehen wir zunächst zu, was jene Behauptung von der Universalität der mechanischen Methode die Materialisten kostet; hernach ob sie mit der Berufung auf diese Universalität auch das gewinnen, was sie für die erkenntnistheoretische Rechtfertigung ihrer Weltanschauung brauchen. Die Behauptung von der notwendigen Einheit der Erfahrung und die damit zusammenhängende Behauptung, daß die Gesetze der Physik und Chemie die unaufhebbaren Gesetze der Erfahrung selbst seien, kostet die Materialisten einen gewissen Kaufpreis, den manche von ihnen gewiß ungern bezahlen werden: nämlich alle die Materialisten, die sich ihres Empirismus rühmen. Das Wort "Erfahrung" hat es ihnen angetan. Überall in ihren Büchern lesen wir die Schlagworte "Wahrnehmung, Beobachtung, Induktion". Gerade in diesem Sinne glauben sie versichern zu dürfen, daß die Gesetze der Physik und Chemie unaufhebbare Gesetze der Erfahrung sind. Aus der Beobachtung, erzählen sie uns, seien die mechanistischen und damit materialistischen Grundvorstellungen geschöpft. Die Erfahrung habe sie in immer wiederholter Weise an die Hand gegeben. Somit sei klar, daß sich die Erfahrung nach eben diesen Gesetzen in alle Ewigkeit wiederholen werde. Soweit das empiristische Glaubensbekenntnis vieler Materialisten. Sie glauben eine metaphysische Weltanschauung empiristisch begründen zu können! Das Wort "aus der Beobachtung geschöpft" in dieser Auseinandersetzung war ihnen wohl nur als ein schiefer Ausdruck untergelaufen. Wir werden denselben in ihrem Sinn gern verbessern. Atome und Kräfte kann man natürlich nicht sehen und in solchem Sinn "aus" der Beobachtung schöpfen. Dennoch gebraucht der Materialist diese Begriffe und operiert mit ihnen. Und was er sieht, Farben und Töne, das existiert für den Materialisten gerade nicht. Sie deutet er unter dem Titel "subjektiver Empfindungen" aus seinen Weltbild gerade hinweg. Kurz, das mechanistische Weltbild ist nicht "aus" der Beobachtung geschöpft, sondern eine Deutung von Beobachtungen. Aber es hat sich und das ist die eigentliche Meinung des empiristisch drapierten Materialismus, an immer neuen Beobachtungen bestätigt. Dadurch habe sich die Deutung als mehr denn als bloße Deutung erwiesen. Ihre innere Wahrscheinlichkeit sei fortwährend gestiegen und sie habe sich zur objektiven Geltung eines Induktions gesetzes herausgewachsen. Diesen Induktionsraum müssen die Materialisten aufgeben, wollen sie im Ernst vom Universalismus der mechanistischen Methode reden. Induktionsgesetze sind nie und nimmer universale Gesetze. Sie gelten immer nur für je einen bestimmten Kreis von Erscheinungen: für gleichartige Erscheinungen wie die, von denen die Induktion ausging, z. B. die elektrischen Induktionsgesetze nur für elektrische Vorgänge, die thermischen Induktionsgesetze nur für das Reich des Lichts usw. Innerhaalb derartiger Einzelkreise gelten die Induktionen. Wir dürfen, wegen der (vorauszusetzenden) Gleichförmigkeit des Naturlaufs, in der Tat erwarten, daß solche oder ähnliche Erfahrungen immer wiederkehren wie die, für die ein Induktionsgesetz ursprünglich formuliert, eine naturwissenschaftliche Deutung ursprünglich aufgestellt wurde. Man kann alle Erfahrungen, die jenem Induktionsgesetz, jener Deutung korrespondieren, als die dazu "adäquaten" Erfahrungen bezeichnen. Das mag ein großer Kreis, ein noch so großer Kreis sein. Aber nie hat man das Recht, solches Induktionsgesetz aller Erfahrung überhaupt zur Richtschnur zu machen, es künftigen Erfahrungen jeder nur möglichen Art vorzuschreiben. Man muß auf Erfahrungen, die ihm inadäquat sind, immer gefaßt sein. Aus Erfahrungen kann man eben kein alle Erfahrungen regelndes Prinzip induktiv gewinnen. Der Gedanke eines empiristischen Monismus wäre von vornherein ein Ungedanke. Das müssen sich die Materialisten klar machen. Lassen sie die mechanistischen Prinzipien aus der Erfahrung gewonnen sein, so beherrschen dieselben notwendig nur einen Teil der Erfahrung und zwar die ihnen adäquaten Erfahrungen, die etwas Gemeinsames mit den der mechanistischen Induktion zugrunde gelegten Erfahrungen haben. Aber damit ist keineswegs ausgeschlossen, daß andersartige Erfahrungskreise außerdem gegeben sein können, die sich nicht nach jenen mechanistischen Begriffen zu konstituieren brauchen. Unzugänglich den Prinzipien, die aus dem naturwissenschaftlichen Erfahrungskreis herausgestellt worden sind, können sie ihre eigene Deutung fordern und müßte unter ein neues regelndes Prinzip gestellt werden. Von solcher Art könnten z. B. die Wertprinzipien der Historiker sein. Vielmehr es ist ein Faktum, daß andere Erfahrungen nur durch Unterordnung unter diese historischen Wertprinzipien geregelt werden können. Wie durch Unterordnung einer Reihe von Erfahrungen unter mechanische Begriffe Naturwissenschaft, so ist durch Unterordnung einer anderen Reihe von Erfahrungen unter die andersartigen Begriffe der Geschichtsforschung ebenfalls eine Wissenschaft erzeugt worden. Indem sich nämlich gegebener Stoff auch ihren Begriffen fügt, haben die Historiker bisher Geschichte geschrieben und werden sie künftig Geschichte schreiben. Erst wenn der Materialist den Boden der Induktion verläßt, kann er das universale Gelten der mechanistischen Prinzipien, das ein in unserem kritizistischen Zusammenhang braucht, verteidigen. Diese Verteidigung kostet ihn die in der Tat unechten Federn seines Empirismus. Die konsequenteren Materialisten wissen das. Sie geben sich offen als Rationalisten und wollen den Universalismus der mechanischen Methode gar nicht induktiv verstanden wissen. Sie glauben deduzieren zu können, daß die mechanischen Gesetze aller Erfahrung vorzuschreiben seien. Darum lachen sie, wenn man sich auf amechanistische Erfahrungen beruft. Den Hinweis auf deren angebliche Tatsächlichkeit lehnen sie ab nicht so bloß, daß sie demselben ihr Prinzip geschlossener Naturkausalität unter Beruffung auf ihren Kreis von Erfahrungen gegenüberstellen. Sie erklären sofort und ohne daß sie meinen in der Erfahrung erst nachsehen zu brauchen, genannten Hinweis für falsch. Die bloße Annahme amechanistischen Geschehens , lehren sie, streite gegen unsere vernünftigen Einsichten und deshalb könne sie gar nicht aus irgendwelchen Beobachtungen rechtmäßig induziert worden sein. Denn in der Erfahrung könne nichts geschehen, was den höchsten Gesetzen unserer Vernunft widerspreche. Hiermit zeigt der Materialismus sein wahres Gesicht. Es ist nicht das empiristische, sondern das rationalistische; und er spielt zugleich seinen letzten höchsten Trumpf aus. Als einen Tempel der reinen Vernunft glaubt er seine Weltanschauung rühmen zu dürfen. Alle Erfahrung muß den mechanistischen Grundprinzipien nach ihm darum gehorchen, weil das die Prinzipien der denkenden Vernunft oder doch unmittelbar aus solchen abgeleitet seien. Es seien logisch notwendige Prinzipien. Meiner Herren! Die Berufung auf die Universalität der mechanischen Methode ist für die Materialisten eine Berufung auf die Vernunft geworden. Gewinnt, forscht unsere Prüfung nun weiter, der Materialist durch diese Berufung das, was er gewinnen will? Vergegenwärtigen wir uns den Zusammenhang! Gegenstand vorliegender Nachforschung ist die objektive Gültigkeit des materialistischen Systems. Zunächst erscheint es ja nur als die Hypostasierung [Substantivierung, Vergegenständlichung - wp] der mechanischen Methode. Letztere besteht darin, daß man in allen Vorgängen nichts als Bewegungen und in diesen das Spiel von Atomen und Kräften sieht. Die Begriffe, die Denkgebilde einer Methode dürfen im allgemeinen nicht ohne weiteres für Realitäten gehalten werden. Man verfällt sonst in überstürzten Begriffsrealismus. Der Materialist sieht sein System weit von so etwas entfernt. Er beansprucht das Recht, die Denkgebilde der Mechanik, Atome und Kräfte, nicht nur als Wirklichkeiten, sondern als letzte und einzige Möglichkeiten betrachten zu dürfen. Quid juris? (mit welchem Recht? - wp] Wie begründet er diesen Rechtsanspruch? Wir haben es eben gehört. Damit, daß die Grundsätze jener Methode Vernunftangebote seien und daß unseren Vernunftgeboten alle Erfahrung, die ganze Wirklichkeit gehorchen müsse. Gewinnt, fragen wir nochmals, der Materialist, der sich auf Vernunft beruft, das, was er gewinnen will? Wohl gemerkt, wir fragen nicht, hier noch nicht, ob die mechanistischen Prinzipien logisch notwendig seien, wie man uns versichert. Uns interessiert, daß sich der Materialist auf die Vernunft beruft und wir wünschen zu wissen, ob ihn das in seiner erkenntnistheoretischen Rechtfertigung weiterbringt. Was sollen wir uns in einem materialistischen System unter "Vernunft" eigentlich denken? Die Materialisten berufen sich auf sie und sagen von ihr Übereinstimmung mit der Natur aus. Ein Spiegel der Wirklichkeit stehe sie in prästabilisierter Harmonie mit den Dingen. Gemach! Wir möchten vor allem erst hören, was das für ein Ding ist, - Vernunft? Die Materialisten können sich natürlich nur auf einen materialistischen Begriff von Vernunft berufen. Was ist das für ein Begriff? Und trägt nun auch dieser Begriff die von ihnen behauptete Übereinstimmung mit der Wirklichkeit? Zunächst, was ist "Vernunft" nach den Materialisten? Bisher haben wir in ihrem System nur von Atomen und Kräften gehört. Wa aber sind die Atome und Kräfte, aus denen die Vernunft bestehen müßte, um für die Materialisten da zu sein? Wo sind die Bewegungen, in denen sich dieses x äußern müßte, um mechanisch wirksam zu sein, die einzige Wirksamkeit, die der Materialist kennt und konstatieren kann? Die Materialisten antworten, ein System von Atomen und Kräften sei die Vernunft freilich nicht. Aber es gebe ein System von Atomen und Kräften, als dessen Innenseite sie erscheine, das Gehirn. Diese Innenseitetheorie wird uns später beschäftigen (zweiter Vortrag). Die Vernunft als Innenseite des Gehirns -; leicht faßlich ist der Gedanke sicherlich nicht, doch hören wir weiter! Dieser seltsame Begriff, "Vernunft" genannt, die Innenseite unseres Gehirns, soll ein noch seltsameres Vermögen besitzen. Der Weltlauf soll mit ihr in prästabilisierter Harmonie stehen und deshalb auch mit den mechanistisch-materialistischen Prinzipien, die ja die Grundsätze der Vernunft oder doch aus ihnen abgeleitet seien. Aber warum muß der Vernunft die Wirklichkeit entsprechen? Warum insbesondere der materialistischen Vernunft, die die bloße Innenseite von Gehirnen ist? Man kennt die Tragweite dieser Fragen aus der Geschichte der Philosophie. Auch DESCARTES hatte einst gemeint, die logischen Gesetze seien mehr als bloße Ideen, mehr als Gedankengespinste der menschlichen Vernunft. Sie sollten zugleich die Welt der Wirklichkeit umfassen. Nach DESCARTES sollten sie es deshalb tun, weil Gott jene Gesetze unserer Vernunft, bei Entstehung der letzteren, eingeflößt habe. Gottes, des Weltbaumeisters Güte, garantiere die Weltgeltung dieser logischen Gedanken, die er selbst uns mitgeteilt. Anders hatte KANT das Problem der prästabilisierten Harmonie zu lösen versucht. Dies, indem er die göttliche Intervention verabschiedete. Daß sich den Einsichten unserer Vernunft im voraus alle Erfahrung füge und fügen müsse, bliebe nach KANT unerklärlich, wenn wir die Wirklichkeit selber in unseren Erfahrungen erlebten. Auf wirkliche Dinge hätten unsere Gedanken natürlich keinen Einfluß. Gerade, weil die Welt unserer Erfahrung den Ideen in unserem Kopf gehorche, könne erstere auch nur eine Welt in unserem Kopf, d. h. bloße Erscheinung sein. Die Erfahrungswelt werde von uns aus unseren Empfindungen mittels jener Vernunftideen erst aufgebaut und sei nun diesen es ipso [ganz selbstverständlich - wp] immer gemäß. Der Materialismus behauptet abermals eine prästabilisierte Harmonie zwischen Vernunft und Wirklichkeit. Wie begründet er dieselbe? Dem älteren, bloß mechanistischen Materialismus fehlte die Antwort. Um so sicherer glaubt der moderne, evolutionistische Materialismus die gewünschte Rechenschaft geben zu können. War nach KANT Erfahrung ein Produkt der Vernunft, so gilt umgekehrt dem evolutionistischen Materialismus Vernunft als ein Produkt der Erfahrung. Vernunft, d. i. der Außenwelt angepaßte Gehirnfunktion, sei ein Selektions- und Entwicklungsprodukt. Durch Auslese und Vererbung sei sie im Laufe der Generationen immer mehr vervollkommnet und ein immer besserer Spiegel der Wirklichkeit geworden. Darum erscheine uns jetzt wahr, was mit der Wirklichkeit übereinstimme, falsch, was in ihr keine Stätte habe. Umgekehrt, was uns (jetzt) wahr erscheine, sei wegen der durch Millionen Generationen hindurch immer mehr vervollkommneten Anpassung unserer Gehirnfunktionen an die Außenwelt als dieser entsprechend verbürgt; was uns falsch erscheine, sei ebenso als der Wirklichkeit widersprechend verbürgt. Diese Bürgschaft sei am stärksten, wo die Denknotwendigkeit, jener Zwang, eine Idee für wahr zu halten, am größten sei. Dies geschehe in den höchsten Notwendigkeiten des Denkens. In ihnen mache sich die Wirklichkeit selbst fühlbar, wie wir sie in ihren allgemeinsten Zügen immer gleichmäßig wiederkehrend von je und je erlebt hätten. Solche letzten Denknotwendigkeiten seien für uns die obersten logischen Gesetze. Mit diesen sei das letzte Wesen der Wirklichkeit gleichsam in die Konstitution unseres Denkens übergegangen. Ihr unwiderstehlicher Denkzwang böte sich von selbst als Leitfaden zur Beurteilung der Wirklichkeit dar. Er sei der einzig mögliche und zugleich der einzig zuverlässige. Das ist scheinbar ein glänzender Abschluß der Weltanschauung des Materialismus. Es sieht beinahe so aus, als ob er sein Spiel gewonnen habe. Daß es verloren ist, daß sich dieser gefeierte Begriff der Vernunft gegen die Materialisten kehrt, daß er über ihr Weltbild in eine andere tiefere Wirklichkeit hinausweist, behaupte ich und es läßt sich unschwer zeigen. Wir stehen in der Tat vor der erkenntnistheoretischen Katastrophe des Materialismus. Sein metaphysisches System bricht in sich zusammen und das aus zwei Gründen:
Zweitens: Zu diesem negativen Fazit gesellt sich ein zweites. Denkzwang, unser inwendigster Denkzwang, sollen die logischen Gesetze sein. Vielmehr als seinen inwendigsten Denkzwang proklamiert sie der Materialist. Logische Gesetze, möchte ich meinen, sind Ausdrücke der Wahrheit, einer überempirischen Wahrheit, in die wir hineinblicken, die in den logischen Gesetzen sich selbst konstituiert und sie dadurch einleuchtend macht. So ein überempirisches Wesen der Wahrheit kennt der Materialist nicht. Er kennt keine logischen Idealgesetze (1), er kennt nur subjektive Denkgesetze. In dem, was sich uns mit allerstärkster Denknötigung aufdrängt, was uns die jeweilige Einrichtung unseres Denkens mit unwiderstehlichem Glaubenszwang einflößt, soll Wahrheit und, wegen der Anpassung unseres Denkens an die Außenwelt, Wirklichkeit stecken. Das ist eine Subjektivierung der Wahrheit, auf die wir jetzt stoßen, wie wir vorhin auf die Relativierung der Vernunft stießen. Hiermit sehen wir die erkenntnistheoretische Begründung, mit der der Materialist seine Metaphysik hatte rechtfertigen wollen, völlig zusammengebrochen. Auf "Vernunft" soll sein System fußen und wenn er das versichert, braucht er das Wort im gewöhnlichen Sinn der "einsichtigen Erkenntnis absoluter Wahrheit". In seinem System aber erhält "Vernunft" einen Begriff, auf dem nichts fußen kann. Wer nach diesem x des Materialismus greifen will, das die bloße Innenseite von Atomen und Kräften bildet, das sich im rastlosen Strom der Entwicklung, vielleicht schon mit dem gewöhnlichen Spiel jener Atome und Kräfte, ständig ändert, das endlich nur im blinden Zwang sich stark aufdrängender und häufig wiederholter Vorstellungen besteht, der greift mit den Händen in die Luft. So kehren sich die Begriffe "Vernunft" und "Wahrheit", auf deren Namen sich der Materialist beruft, vielmehr gegen ihn. Sein System ist nicht erkenntnistheoretisch in sich geschlossen und kann es niemals werden. Es ist des Übergangs von einem leeren Begriffsrealismus zu gesicherter Wirklichkeitsgeltung innerlich unfähig.
1) Ich beziehe mich hier auf HUSSERL, Logische Untersuchungen, 2 Teile, Halle, 1900 und 1901 |