A. HorwiczG. K. UphuesCondillacH. G. SulzerH. MaierJ. Orth | ||||
Das Gefühl [ 1 / 2 ]
Einleitung Nun war es gewiß wertvoll, diese Einsicht in den phänomenalen Charakter unseres Weltbildes herauszuarbeiten, und war es berechtigt, dabei auch ins Einzelne und Subtile zu gehen. Aber auf der anderen Seite ist es doch notwendig, über diese erkenntnistheoretischen Untersuchungen endlich einmal hinwegzukommen, wenn wir nicht scholastisch werden und in der erkenntnistheoretischen Bewegung des 19. Jahrhunderts ein Seitenstück zum Universalienstreit des Mittelalters liefern wollen. Aus PRANTLs "Geschichte der Logik" gähnt uns die ganze Öde und Leere dieses langen Streites und der darauf gerichteten wissenschaftlichen Arbeit entgegen, und in den vielen kleinen und kleinlichen Kräuselungen und Meinungsnuancen derselben sehen wir heute nur noch wertlose Subtilitäten und eitel Zeitvergeudung. Ich denke, wir hätten Grund, dafür zu sorgen, daß von unserer philosophischen Arbeit spätere Jahrhunderte nicht ebenso hart urteilen müssen. Und dazu sind wir auf dem besten Weg. Wir haben in der Tat allmählich das erkenntnistheoretische Interesse zurücktreten lassen, die Zeit selbst hat uns andere höhere Aufgaben gestellt. Fragen der Ethik und Fragen der Religion bewegen heute die Gemüter; auf sie kann nur die Philosophie eine prinzipielle Antwort geben, man erwartet sie von ihr; das Gefühl, daß es ohne eine geschlossene Weltanschauung nicht geht in Welt und Leben, ist wieder erwacht; eine besondere Zeitschrift ist gegründet, die eine einheitliche, allgemeine und den Fortschritten der modernen Kultur entsprechende Weltanschauung finden möchte. Diese sich uns entgegenstreckende Hand müssen wir ergreifen; die Fühlung der Philosophie mit dem Leben ist kein Schaden, sondern ein Gewinn. Und wir sind ja auch schon an der Arbeit: die Moralphilosophie hat in den letzten Jahrzehnten eine stattliche Anzahl von Bearbeitern gefunden, Sozialismus und Individualismus liegen hier in hartem Streit, der Versuch, sie zu versöhnen und zu vereinigen, wird im 20. Jahrhundert die Hauptaufgabe der Ethik sein. Und ebenso dürfen religionsphilosophische Untersuchungen wieder auf lebhaftere Teilnahme rechnen. Die klägliche Hilflosigkeit, die sich bei den Debatten über das Verhältnis von Sittlichkeit und Religion, Religion und Politik, Religion und Schule immer wieder zeigt, gibt hier direkt aus der Praxis heraus mächtige Impulse, und dazu kommt eine wachsende religiöse Strömung in weiten Kreisen, die sich einer ebenso wachsenden Ablehnung alles Religösen gegenüber sieht; und in den Kirchen selbst zeigen sich Schwierigkeiten und Risse, die nur durch ein Eindringen in das Wesen der Religion verstanden und so oder so beseitigt oder ertragen werden können. Wie aber Ethik und Religionsphilosophie in unserem sich immer erst historisch orienterenden Jahrhundert Stoff und Stütze suchen müssen bei der Geschichte und ihren Ergebnissen, so bedürfen sie auf der anderen Seite noch einer zweiten Anlehnung - bei der Psychologie. Und auch dabei kommt ihnen ein Zeitinteresse zustatten, das naturwissenschaftliche. Da, wo das Psychologische mit dem Physiologischen zusammenhängt, auf jenem Grenzgebiet der "Psychophysik" ist man lange schon in gedeihlicher Arbeit begriffen: mit naturwissenschaftlichen Methoden so weit als möglich vor und so tief als möglich einzudringen in das menschliche Seelenleben, ist hier Aufgabe und Bemühen; und jedes kleinste Ergebnis ist angesichts der Schwierigkeit der Sache ein Gewinn und ein Triumph. Allein so hoch ich den Wert jener Experimentalpsychologie veranschlage, wie sie von WUNDT und seinen zahlreichen jüngeren Mitarbeitern und Nachfahren betrieben wird, und so sympathisch mir FECHNERs Versuch ist, selbst auf dem Gebiet der Ästhetik mit Experiment und empirischer Beobachtung festen Fuß zu fassen, so kann ich doch nicht verkennen, daß weder die Ästhetik noch die Ethik und Religionsphilosophie durch diesen naturwissenschaftlichen Betrieb der Psychologie eine erhebliche Förderung erfahren haben oder sich für absehbare Zeit solche von ihm versprechen dürfen. Vor allem deshalb nicht, weil der wichtigste Faktor des Seelenlebens auf allen diesen Gebieten einer solchen Art der Forschung sich am sprödesten und am wenigsten zugänglich erweist - das Gefühl. Woher das kommt, werden wir sehen. Hier gilt es nur die Tatsache festzustellen und zugleich ein Weiteres hinzuzufügen. Es hat lange Zeit an psychologischen Untersuchungen über das Gefühl ganz gefehlt, und allzu zahlreich und mannigfaltig sind sie immer noch nicht. Und ebenso spärlich sind rein psychologische Beschreibungen, an eine Analyse, Interpretation und Theorie des Gefühlslebens im ganzen haben sich nur weinge gewagt. Das hat seine guten Gründe. Das Gefühl ist das dunkelste und unklarste, das verborgenste und tiefste Element des Seelenlebens. Daher dauerte es lange, bis es überhaupt in seiner relativen Selbständigkeit und Bedeutung erkannt, bis es auch nur benannt wurde. ROUSSEAU mußte erst die Sprache des Gefühls geredet haben, ehe TETENS (1) es wagen konnte, das Gefühl dem Denken und dem Wollen zu koordinieren. Und dann kam KANT, dessen einseitiges Vernunftinteresse alsbald wieder für das Gefühl und für das Recht desselben verhängnisvoll wurde: in den Adern des erkennenden Subjekts, so wie er es konstruiert hat, rinnt, wie DILTHEY (2) hübsch sagt, nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit. Und auf praktischem Gebiet schlug sein anti-eudämonistischer Pflichtbegriff auch die berechtigtsten Ansprüche des Gefühls erbarmungslos nieder und verwies es als unebenbürtig aus der anständigen Gesellschaft der Vernunft hinaus in die niedere Region der Sinnlichkeit. (3) Wohl kamen nach KANT bessere Zeiten für das Gefühlsleben, die Poesie wurde eine Macht im Leben unseres Volkes, und der Zauber der Romantik erfüllte die Geister und umnebelte die Sinne. Allein gerade diese Art der Gefühlspflege mit ihren für das deutsche Geistesleben so verhängnisvollen Wirkungen brachte das Gefühl aufs Neue in Verruf: den einzigen wirklichen Gewinn zog SCHLEIERMACHER für die Erkenntnis der Religion und ihres Wesens; die Psychologie dagegen wurde wenig davon berührt, und im Ganzen siegte der Panlogismus HEGEL, der bei tiefstem und feinstem Verständnis gerade auch für religiöse und ästhetische Fragen der gefühlsmäßigen Seite derselben doch niemals ganz gerecht geworden ist. Diejenige Philosophie aber, die wirklich in der Psychologie ihre Stärke suchte, die HERBARTsche, konnte mit ihrem Vorstellungsmechanismus, in den sie das ganze Seelenleben auflöste, dem Gefühl am allerwenigsten beikommen; darüber täuscht auch das liebenswürdige Büchlein von NAHLOWSKY (4) nicht hinweg. Und wenn man endlich von SCHOPENHAUER Hilfe erwartete, dessen Pessimismus ja freilich einen stark gefühlsmäßigen Hintergrund hat, so ging doch auch bei ihm angesichts seiner Willensmetaphysik das Gefühl schließlich wieder leer aus. Auch bei WUNDT zeigte sich, anfangs wenigstens, wie unter dem Einfluß einer metaphysischen Willenslehre gerade das Gefühl am meisten verkürzt werden mußte (5), selbst wenn das Gegengewicht scharfer psychologischer Beobachtung vorhanden ist. Allein wenn wir auch verstehen, wie es so gekommen ist, so muß es darum doch nicht so bleiben. Und auf dafür, daß wir auf dem besten Weg sind, dieses Unrecht gutzumachen und diese Lücke auszufüllen, liegen Anzeichen vor, und sie mehren sich zusehends. Schon 1883 hat DILTHEY (6) von der erkenntnistheoretischen Seite aus die Forderung aufgestellt, Erfahrung und Erkenntnis nicht länger mehr nur aus einem dem bloßen Vorstellen angehörigen Tatbestand zu erklären, sondern den ganzen Menschen in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, als wollendes, fühlendes, vorstellendes Wesen auch der Erklärung der Erkenntnis und ihrer Begriffe zugrunde zu legen. Von ethischer Seite habe neben anderen ich (7) auf die Bedeutung und Wichtigkeit der gefühlsmäßigen Grundlage des Sittlichen hingewiesen und zur Begründung der Ästhetik versuchte MAX DIEZ (8) eine "Theorie des Gefühls" aufzustellen, die freilich in ihrem psychologischen Teil recht unbefriedigend ausgefallen ist. Und endlich ist auch metaphysisch von FERDINAND Ritter von FELDEGG (9) der Willensmetaphysik "das Gefühl als Fundament der Weltordnung" gegenübergestellt worden, leider in durchaus dilettantischer und unklarer Weise, aber vielleicht lag dem Versuch doch ein richtiges Gefühl zugrunde. Am frühesten wurde jedoch von psychologischer Seite selbst und zwar sofrt in umfassender und genialer Weise der Versuch gemacht, das Gefühl in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen und ihm im Seelenleben den Primat einzuräumen. Ich meine die "Psychologischen Analysen auf physiologischer Grundlage", die ihr Verfasser ADOLF HORWICZ (10) selbst als "Versuch zur Neubegründung der Seelenlehre" bezeichnet hat. Wie EUGEN KRÖNER (11) in seinen Untersuchungen über "das körperliche Gefühl", so stehe auch ich im Folgenden auf dem Standpunkt von HORWICZ und bekenne mich gern als vielfach von ihm abhängig und beeinflußt. Auf ihn möchte ich daher gleich hier ein für allemal verwiesen haben. Den Vorwurf der Unselbständigkeit werde ich daneben doch nicht zu fürchten brauchen. Vielleicht wäre allein schon das Verdienst, seine feinsinnigen psychologischen Analysen aus der Verschlingung mit bodenlosen, lediglich in der Luft schwebenden physiologischen Hypothesen befreit zu haben, die ihnen von vornherein Wert und und Anerkennung rauben mußten. Allein auch im Psychologischen blieb für Eigenes Raum genug übrig; denn in der Zwischenzeit haben wir doch alle recht vieles hinzugelernt; ich vor allem von WUNDT, mit dem HORWICZ in scharfer Fehde die Waffen gekreuzt hat (12), während ich denke, daß man zwar dem einen im Prinzip recht geben kann, darum aber doch von den wertvollen Untersuchungen des andern Vorteil zu ziehen und sich belehren zu lassen darf. Vor allem aber hat inzwischen WUNDT selber und hat die experimentelle Schule in Anlehnung oder im Gegensatz zu ihm das Versäumnis, soweit ein solches vorlag, gutgemacht. Noch vor dem ersten Erscheinen meiner Schrift hat LEHMANN (13) eine experimentelle und analytische Untersuchung der Gefühlszustände in Beantwortung einer von der dänischen Akademie der Wissenschaften gestellten Preisfrage veröffentlicht. Und seither bemerkt man das steigende Interesse für die Psychologie des Gefühls in jeder Gesamtdarstellung dieser Disziplin, ich nenne nur EBBINGHAUS, JODL, KÜLPE und LIPPS. Und auch an Einzeluntersuchungen über das Gefühl, experimentellen und anderen, so von LIPPS (14), ORTH (15), RIBOT (16) und in vielen Abhandlungen der "Psychologischen Studien" und des "Archivs für die gesamte Psychologie", fehlt es heute nicht mehr. Wie nun aber gerade ich dazu gekommen bin, mich mit der Lehre vom Gefühl zu beschäftigen, ist kurz gesagt und soll gesagt werden, um zu zeigen, daß es eben jene oben genanten allgemeinen Interessen sind, die, nur in individueller Form, auch mich bewegen. Es waren ursprünglich ethische und soziale Fragen, die es mir wünschenswert erscheinen ließen, das Motto aller Motive, den Bestimmungsgrund allen menschlichen Handelns im Gefühl zu suchen und dieses daraufhin einer umfassenden Untersuchung zu unterziehen, um so für die Ethik einen festen Grund zu legen. Auch ästhetische Probleme haben mich derzeit lebhaft angezogen und sind mir in Vorlesungen und in Kritiken theoretisch und praktisch immer wieder nahe getreten. Und wenn ich der Theologie auch früh schon untreu geworden bin, so habe ich als Pantheist, der ich bin (17), doch zuviel von SCHLEIERMACHERs Abhängigkeitsgefühl in mir, um nicht für das religiöse Leben und Erleben in mir und außer mir, wenn auch vielfach nur in hypothetischem Nachempfinden, Sinn und Auge geschärft zu haben: bald sind es die großen religiösen Fragen der Zeit und die darum geführten Kämpfe, bald ist es eine religiöse Persönlichkeit wie SCHREMPF oder die Beschäftigung mit der Biographie von DAVID FRIEDRICH STRAUSS, und endlich die stille Ferienruhe im Schoß einer herrnhuterischen Gemeinde, was mich zum Nachdenken über Religion und religiöses Leben auffordert. (18) Allein ich würde mir doch selbst unrecht tun, wenn ich nicht das psychologische Interesse rein als solches voranstellte. Seit ich bei SIGWART in Tübingen die Psychologie als empirische Wissenschaft kennen gelernt habe, hat sie mich nicht mehr losgelassen; und seit ich hier in Straßburg Philosophie lehre, lege ich selbst auf meine psychologischen Vorlesungen das Hauptgewicht; und in ihnen trage ich im wesentlichen die Grundanschauungen vor, die ich in diesem Buch vor fünfzehn Jahren zum erstenmal ausgeführt und in denen mich das jedesmal wieder sich erneuernde Durchdenken dieser Probleme und die Bekanntschaft mit den Ergebnissen der psychologischen Forschung nur immer mehr befestigt hat. Deshalb bezeichne ich diese Untersuchungen mit Recht als psychologische, wenn ich mir auch im Voraus das Recht wahre, in das ethische, ästhetische und religionsphilosophische Gebiet gelegentlich größere Abschweifungen zu machen. Wie ich die Psychologie auffasse, ist schon gesagt - lediglich als empirische Wissenschaft, so entschieden, daß ich mich geradez mit F. A. LANGE zum Grundsatz einer Psychologie ohne psyche, einer Seelenlehre ohne Seele bekenne, d. h. ich suche die seelischen Erscheinungen zu erkennen und in ihre Elemente aufzulösen, gestehe aber, nicht zu wissen, was die Seele ist und ob es eine solche gibt; und über dem Bemühen um die Erforschung jener fehlt mir ehrlich gesprochen Zeit und Luft zu Hypothesen über dieselbe. Nicht einmal um die Frage nach dem psychophysischen Parallelismus mache ich mir in dieser Untersuchung über das Gefühl große Sorge. Weil ich mir aber für sie, soweit es sich nicht speziell um die sinnlich-körperlichen Gefühle im engeren Sinn handelt, nicht allzuviel Erfolg von Anleihen bei der Physiologie und vom experimentellen Verfahren sprechen kann, so wie die Dinge heute liegen (19), deshalb ist meine Untersuchung - abgesehen von dem Kapitel über das körperliche Gefühl - eine rein psychologische. Was ich an mir und anderen beobachtet und wahrgenommen habe (ob Selbstbeobachtung oder Selbstwahrnehmung, darüber streite ich nicht), und was mir als Gefühlsgehalt in den überindividuellen Mächten und Institutionen der Menschenwelt entgegentritt, das suche ich zu beschreiben, zu interpretieren und zu analysieren. Wenn ich dabei auf Gesetze stoße, umso besser. Eine "Psychologie in Umrissen auf Grundlage der Erfahrung" (20) - das scheint mir jedenfalls nach der Seite des Gefühls hin noch immer das einzig Mögliche und das einzig Richtige. Bleibt aber bei all dem da und dort der Schein des Individuellen, so wäre das auch nicht das Schlimmste: ich wollte, wir hätten recht viele ganz individuelle Darlegungen des Gefühlslebens (21), dann wäre auch die Gefühlslehre als allgemeingültige weiter, als sie es in Wirklichkeit ist (22). Mehr fürchte ich den Vorwurf des Hypothetischen; und doch läßt sich das nur schwer vermeiden bei Erscheinungen, die vielfach vom Bewußtsein selbst wenig bemerkt und kaum verstanden, in der Sprache nicht besonders bezeichnet und von einander unterschieden, ins Unbewußt-Unbestimmte zu verschwinden und sich zu verlieren drohen. Übrigens ist auch die Chemie, mit der ein solches Verfahren in gewissem Sinn verglichen werden kann, von hypothetischen Annahmen durchzogen. Ganz besondere Schwierigkeiten hat mir die Anordnung des Stoffes gemacht, und ich wage nicht zu behaupten, daß ich derselben völlig Herr geworden sei. Nur das weiß ich, daß die gewählte Disposition für die Darlegung der Resultate meiner Untersuchung notwendig war. Freilich ist sie weder die, in welcher ich selbst zu diesen Ergebnissen geführt worden bin, noch ist sie eine logisch korrekte und einwandfreie. Mit einem gewissen Wagemut werfe ich mich zuerst auf die schwierigste, die Bewußtseinsfrage, indem ich mir von LESSING (23) gesagt sein lasse, daß man das Brett immer noch da bohren müsse, wo es am dicksten sei: hier finde ich das Problem, hier ist Rhodus, hier gilt es zu springen. Und zugleich liegt für mich an diesem Punkt das psychologische Interesse der ganzen Untersuchung. Was hat das Gefühl mit dem Bewußtsein zu schaffen? Sehr viel, meine ich, viel mehr, als man gewöhnlich sieht und ahnt, das wollte ich zeigen, und darum galt es hier einzusetzen. Habe ich aber dargelegt, welche Rolle das Gefühl im Bewußtsein spielt, so folgt naturgemäß sofort die Frage: Was ist denn nun Gefühl? Ehe ich sie beantworten kann, muß ich erst Material dazu haben und gewinne das am besten, wenn ich das Gefühl sozusagen an seiner Eintritts- und Ursprungsstelle, in seiner primitivsten Form und Gestalt als körperliches Gefühl aufsuche und betrachte. Und ich muß umso mehr damit beginnen, als ja überhaupt die Frage aufgeworfen worden ist, ob körperliches Gefühl auch wirklich Gefühl sei. So drängt die Darstellung der körperlichen Gefühle ganz von selbst zur Entscheidung, was man unter Gefühl im allgemeinen zu verstehen habe. Und nun erst kann eine systematische Übersicht über das Gefühl in seiner Verzweigung und Verästelung, seinem Verlauf und seinen verschiedenen Formen folgen. Zugleich ist dies der Ort für jene in Aussicht genommenen ästhetischen, ethischen und religionsphilosophischen Exkurse, die aber doch auch als Probe für die Richtigkeit der allgemeinen Aufstellungen über das Wesen des Gefühls dienen können. Dabei und bei ähnlichen Erweiterungen in der Lehre von den Gefühlsäußerungen schwebt mir so etwas wie eine Kulturgeschichte des Gefühlslebens vor. Nicht als ob ich selbst eine solche hier hätte schreiben wollen. Nur in leichten Strichen und Zügen wollte ich dem Gefühl in seinem Einfluß auf das Leben des Menschen und der Menschheit nachgehen und auf eine solche umfassende Darstellung als auf ein Desiderat und ein künftig einmal zu Leistendes hinweisen. Während sich hierbei die Beziehung des Gefühls zum Vorstellen und Denken sozusagen nebenher wird feststellen lassen, bleibt dagegen das Verhältnis zum Wollen im Ungewissen und muß darum noch besonders erwogen werden, umso mehr als der gegenwärtig herrschende Glaube an den Primat des Willens einer Zerlegung und Zersetzung desselben in seine Faktoren vielfach hindernd im Weg steht, die Willensmetaphysik die Willenspsychologie eine Zeitlang recht ungünstig beeinflußt hat. Die Kürze des Schlußkapitels über die Abnormitäten des Gefühlslebens mag endlich schon hier darauf hinweisen, daß ich mir von der Beobachtung des gesunden Gefühlslebens mehr verspreche als von der des kranken und daß ich der Meinung bin, man müsse das Abnorme aus dem Normalen heraus zu verstehen und zu deuten suchen, nicht umgekehrt. Wer an Hypnotisierten Psychologie studieren und treiben will, geht notwendig irre und endet wahrscheinlich im Spiritismus und in der vierten Dimension. Wie weit wir dann am Schluß zu einer Entscheidung darüber kommen, ob wir im Gefühl etwa das Grundelement des Seelenlebens entdeckt haben, und wie weit wir uns mit metaphysischen Vermutungen vorwagen dürfen, das zu sagen möge dem Schluß selbst vorbehalten bleiben. Hier hat es sich ja nur darum gehandelt, den Ausgangspunkt dieser Untersuchung anzugeben und ihren Gang in seinen mannigfachen Verschlingungen zu skizzieren und vorläufig zu rechtfertigen. Das Verschlungene des Weges sollte, wie ich hoffe, der Übersichtlichkeit doch keinen Eintrag getan haben. Und nun zur Sache!
1) TETENS, Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung, 1776, Bd. I, Seite 166: "Nächst dem Vorstellungsvermögen gehört auch das Gefühl, und vielleicht das letztere noch mehr als jenes, zu den einfachsten Grundäußerungen der Seele." Es ist übrigens auch kulturhistorisch interessant, zu sehen, wie unter dem Einfluß ROUSSEAUs die deutsche Verstandesaufklärung - sentimental wird. 2) WILHELM DILTHEY, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Vorrede, Seite XVII 3) ALFRED HEGLER, Die Psychologie in Kants Ethik, z. B. Seite 57 und 229. 4) JOSEPH W. NAHLOWSKY, das Gefühlsleben in seinen wesentlichsten Erscheinungen und Bezügen, 2. Auflage 884. In der dritten Auflage hat das Büchlein durch die Vorrede des Herausgebers UFER leider den Anspruch auf das Prädikat der Liebenswürdigkeit ziemlich eingebüßt. Und auch sein sprachreinigender Eifer hat demselben nur geschadet. 5) Ich habe darauf in einer Besprechung von WUNDTs "System der Philosophie" in den Göttingische Gelehrten Anzeigen 1890, Nr. 11 hingewiesen. Inzwischen hat WUNDT dem Gefühl in immer steigendem Maße Recht widerfahren lassen, seine Gefühlslehre hat, wie JOHANNES ORTH, Gefühl und Bewußtseinslage, 1903, Seite 21 richtig sagt, "einen bedeutenden Wandlungsprozeß" durchlaufen. 6) WILHELM DILTHEY, a. a. O. 7) ZIEGLER, Sittliches Sein und sittliches Werden, Seite 56 8) MAX DIEZ, Theorie des Gefühls zur Begründung der Ästhetik, 1892 9) FERDINAND Ritter von FELDEGG, Das Gefühl als Fundament der Weltordnung, 1890 10) ADOLF HORWICZ, Psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage. Ein Versuch zur Neubegründung der Seelenlehre. Bd. 1 - 1872. Bd. 2-1 - 1875. Bd. 2-2 - 1878 11) EUGEN KRÖNER, Das körperliche Gefühl - ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Geistes, 1887 12) Im 3. und 4. Jahrgang der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie. 13) ALFRED LEHMANN, Die Hauptgesetze des menschlichen Gefühlslebens. Eine experimentelle und analytische Untersuchung über die Natur und das Auftreten der Gefühlszustände, nebst einem Beitrag zu deren Systematik, übersetzt von F. BENDIXEN, Leipzig 1892 14) THEODOR LIPPS, "Vom Fühlen, Wollen und Denken", 2. Auflage 1907 15) JOHANNES ORTH, Gefühl und Bewußtseinslage, 1903 16) THEODULE RIBOT, Psychologie des sentiments, 1896; vgl. auch von demselben "La Logique des sentiments", 1905 und "Essai sur les passion", 1907 17) Das Märchen von meinem "Positivismus", das HEINZE im ÜBERWEGschen Grundriß aufgebracht hat, dürfte nun doch endlich aus diesem verschwinden. Wer von Haus aus Hegelianer, erkenntnistheoretisch Apriorist und metaphysisch Pantheist ist, wird doch sonst nicht zu den Positivisten gerechnet. 18) THEOBALD ZIEGLER, Religion und Religionen, Fünf Vorträge, Stuttgart 1893, verschiedene Aufsätze über CHRISTOPH SCHREMPF in der Beilage zur "Allgemeinen Zeitung", Nr. 24, 1892, Seite 182, 228, 299; Nr. 25, 1893, meine Rektoratsrede "Glauben und Wissen", Straßburg 1899 und mein Buch über DAVID FRIEDRICH STRAUSS I, 1908. 19) In dieser Skepsis bestärken mich Arbeiten wie die von STÖRRING, Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Gefühl (Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. VI, Seite 316f) oder von TITCHENER, Ein Versuch, die Methode der paarweisen Vergleichung auf die verschiedenen Gefühlsrichtungen anzuwenden (Philosophische Studien, Bd. 20, Seite 382f) oder von ALECHSIEFF, Die Grundformen der Gefühle (Psychologische Studien, Bd. 3, Heft 2 u. 3, (Seite 156 - 271) Der letztere kommt selber zu folgendem Schluß: "Die Methoden, die für die Untersuchung der Gefühle in der heutigen Psychologie gebraucht werden, sind noch nicht so weit fortgeschritten, daß wir mit ihrer Anwendung bei der Erforschung des menschlichen Gefühlslebens zu vollständig eindeutigen und allgemeingültigen Ergebnissen kommen können ... Es bleiben immer noch viele Gefühlserlebnisse, besonders die feineren qualitativen Abstufungen einer objektiven Kontrolle entzogen." Dieser 1907 geschriebene Satz bezeichnet, wie ich meine, den heutigen Stand der experimentellen Gefühlspsychologie ganz richtig. 20) Das ist der Titel des feinsinnigen Buches von HARALD HÖFFDING, übersetzt von BENDIXEN, 1. Auflage 1887, dem ich wie in der Ethik so auch in der Psychologie zu großem Dank für vielfache Anregung und Belehrung verpflichtet bin. 21) Künstler und Pietisten liefern dafür in Selbstzeugnissen, Bekenntnissen und Autobiographien vorläufig fast allein den Stoff. 22) Das gilt trotz ALBRECHT KRAUSE, "Die Gesetze des menschlichen Herzens", wissenschaftlich dargestellt. 23) Man hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß LESSING ja gerade im Gegenteil sage, er wolle das Brett nicht bohren, wo es am dicksten sei. Wie klug die Kritiker doch oft sind! |