ra-1p-4 A. Messervon WieseH. HöffdingA. BrunswigA. Meinong    
 
THEODOR LIPPS
Einheiten und Relationen
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"Voraussetzung aller Relationen überhaupt ist das Bezogensein aller meiner gegenständlichen Bewußtseinsinhalte auf mich, nämlich auf das unmittelbar erlebte Ich, das Gefühls-Ich oder das Ich-Gefühl. Ich meine jenes allgemeine Bezogensein auf das Ich, wodurch die Bewußtseinsinhalte erst  meine  Inhalte oder  meine Bewußtseinsinhalte  werden, das Bezogensein aller Bewußtseinsinhalte, Gegenstände, Objekte, auf das Subjekt, ohne welches die  Inhalte, Gegenstände, Objekte,  und nicht minder die Begriffe des Empfindens, Wahrnehmens, Vorstellens, Denkens und schließlich alle psychologischen Begriffe überhaupt sinnlos und ihr Gebrauch gedankenlos wäre."

"Der Gegenstand, der jetzt für mich besteht oder sich als solcher mir darstellt, der von mir jetzt gedacht oder  gemeint  ist, ist ein gegenwärtiges psychisches Erlebnis. Er ist das Wirken eines mir, d. h. meinem gegenwärtigen psychischen Lebenszusammenhang Fremden oder Jenseitigen, d. h. von ihm im Ganzen oder in seinen Elementen Unabhängigen,  innerhalb  dieses gegenwärtigen psychischen Lebenszusammenhanges.  Der Gegenstand steckt  in jedem gegenwärtigen gegenständlichen Erlebnis, d. h. er steckt in jeder Empfindung, Wahrnehmung, in jedem Vorstellen und Denken. Jedes solche Erlebnis oder jeder psychische Vorgang hat diese  Gegenstandsseite;  in jeden psychischen Vorgang ragt und wirkt ein solches Fremdes oder Gegebenes oder Gesetztes, kurz von ihm unabhängig Bestehendes hinein."


Einleitung

Die folgende Untersuchung kann angesehen werden als eine Ergänzung meiner Schrift "Vom Fühlen, Wollen und Denken". (1) Sie hat es mehrfach zu tun mit denselben Tatsachen. Aber sie betrachtet diese Tatsachen von einem anderen Gesichtspunkt.

Es handelt sich um "Einheiten und Relationen". Ich will eine Skizze einer Psychologie der Einheiten und der Relationen zu geben versuchen. Ich spreche zunächst von Relationen. Diese werden uns aber von selbst zur Einheit und zu "Einheiten", und diese wiederum zu neuen Relationen führen.

Unter Relationen oder Beziehungen verstehe ich dabei all das, was man so zu nennen pflegt, und nach allgemeinem Sprachgebrauch so zu nennen berechtigt ist. Also z. B. die Relationen oder Beziehungen der Gleichheit, Ähnlichkeit, Verschiedenheit, der Ursächlichkeit, die räumlichen und zeitlichen Beziehungen; die Beziehungen zwischen Vater und Sohn usw. Unsere Hauptfrage, diese Relationen betreffend, ist die, worin das Bewußtseinserlebnis bestehe, das wir mit solchen Namen meinen, oder was für ein Bewußtsein es sei, das wir als Bewußtsein der Ähnlichkeit, der Verschiedenheit, der Kausalbeziehung usw. bezeichnen.

Die Relationen sind mannigfaltig. Welcher Art aber sie sein mögen,  eines  wird sich als von allen geltend ausweisen: Relationen sind nicht gegenständliche Erlebnisse, d. h. sie sind nicht Qualitäten, Eigenschaften, Merkmale, Bestimmtheiten des Wahrgenommenen, Vorgestellten, Gedachten, von dem wir sagen, daß es in einer Relation stehe, oder daß zwischen ihm eine Beziehung obwalte. Sondern Relationen sind Apperzeptionserlebnisse, d. h. Weisen, wie ich mich, in meinem Apperzipieren, auf Gegenständliches, und wie ich Gegenständliches auf mich bezogen finde. Oder sie sind Weisen, wie Gegenständliches  in  meinen Apperzipieren und  durch  dasselbe  aufeinander  bezogen erscheint. Alle Relationen oder Beziehungen führen sich zurück auf solche Relationen oder Beziehungen zwischen mir, dem Apperzipierenden, und dem Gegenständlichen, oder auf Relationen, die durch mein Apperzipieren zwischen Gegenständlichem gestiftet sind. Alle Relationsbegriffe verlieren gänzlich ihren Sinn, wenn wir absehen von diesen einzig unmittelbar erlebbaren Inhalten derselben.

Das Negative an dieser Erklärung, daß nämlich Relationen nicht Eigenschaften desjenigen sind, was in den Relationen steht, habe ich in einem Aufsatz in der "Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane" (2) speziell mit Bezug auf die Ähnlichkeitsrelation deutlich zu machen gesucht. Ich habe es schon früher in meinen "Grundzügen der Logik" (3) deutlich zu machen versucht mit Rücksicht auf die logischen Relationen.

Hier erinnere ich nur an einen einzigen Punkt. Es ist derjenige, den ich auch in jenem soeben genannten Aufsatz besonders hervorgehoben habe. Wären Relationen Merkmale des Gegenständlichen, so wären sie mitwahrgenommen, wenn sie dem Wahrgenommenen anhaften, bloß vorgestellt, wenn sie Relationen sind des bloß Vorgestellten. Dies trifft aber bei keiner Relation zu. Auch hier sie die Ähnlichkeitsrelation unser Beispiel: Ich sah gestern zwei Menschen, jetzt sehe ich sie nicht mehr, sondern erinnere mich des einen und des anderen. Dann kann es geschehen, daß ich mich zugleich des Eindrucks der Ähnlichkeit erinnere, den ich damals hatte, als ich beide sah. Aber es kann auch geschehen, daß ich erst jetzt, in der Erinnerung, sie ähnlich  finde,  daß ich erst jetzt die Ähnlichkeit  entdecke,  sie  erlebe,  den  Eindruck  der Ähnlichkeit  gewinne.  Vielleicht habe ich die beiden Menschen gar nie zusammen wahrgenommen, sie also auch nicht in der Wahrnehmung verglichen. Aber jetzt, in der Erinnerung, vergleiche ich sie, und habe - nicht ein  Erinnerungsbild  der Ähnlichkeit, sondern den unmittelbaren  Eindruck  derselben.

Daraus folgt nun unmittelbar, daß Ähnlichkeit nicht etwas am Ähnlichen Vorgefundenes sein kann, eine Qualität, Eigentümlichkeit, Bestimmtheit desselben. Denn eine Qualität des  Vorgestellten  kann immer nur eine  mitvorgestellte  Qualität sein. Sie kann nie ein unmittelbares Erlebnis sein, das ich angesichts des nicht unmittelbar Erlebten, sondern lediglich Vorgestellten, jetzt  habe. 

Im Übrigen wiederhole ich hier nicht, was ich an jener Stelle eingehender gesagt habe. Ich versuche auch nicht, besonders zu zeigen, daß es sich mit allen anderen Relationen ebenso verhält, d. h. daß jede Relation von mir angesichts des bloß Vorgestellten  erlebt  werden kann, daß demnach keine Relation als eine Eigenschaft, ein Merkmal, eine Qualität desjenigen gelten kann, als dessen Relation wir sie bezeichnen.

Der Anschauung nun, die Relationen als Qualitäten dessen bezeichnet, was in den Relationen steht, habe ich vorhin schon die Behauptung gegenübergestellt, Relationen seien Apperzeptionserlebnisse oder seien Weisen des Bezogenseins meiner, des Apperzipierenden, auf Gegenständliches bzw. umgekehrt, oder sie seien Weisen des Bezogenseins des Gegenständlichen aufeinander  in  meiner Apperzeption und  durch  dieselbe. Diese Behauptung muß die folgende Darstellung rechtfertigen.


I. Die einfachen Beziehungen meiner auf Gegenständliches

Die Grundrelation

Ich beginne die Betrachtung mit einer Aufzeigung derjenigen Relationen, bei denen gar niemand in Versuchung geraten kann, sie als Eigenschaften des Gegenständlichen zu bezeichnen, weil sie sich unmittelbar nur als Relationen zwischen mir und dem Gegenständlichen darstellen.

Diese Relationen schon sind verschiedenartig. Voraussetzung aller Relationen überhaupt ist das Bezogensein aller meiner gegenständlichen Bewußtseinsinhalte auf mich, nämlich auf das unmittelbar erlebte Ich, das Gefühls-Ich oder das Ich-Gefühl. Ich meine jenes allgemeine Bezogensein auf das Ich, wodurch die Bewußtseinsinhalte erst  meine  Inhalte oder  meine  "Bewußtseinsinhalte"' werden, das Bezogensein aller Bewußtseinsinhalte, Gegenstände, Objekte, auf das Subjekt, ohne welches die "Inhalte", "Gegenstände", "Objekte", und nicht minder die Begriffe des Empfindens, Wahrnehmens, Vorstellens, Denkens und schließlich alle psychologischen Begriffe überhaupt sinnlos und ihr Gebrauch gedankenlos wäre.

Innerhalb dieses allgemeinen Bezogenseins aller Bewußtseinsinhalte auf das Ich oder das unmittelbar erlebte Subjekt gibt es nun aber ein spezifischeres Bezogensein auf bestimmte Inhalte oder Gegenstände, ein Zugewendetsein meiner zu einem Gegenständlichen oder Komplex des Gegenständlichen, während ich Anderem abgewendet bin, ein inneres Dabeisein meiner bei einem bestimmten Gegenständlichen, wodurch dieses Gegenständliche aus der Mannigfaltigkeit der psychischen Inhalte herausgehoben wird, das "Beachten" eines bestimmten Gegenständlichen, während Anderes unbeachtet bleibt, ein Erfassen, ein inneres "Aneignen" desselben.

Statt all dieser Ausdrücke setzen wir den einen: Apperzeption. Ich verstehe demnach unter Apperzipieren in diesem Zusammenhang, wie auch sonst nichts anderes, als jenes Erfassen, Beachten, Herausheben, oder, mit einem noch geläufigeren Ausdruck, die Hinwendung der Aufmerksamkeit auf einen psychischen Inhalt oder Gegenstand. Dieses Beachten, Erfassen etc. eines bestimmten Gegenständlichen besteht nicht nur, sondern es ist ein unmittelbares Bewußtseinserlebnis. Es ist ein unmittelbar erlebtes Bezogensein meiner auf Gegenständliches. Jede Apperzeption schließt dieses Erlebnis in sich.

Damit haben wir nun die  Grundrelation aller Relationen  gewonnen. Alle übrigen Relationen sind Weisen oder Modifikationen derselben, oder sind Weisen, wie sich das Gegenständliche in dieser Relation zu mir oder wie es sich zueinander stellt.


Modifikation der Grundrelation.
Aktive und passive Apperzeption.

Zwei allgemeinste Möglichkeiten, wie diese Grundrelation, die Apperzeption also, sich näher bestimmt, haben wir hier aber sogleich zu unterscheiden, nämlich die aktive und die passive Apperzeption. Ich finde das Apperzipieren oder das Apperzipiertsein eines Gegenständlichen das eine Mal mehr oder weniger entschieden durch "mich" bedingt oder aus "mir" stammend. Das heißt ich finde es stammend oder hervorgehend aus meiner Eigentätigkeit, finde in ihm eine Weise meines Tuns, finde mich darin frei mich betätigend. Ich finde ein andermal die Apperzeption eines Gegenständlichen mir abgenötigt, finde mich darin leidend, einem mir geschehenden Drang gehorchend oder ihm unterliegend. Ich wende das eine Mal frei meine Aufmerksamkeit einem Erlebnis zu, das andere Mal geschieht es, daß das Erlebnis die Aufmerksamkeit auf sich zieht. In jenem Fall ist die Apperzeption eine aktive, im anderen eine passive Apperzeption.

Von diesem Gegensatz der aktiven und passiven Apperzeption, und dem Gegensatz der Aktivität und Passivität überhaupt, habe ich in der Schrift "Vom Fühlen, Wollen und Denken" eingehender geredet. Hier erinnere ich nur an das allgemeine Resultat: Die Apperzeption ist aktiv und kann demnach als aktiv erscheinen in dem Maße, in dem sie von einem positiven  Wert interesse getragen ist, und als dieses Wertinteresse in mir die Herrschaft hat. Sie ist passiv und kann so erscheinen, in dem Maße, in dem sie sich im Gegensatz zu einem solchen jetzt in mir herrschenden positiven Wertinteresse vollzieht. Das positive Wertinteresse ist entweder das Wertinteresse am Apperzipierten: das  Apperzipierte  ist mir wertvoll. Oder es ist ein intellektuelles Interesse, d. h. ein Interesse am Wissen.

Im übrigen kommt der Gegensatz der aktiven und der passiven Apperzeption hier für uns in Frage, nur sofern darin ein Gegensatz im Charakter der einfachen Apperzeptionsbeziehung oder der "Grundrelation" aller Relationen enthalten liegt. Es ist ein anderes Bezogensein meiner auf Gegenständliches, also ein anderes Relationserlebnis, wenn das Zugewendetsein meiner zum Gegenständlichen als mein Tun, ein anderes, wenn es als ein Erleiden oder ein Widerfahrnis erscheint. Genauer gesagt, es liegt in jenem und diesem eine verschiedene und gegensätzliche Art, wie sich das Gegenständliche in meinem Zugewendetsein  auf mich bezieht  oder sich  zu mir stellt. 


Subjektiv und objektiv bedingte Apperzeption.
Der "Gegenstand" und das subjektive Erlebnis.

Zu diesem Gegensatz der aktiven und der passiven Apperzeption fügen wir gleich den Gegensatz der subjektiv und der objektiv bedingten Apperzeption, der jenen Gegensatz kreuzt. Meine Zuwendung zu einem Gegenständlichen ist das eine Mal subjektiv bedingt, d. h. sie stammt aus meiner gegenwärtigen Persönlichkeit oder meinem  gegenwärtigen  psychischen  Lebenszusammenhang.  Mag ein Gedanke von mir  gesucht und gefunden  sein, oder sich mir  aufdrängen,  also seine Apperzeption eine aktive oder eine passive sein, dies hindert nicht, daß die Apperzeption des Gedankens oder seines Inhaltes beidemal aus mir stammt, d. h. durch meinen gegenwärtigen psychischen Lebenszusammenhang und seine zufällige Verfassung bedingt oder bestimmt, durch irgendwelche psychologischen Zusammenhänge oder Weisen der Wechselwirkung der psychischen Inhalte, die einer rein psychologischen Gesetzmäßigkeit gehorchen, ins Dasein gerufen ist.

Ein andermal ist die Zuwendung eine  "Forderung"  des  "Gegenstandes",  oder ist von ihm gefordert, in seiner Natur begründet; sie ist die Erfüllung eines  Rechtsanspruchs  desselben. Die Zuwendung ist etwa gefordert durch eine eigene Größe oder Wichtigkeit des Gegenstandes, durch eine in ihm selbst liegende, von meiner zufälligen Betrachtungsweise unabhängigen Bedeutsamkeit.

Hier ist ein Gegensatz des Gegenstandes und des psychischen Lebenszusammenhangs vorausgesetzt. Dabei ist unter Gegenstand allgemein das mit meinen Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedanken oder in denselben  "Gemeinte"  verstanden. Stelle ich mir einen Menschen vor, den ich gesehen habe, so habe ich ein getrübtes, schattenhaftes, Lücken aufweisendes, schwankendes  Bild  dieses Menschen vor mir. Dieses Bild ist mein gegenwärtiger Vorstellungs inhalt.  Der  "Gegenstand"  dagegen ist das damit  Gemeinte,  das, worauf meine Vorstellung, oder dasjenige, worauf  ich  in meiner Vorstellung  ziele,  das in meiner Vorstellung Intendierte. Dies ist in unserem Fall der Mensch, so wie ich ihn wahrnahm und kenne, also etwas von jenem Bild weit Verschiedenes.

Oder ich sehe ein Ding, d. h. ich habe ein flächenhaftes Gesichtsbild. Aber was ich "meine", der  "Gegenstand"  meiner Wahrnehmung also, ist ein dreidimensional ausgedehntes, und mit allerlei Eigenschaften, die ich nicht sehe und nicht sehen kann, z. B. mit einer bestimmten Härte, einem bestimmten Geruch ausgestattetes Etwas.

Oder ich zeichne ein Dreieck und beweise an ihm einen geometrischen Satz. Auch hier ist, was ich "meine", vom Gezeichneten und Gesehenen verschieden. Es ist das reine  geometrische  Dreieck mit absolut geraden Begrenzungslinien ohne Breite oder Dicke, auch ohne Farbe. Oder ich rede vom Raum und "meine" damit den absolut unvorstellbaren geometrischen Raum, der unendlich groß, und überall unendlich teilbar ist.

Oder ich rechne mit Größen; ich rechne etwa mit dem  unendlich  Großen oder mit irrationalen Zahlen, schließlich mit dem Imaginären.

Auch dies sind nicht Vorstellungsinhalte, sondern von mir "gemeinte"  Gegenstände.  Sie sind im Bewußtsein "vertreten" oder "repräsentiert" durch irgendwelche Zeichen. Das heißt aber eben: die Zeichen "meinen" die Größen, das Irrationale, das Imaginäre. Sie meinen das gänzlich "Unvorstellbare", d. h. das jeder Möglichkeit, daß es mir als Bewußtseins inhalt  oder als Bild vorschwebe, gänzlich Entrückte.

Die "Gegenstände" sind, wie hieraus  zugleich  ersichtlich, verschiedener Art: Sie sind einmal  empirisch reale  Gegenstände. Diese empirisch realen Gegenstände sind das mir irgendwie durch die  Erfahrung  Gegebene, einschließlich des glaubhaft Mitgeteilten und durch Ergänzung und Umwandlung des Erfahrenen nach Gesetzen des empirischen Denkens Gewonnene, kurz das als  wirklich,  d. h. als von meinem Wahrnehmen, Vorstellen, Denken unabhängig bestehend  Erkannte. 

"Gegenstände" sind zweitens die  intuitiven  Gegenstände. Diese intuitiven Gegenstände sind die Gegenstände, welche das Denken aus den Inhalten meiner Vorstellung geschaffen hat. Sie sind die Welt des Vorgestellten oder Vorstellbaren, aber den Gesetzen des  Denkens  unterworfen, nach Gesetzen des Denkens umgewandelt, bereichert, erweitert, ausgestaltet. Kurz, sie sind die Welt des Vorgestellten oder Vorstellbaren, wie es  gedacht  werden muß, wobei völlig dahingestellt bleibt, ob es als wirklich gedacht wird oder nicht.

Solche Gegenstände sind etwa der unendliche und unendlich teilbare Raum, kurz der geometrische Raum; oder die unendliche und unendlich teilbare Zahl, kurz die Zahl der Mathematik. Ein solcher Gegenstand ist auch das Kontinuum der Töne, der Farben, in dem zwischen je zwei Tönen oder Farben unendlich viele in der Mitte liegen.

"Gegenstände" sind drittens die Gegenstände der Phantasie. Solche  Phantasie gegenstände sind - nicht die Phantasieinhalte oder die Phantasiebilder, sondern das damit  Gemeinte;  etwa der goldene Berg. Die Gegenstände der Phantasie sind aus den Elementen der Erfahrung, also der empirischen Gegenstände, nach Analogie der Erfahrung gewoben. Sie sind ein willkürlich Vorgestelltes, aber zugleich so  gedacht,  wie es sein würde oder gedacht werden müßte, wenn es wirklich  wäre.  Sie sind demnach  ansich mögliche  empirisch reale Gegenstände, oder sie sind Gegenstände, die  ansich  empirisch reale Gegenstände sein  könnten.  Sie könnten es sein  "ansich",  d. h. es ist in ihnen  selbst  nichts, das uns verböte, sie als wirklich zu denken, so sehr auch die  Gesetze  der Erfahrung ein solches Verbot in sich schließen mögen.

Die letzte Gattung von Gegenständen endlich sind die imaginären Gegenstände. Sie sind Gegenstände, die "ansich" oder "in sich selbst" die Möglichkeit, sie als wirklich zu denken, ausschließen. Aber sie sind gewoben aus ansich als wirklich Denkbarem oder möglicherweise Wirklichem. Sie haben dieses Denkbare zu  Elementen.  Aber sie sind, so wie sie gedacht werden, d. h. als dieses  Ganze,  nicht mehr als wirklich denkbar. Sie sind ansich  unmögliche  Gegenstände, darum doch  Gegenstände,  sofern eben auch hier die Elemente dem als wirklich Denkbaren entnommen sind. Ein solcher imaginärer Gegenstand ist das  √-a  der Mathematik, auch das runde Quadrat, oder der rechtwinklige Kreis.

Welcher dieser Gattungen aber auch ein "Gegenstand" angehören mag, immer ist er ein, sei es im Ganzen, sei es in seinen Elementen  "Gegebenes",  meinem Wahrnehmen oder Vorstellen oder Denken  "Gesetztes",  ihm Jenseitiges, das eine unerfüllbare  Forderung  an mein Vorstellen oder Perzipieren stellt. Immer ragt und wirkt im Gegenstand ein meinem gegenwärtigen psychischen Lebenszusammenhang Fremdes, d. h. von ihm unabhängig Bestehendes, in denselben hinein. Dieses Fremde ist beim  wahrgenommenen  Gegenstand der physiologische Reiz, beim Gegenstand der Erinnerung die Gedächtnisspur des Erlebten, beim intuitiven Gegenstand die von meinem gegenwärtigen Vorstellen unabhängige Gesetzmäßigkeit des Vorgestellten, z. B. des vorgestellten Raums. Ein solches Fremdes ist bei jedem erkannten Gegenstand überhaupt die von meinem gegenwärtigen psychischen Lebenszusammenhang unabhängig bestehende allgemeine Gesetzmäßigkeit des Denkens. Auch im Phantasiegegenstand und im imaginären Gegenstand wirkt ein solches Fremdes oder Jenseitiges in meinen gegenwärtigen psychischen Lebenszusammenhang hinein: Alle Elemente derselben sind Erinnerungsvorstellungen, und es walten auch die Gesetze des Denkens in ihnen.

Bei all dem ist doch der Gegenstand, der jetzt für mich besteht oder sich als solcher mir darstellt, der von mir jetzt gedacht oder "gemeint" ist, ein gegenwärtiges psychisches Erlebnis. Er ist das Wirken eines mir, d. h. meinem gegenwärtigen psychischen Lebenszusammenhang Fremden oder Jenseitigen, d. h. von ihm im Ganzen oder in seinen Elementen Unabhängigen,  innerhalb  dieses gegenwärtigen psychischen Lebenszusammenhanges. "Der Gegenstand"  steckt  in jedem gegenwärtigen gegenständlichen Erlebnis, d. h. er steckt in jeder Empfindung, Wahrnehmung, in jedem Vorstellen und Denken. Jedes solche Erlebnis oder jeder psychische Vorgang hat diese  Gegenstandsseite;  in jeden psychischen Vorgang ragt und wirkt ein solches Fremdes oder Gegebenes oder Gesetztes, kurz von ihm unabhängig Bestehendes hinein. Jeder psychische Vorgang hat aber andererseits auch seine  subjektive  Seite oder ist durch den gegenwärtigen psychischen Lebenszusammenhang bestimmt, oder ist, mit einem Wort, ein  subjektives Erlebnis. 

Von hier aus nun können wir den Gegensatz der Subjektivität und Objektivität genauer bestimmen. Jedes Erlebnis ist objektiv bedingt, sofern es bedingt ist, durch den Gegenstand oder sofern in ihm der Gegenstand zu seinem Recht kommt. Jedes Erlebnis ist andererseits subjektiv bedingt, sofern es bedingt oder irgendwie bestimmt ist durch den gegenwärtigen psychischen Lebenszusammenhang. In jedem gegenständlichen Erlebnis, so sagte ich,  steckt  allemal der "Gegenstand". Aber das Dasein des Gegenstandes ist darin zugleich in ein bestimmt geartetes gegenwärtiges Erlebnis  umgewandelt.  Wir könnten demnach auch sagen: das subjektive Erlebnis ist das, was der gegenwärtige psychische Lebenszusammenhang aus dem Gegenstand  gemacht  hat, oder es ist der Gegenstand, so wie er "mir" innerhalb desselben oder in seiner Bedingtheit durch denselben "erscheint". Dagegen ist "der Gegenstand" der Gegenstand, wie er "ansich" ist.

Hier nun handelt es sich um die  Apperzeption  eines Erlebnisses. Auch sie ist, wie schon oben gesagt, eine subjektiv bedingte, soweit oder in dem Maß, als sie durch das "Subjektive" oder durch den gegenwärtigen psychischen Lebenszusammenhang bedingt oder bestimmt ist. Sie ist eine objektiv bedingte in dem Maße, als der Gegenstand darin zu seinem Recht kommt.


Gegenstandsapperzeption
und psychologische Apperzeption

Indessen um diese subjektive und objektive Bedingtheit der Apperzeption handelt es sich hier nicht eigentlich, sondern um das Bewußtsein derselben, und es handelt sich auch darum, nur sofern damit wiederum eine unmittelbare Verschiedenheit im Charakter jener Grundrelation gegeben ist, eine Verschiedenheit der Weise, wie in meinem Bezogensein auf Gegenständliches das Gegenständliche mir gegenübertritt, sich zu mir stellt oder verhält.

Das  Bewußtsein  nun der Objektivität der Apperzeption ist das Bewußtsein eben jener "Forderung" des Gegenstandes. Diese aber kann mir nicht zu Bewußtsein kommen, ich kann also das Bewußtsein oder unmittelbare Gefühlserlebnis der Objektivität nicht haben, es sei denn, daß ich auf die Forderung des Gegenstandes  "höre",  d. h. auf den Gegenstand als solchen achte oder ihn apperzipiere. Andererseits kann nach oben Gesagtem auch das Bewußtsein oder Gefühlserlebnis der Subjektivität sich nur ergeben aus dem  Gegensatz  zur Objektivität, d. h. zur Forderung des Gegenstandes. So ist also auch für das Bewußtsein der Subjektivität erforderlich, daß ich den Gegenstand "höre". Ich muß das subjektive Erlebnis hineinstellen in den Zusammenhang mit dem Gegenstand, muß es betrachten unter dem  Gesichtspunkt  des Gegenstandes. Ich muß es apperzipieren - wohl als dieses subjektive Erlebnis, aber nicht für sich, sondern sofern es zum Gegenstand in Beziehung steht, oder mit dem gleichzeitigen  Hinblick  auf die Forderung des Gegenstandes.

Solcher verschiedener Weisen der Apperzeption nun kann ich mich befleißigen. Es besteht in mir die Möglichkeit einer solchen verschiedenen  Richtung  der Apperzeption.

Es besteht in mir einmal die Möglichkeit der rein objektiven oder der rein objektiv  gerichteten,  kurz der reinen  "Gegenstandsapperzeption".  Sie heißt "Gegenstandsapperzeption", weil sie lediglich auf den "Gegenstand" abzielt. Vergegenwärtigen wir uns etwa das oben angeführte Beispiel. Ich stelle mir einen Menschen, den ich sah und kenne, vor. Ich sage von ihm dieses und jenes aus, urteile über seine sinnliche Erscheinung und seine geistigen Qualitäten. Mit all dem meine ich nicht das mir vorschwebende verwaschene Bild des Menschen, sondern den Menschen selbst, so wie er wirklich ist. Das heißt: Meine Aufmerksamkeit ist auf diesen "Menschen selbst" gerichtet, sie zielt darauf. Ich bin in meinem Denken mit ihm beschäftigt. Kurz, ich apperzipiere den  Gegenstand  meiner Vorstellung. Ich vollziehe den Akt der reinen Gegenstandsapperzeption. Und ich habe davon ein Bewußtsein. Ich finde mich auf diesen Gegenstand bezogen. Ich habe dieses eigenartige Relationserlebnis.

Und es besteht ebensowohl die Möglichkeit der  objektiven  Apperzeption des  subjektiven  Erlebnisses. Das subjektive Erlebnis ist wie gesagt der "Gegenstand", so wie er sich in meinem gegenwärtigen psychischen Lebenszusammenhang darstellt. Es ist das, was das Subjekt oder dieser psychische Zusammenhang aus ihm gemacht hat. Ein solches subjektives Erlebnis ist mein gegenwärtiges verwaschenes, verschwommenes Bild jenes Menschen. Auch dieses Bild nun kann ich apperzipieren. Und ich kann es zugleich betrachten unter dem Gesichtspunkt des Gegenstandes, d. h. des Menschen, so wie ich ihn kenne. Ich kann es darauf apperzeptiv beziehen, daran messen. Dann tritt das Bild zum Menschen, also zum Gegenstand, in einen Gegensatz. Es tritt in den Gegensatz zur  Forderung  des Gegenstandes, an der Stelle des Bildes dazusein. Es erscheint als etwas, das dem, was ich vorstellen  sollte,  widerstreitet oder nicht gerecht wird.

Und neben diesen beiden Möglichkeiten der objektiven, d. h. der objektiv gerichteten Apperzeption besteht endlich die Möglichkeit der rein subjektiv gerichteten, der, wie wir lieber sagen wollen,  "psychologischen"  Apperzeption. Ich wende mich vom Gegenstand ab und entziehe mich damit auch seiner  Forderung;  ich apperzipiere das subjektive Erlebnis, so wie es sich darstellt und vollzieht vermöge des gegenwärtigen psychischen Lebenszusammenhanges, mit seiner Verfassung, seinen zufälligen Inhalten und den psychologischen Wechselbeziehungen derselben. Jetzt ist keine Rede mehr von einem Gegensatz der Objektivität und Subjektivität. Es bleibt einzig der Gegensatz der Aktivität und der Passivität.

So habe ich in unserem Falle, wenn ich den Menschen selbst außer acht lasse, einfach das Bild. Und ich kann diesem Bild ausschließlich zugewendet sein. Es interessiert mich etwa einzig die  Beschaffenheit  dieses  Bildes,  seine Konstanz oder sein Schwanken, seine sinnliche Frische oder seine Mattheit.


Qualitative, quantitative, wertende
Apperzeption und Relationen

Von hier müssen wir nun aber gleich weitergehen. Meine Apperzeption eines Erlebnisses kann nicht nur das eine Mal objektiv gerichtete, sei es reine Gegenstandsapperzeption, sei es "objektive Apperzeption des subjektiven Erlebnisses", das andere Mal subjektiv gerichtete oder psychologische Apperzeption sein, sondern ich kann auch sowohl das subjektive Erlebnis als den Gegenstand wiederum in verschiedener Richtung oder  Hinsicht  apperzipieren. Indem ich diese Möglichkeit erwähne, nehme ich zunächst an, die  objektiv  gerichtete Apperzeption sei eine  reine  Gegenstandsapperzeption, d. h. sie erfasse lediglich den Gegenstand  als solchen.  Ich spreche also vorerst nicht von der Apperzeption des subjektiven Erlebnisses unter dem  Gesichtspunkt  des Gegenstandes und seiner Forderung, oder in seiner  Beziehung  oder seinem Verhältnis zum Gegenstand. Es bleibt demnach auch das  Bewußtsein der Subjektivität  hier einstweilen außer Frage.

Ich apperzipiere ein Erlebnis, ein Vorstellungserlebnis etwa, das eine Mal rein  qualitativ,  d. h. ich achte darauf, wie das Vorstellungserlebnis beschaffen sei. In einer solchen qualitativen Betrachtung der Apperzeption kann ich mehr oder weniger aufgehen.

Und aus einer solchen qualitativen Apperzeption ergibt sich nun ein anderes  Qualitätsbewußtsein,  je nachdem die Apperzeption eine reine Gegenstandsapperzeption oder eine subjektive Apperzeption ist. Aus jener ersteren Art der Apperzeption resultiert die Erkenntnis von der Beschaffenheit des "Vorgestellten", d. h. des mit der Vorstellung  "gemeinten" Gegenstandes,  aus dieser letzteren das Bewußtsein von der Beschaffenheit des gegenwärtigen Vorstellungserlebnisses, insbesondere des vorgestellten  "Inhaltes",  beispielsweise jenes Bildes eines mir bekannten Menschen.  Jenes  Qualitätsbewußtsein nennen wir ausdrücklich das Qualitätsbewußtsein des  Gegenstandes, oder das Bewußtsein der Gegenstandsqualität, dieses das Bewußtsein der Qualität des subjektiven  oder psychologischen Erlebnisses.

Zweitens kann meine Apperzeption gerichtet sein auf die  Beziehung  des Erlebnisses oder des Vorgangs  zu mir,  oder auf seine  Wirkung  auf mich, nämlich auf mich, dieses psychische, inbesondere dieses apperzipierende Individuum, auf seine Weise mich zu affizieren. Diese Apperzeption soll  "affektive Apperzeption"  heißen.

Diese "affektive Apperzeption" ist aber nicht eindeutig, sondern es liegen in ihr wiederum zwei verschiedene Möglichkeiten des Apperzipierens: Die Apperzeption zielt auf das Erlebnis, sofern es mich in größerem oder geringerem Grad in Anspruch nimmt; oder aber sie zielt auf die  Weise,  wie es mich erregt, auf die Bedeutung, die es vermöge seiner Qualität für mich besitzt. Jene Apperzeption nennen wir  "Quantitäts"-,  diese  "Wertapperzeption". 

Und auch hier ist nun wiederum das Ergebnis ein verschiedenes, je nachdem ich in beiden Fällen rein den Gegenstand oder aber das subjektive Erlebnis apperzipiere. Aus der gegenständlichen Quantitätsapperzeption oder der quantitativ gerichteten Gegenstandsapperzeption ergibt sich jenes Bewußtsein der im  Gegenstand selbst  liegenden Größe, Bedeutung, die ich jetzt dem Gegenstand, etwa aufgrund einer Laune, einer gegenwärtigen Verfassung des Gemütes, kurz aus irgendwelchen nicht objektiven, sondern subjektiven Gründen,  beimesse,  oder die es aus solchen Gründen für mich zu  haben scheint. 

Ebenso ergibt sich aus der objektiven  Wertapperzeption  oder aus der wertenden Apperzeption des  Gegenstandes  das Bewußtsein des objektiven, im Gegenstand, etwa im Charakter einer Person, oder in einem Kunstwerk liegenden Wertes, aus der subjektiven Wertapperzeption das Bewußtsein der Bewertung des subjektiven  Erlebnisses  oder das Bewußtsein  desjenigen  Wertes, den eine Sache für mich hat vermöge der Weise, wie sie sich mir jetzt darstellt, oder zufällig in mir zur Wirkung gelangt. (4)


Das Bewußtsein der Subjektivität
in den genannten Relationen

Diese Arten der Beziehung meiner auf subjektive Erlebnisse sind nun, wie schon angedeutet, nicht ohne weiteres Beziehungen, die für mein  Bewußtsein  den Charakter der Subjektivität an sich tragen. Die "subjektive Bewertung" etwa, die sich aus der subjektiven Wertapperzeption ergibt, ist nicht ohne weiteres eine solche, die mir als subjektive  erscheint,  oder von mir als lediglich subjektiv erkannt wird. Sondern dazu ist erforderlich, daß ich in der Wertapperzeption das subjektive Erlebnis in Beziehung setze zum Gegenstand, oder daß ich "die Frage stelle", wie der Gegenstand und die in ihm liegende Forderung einer bestimmten Wertung sich zu meiner tatsächlichen Bewertung verhält, ob er sie als die seiner Forderung entsprechende anerkennt oder nicht. Ist jenes der Fall, stimmt also die subjektive Wertung, d. h. die Wertung, die hervorgeht aus der gegenwärtigen Zuständlichkeit meiner Persönlichkeit, und den psychologischen Beziehungen, in welche das Erlebnis verflochten ist, mit der Forderung des Gegenstandes überein, dann habe ich das Bewußtsein der  Objektivität  dieser  "subjektiven" Wertung.  Ich habe das Bewußtsein ihrer  Subjektivität,  wenn dies  nicht  der Fall ist.

Ebenso kann die lediglich subjektive Qualität oder Größe, d. h. die Qualität oder Größe, von der ich ein Bewußtsein gewinne, wenn ich nicht den Gegenstand für sich, sondern das subjektiv bedingte Erlebnis qualitativ bzw. quantitativ apperzipiere, als lediglich subjektiv  erscheinen,  als für mein  Bewußtsein  mit dem Charakter der Subjektivität behaftet sein, nur aufgrund des Gegensatzes zur Qualität bzw. Quantität des  Gegenstandes,  d. h. ich kann das Subjektivitätsbewußtsein nur gewinnen, wenn ich die Qualität oder Quantität des subjektiven Erlebnisses im Licht des Gegenstandes und seiner Forderung betrachte, als dieses qualitativ bestimmte beurteilt, bzw. als ein in diesem oder jenem Grad bedeutsames anerkannt zu werden.

Alle die bezeichneten Weisen der Apperzeption nun sind eigenartige  Relationen,  d. h. eigenartige Modifikationen der Grundrelation bzw. der beiden Grundrelationen. Es gibt also eine qualitative, eine quantitative und eine wertende Beziehung meiner Gegenstände und andererseits auf subjektiv bedingte Erlebnisse. Und alle die Bewußtseinserlebnisse, die wir "Bewußtsein der objektiven oder subjektiven Wertes" nennen, sind Weisen, wie sich in meinem Apperzipieren das Gegenständliche zu mir stellt oder mir entgegentritt.


Empirierte Apperzeption und Relationen.
Gegenständliche Objektivität und Subjektivität.

Endlich aber haben wir noch eine dritte oder vierte Richtung der Apperzeption besonders hervorzuheben. Zunächst der Gegenstandsapperzeption: Ich apperzipiere einen Gegenstand so, daß ich achte - nicht auf seine Qualität noch Quantität, noch auf seinen Wert, sondern auf sein Gegebensein, seine Herkunft, seinen Ursprung. Ich stelle die Frage "Woher". Ich stelle die "empirische Frage". Dabei müssen wir gleich hinzufügen: Während in den obigen Fällen, bei der qualitativen, quantitativen und wertenden Apperzeption, kein Unterschied gemacht wurde und gemacht zu werden brauchte zwischen wirklichen und möglichen Gegenständen, muß hier der apperzipierte Gegenstand  zunächst  als ein  "möglicher  Gegenstand" gefaßt werden.

Bei der empirischen Apperzeption eines möglichen Gegenstandes nun kann sich ein doppeltes Resultat ergeben. Ich finde das eine Mal den Gegenstand als einen von mir gemachten. Ich finde ihn als daseiend durch mich oder aus mir. Ich erlebe diese eigenartige, nicht näher beschreibbare, aber jedermann bekannte Weise des Bezogenseins des apperzipierten Gegenstandes auf mich.

Dagegen finde ich ein andermal einen vorgestellten und apperzipierten Gegenstand ebenso unmittelbar daseiend  nicht  aus mir oder durch mich, sondern unabhängig von mir, ohne mich, sozusagen aus eigener Machtvollkommenheit. Jenes Vorgestellte nenne ich um jener Beziehung willen ein "bloßes Phantasiegebilde". Dieses bezeichne ich um dieser anders gearteten Beziehung willen als  wirklich:  Ich erkenne den möglichen Gegenstand als einen nicht nur möglichen, sondern wirklichen.

Beide hiermit bezeichneten Beziehungen sind  "Gegenstandsbeziehungen".  Aber sie sind nicht Gegenstandsbeziehungen irgendwelcher Art, inbesondere nicht qualitative oder quantitative oder wertende Beziehungen zum Gegenstand, sondern  "empirische".  Dabei ist das "Vorgestellte", d. h. der mit dem Vorstellungsinhalt gemeinte  Gegenstand,  dasjenige, was mir im einen oder anderen Licht erscheint. Habe ich das Bewußtsein, die jetzt von mir vorgestellte Landschaft sei eine wirkliche, in der Welt der Wirklichkeit vorkommende Landschaft, dann ist für mich wirklich - nicht der Bewußtseinsinhalt, sondern die damit gemeinte Landschaft, nicht das Bild der Landschaft, sondern "diese selbst". Und ebenso, wenn ich mir in meiner Phantasie einen goldenen Berg vorstelle und das Bewußtsein habe, das sei nur ein Phantasieberg, so meine ich den goldenen Berg "selbst" und nicht das mir vorschwebende Bild, das vermutlich sowohl mit Gold als mit Bergen eine geringe Ähnlichkeit hat. Jenes und dieses Bewußtsein aber entsteht unter der Voraussetzung der empirischen Apperzeption. Jenes Bewußtsein, ein Gegenstand sei oder stamme aus mir, sei durch mich gemacht, bezeichne ich sonst kurz, und will ich auch hier kurz bezeichnen, als Bewußtsein der Subjektivität des Gegenstandes oder als gegenständliches Subjektivitätsbewußtsein; dieses entgegengesetzte Bewußtsein, der Gegenstand sei nicht aus mir, sondern unabhängig von mir, "außer" mir, ohne mich, kurz dieses Bewußtsein des Nicht-Ich, bezeichne ich entsprechend als Bewußtsein der Objektivität des Gegenstandes oder als gegenständliches Objektivitätsbewußtsein. Das letztere ist, wie gesagt, das unmittelbare Bewußtsein der Wirklichkeit. - In diesem Zusammenhang kommt es jedoch wiederum nur darauf an, daß mit beiden Namen eigentümliche, unmittelbar erlebte Beziehungen des Gegenstandes auf mich, oder eigenartig charakterisierte einfache Gegenstandsrelationen bezeichnet sind.


Perzeptive Freiheit und Gebundenheit

In gleicher Weise, wie den Gegenstand, kann ich aber auch das  subjektive Erlebnis empirisch  apperzipieren, d. h. in der Apperzeption auf sein Gegebensein, seine Herkunft, seinen Ursprung achten, nach dem "Woher" fragen. Das Gegebensein des subjektiven Erlebnisses ist sein Dasein in mir, im Zusammenhang des gegenwärtigen psychischen Lebens, es ist das Empfunden-, Wahrgenommen-, Vorgestelltsein, kurz das Perzipiertsein. Darauf also geht hier die Frage. Sie ist die Frage nach dem Woher des Perzipiertseins.

Und hier nun bestehen wiederum die beiden entgegengesetzten Möglichkeiten: Ich erlebe dieses Perzipiertsein das eine Mal als geschehend durch mich oder aus mir, als mein freies Tun, das andere Mal als etwas mir Aufgenötigtes, nicht aus mir oder meinem Tun Hervorgehendes. Ich habe, um auch diesen beiden Erlebnissen die sonst von mir gebrauchten Namen zu geben, das eine Mal das Bewußtsein der perzeptiven Freiheit, das andere Mal das Bewußtsein der perzeptiven Gebundenheit. Mit beiden Namen sind wiederum eigene Weisen des Bezogenseins eines Gegenständlichen auf mich bezeichnet. Sie sind eigene Weisen zunächst jener "Grundrelation", d. h. Weisen, wie in der Apperzeption eines Gegenständlichen, oder der in jeder Apperzeption als solcher liegenden Beziehung meiner auf Gegenständliches, das Gegenständliche sich zu mir stellt. Sie sind, bestimmter gesagt, eigentümliche Wesen der psychologischen Relation. Sie sind endlich, vollkommen bestimmt gesagt, eigentümliche Weisen, wie sich in meiner psychologisch empirischen Apperzeption ein Gegenständliches zu mir stellt oder sich mir unmittelbar darstellt.

Die erste dieser beiden Weisen erleben wir, wir haben also das Bewußtsein der perzeptiven Freiheit, normalerweise angesichts alles Vorgestellten, dessen Vorgestelltsein sich aus meinem freien oder sich selbst überlassenen Vorstellen ergibt, also nicht auf Mitteilung beruth, d. h. angesichts meiner in jener Weise entstandenen Erinnerungs- und Phantasieinhalte. - Hier ist unmittelbar deutlich, wie sich die perzeptiven zu den Gegenstandsbeziehungen verhalten. Das Dasein der  Gegenstände  der Erinnerung, d. h. das Dasein desjenigen,  dessen  ich mich erinnere, oder das ich in der Erinnerung mir vergegenwärtige, scheint mir unmittelbar als  unabhängig  von mir, nämlich unabhängig vom jetzt erlebten Ich; und hat insofern gegenständliche  Objektivität  oder ist ein "wirklicher Gegenstand". Aber das Vorgestelltsein oder  Perzipiertsein,  das gegenwärtige Dasein desselben  für mich,  oder das Dasein desselben im Zusammenhang meines gegenwärtigen  Bewußtseinslebens,  geschieht  durch mich  oder  stammt aus mir,  und wird von mir unmittelbar als aus mir stammend erlebt.

Dagegen geschieht das Wahrgenommensein, ebenso das Mitgeteiltsein, nicht durch mich. Das  Auftreten  des Wahrgenommenen oder Mitgeteilten im Zusammenhang des  Bewußtseinslebens,  ist  nicht  meine Sache, kommt nicht aus mir, sondern ist etwas und erscheint als etwas, das mir begegnet oder widerfährt. Ich fühle mich  gebunden. 


Zusatz zur "perzeptiven Freiheit und Gebundenheit".

Ich gebrauche für den hier aufgezeigten Gegensatz zwischen Arten der Perzeption die Ausdrücke Freiheit und Gebundenheit. Diese bezeichnen eine Art der Aktivität bzw. Passivität. Aber diese hat zugleich etwas von Subjektivität bzw. Objektivität an sich. Man könnte sagen: Die Perzeption des Wahrgenommenen, oder kurz die Wahrnehmung, ist durch den Gegenstand der Wahrnehmung  gefordert.  Aber auch die Perzeption des Gegenstandes der  Erinnerung  ist durch diesen Gegenstand gefordert. Auch dieser hat oder erhebt den "Rechtsanspruch", perzipiert zu werden. Und es erhebt einen solchen Rechtsanspruch erst recht alles von mir jetzt nicht Wahrgenommene, von dem ich aber weiß, daß es  existiert.  Als Existierendes hat es ein Recht,  für mich dazusein.  Die Forderung oder der  Rechtsanspruch,  perzipiert zu werden, ist eben gar nichts anderes, als jene, in der reinen  Gegenstands apperzeption erlebte Forderung der  "Anerkennung",  um derentwegen wir Gegenstände  wirklich  nennen. Demgemäß geht der Rechtsanspruch, perzipiert zu werden, der in der Wahrnehmung liegt, verloren, wenn die Wahrnehmung als  Trugwahrnehmung  erkannt wird. Die Weise der  Perzeption  ist aber bei der Trugwahrnehmung oder der Halluzination genau dieselbe wie bei der wirklichen Wahrnehmung.

Wollen wir also das Besondere der Wahrnehmung im Vergleich mit der Erinnerung oder dem nicht Wahrgenommenen, aber als wirklich Erkannten bezeichnen, so dürfen wir zunächst nicht von einer Forderung, sondern müssen von einer  Nötigung  reden, also nicht von Objektivität, sondern von Passivität. Diese Nötigung bleibt, auch wenn der Rechtsanspruch oder die Objektivität zergeht; sie bleibt bei der Halluzination, auch wenn sie als solche erkannt ist. Obgleich wir ihr das  Recht,  als Objekt des Bewußtseins dazusein, absprechen, erleben wir doch die Nötigung oder den  Zwang. 

Zugleich hat aber doch die Nötigung des Perzipierens die in der Wahrnehmung, sei sie wirkliche  oder  Trugwahrnehmung, enthalten liegt, das Eigentümliche, daß sie von einem  Gegenstand ausgeht  bzw. auszugehen  scheint.  Das Bewußtsein der Nötigung hat insofern zugleich einen Charakter der Objektivität; es ist zugleich eine Art des  Objektivitätsbewußtseins.  Und dies gilt auch von der verwandten Nötigung des Perzipierens, die in der  Mitteilung  liegt. Hier ist das mir Aufgenötigte - nicht eine Wahrnehmung, sondern eine Vorstellung. Das Nötigende ist aber auch hier ein Gegenstand. Freilich ist dieser Gegenstand nicht der perzipierte Gegenstand, sondern etwas von ihm Verschiedenes, die mitteilende Person oder das mitteilende Wort. Darum ist doch auch hier das Gefühl der Nötigung nicht durchaus gleichartig dem Gefühl der Nötigung, das ich habe, wenn sich mir ein  eigener  Gedanke  "aufdrängt".  Dieser sich mir aufdrängende Gedanke scheint immerhin aus mir zu stammen. Die durch die Mitteilung mir aufgenötigte Vorstellung dagegen ist mir durch ein Nicht-Ich aufgenötigt. Und dieses gibt dieser Nötigung zugleich einen eigenartigen Charakter der Objektivität. Sie ist nicht Objektivität  dessen, was  mir mitgeteilt wird - es sei denn, daß ich der Mitteilung glaube - aber Objektivität oder objektive Bedingtheit meiner  Vorstellung,  kurz  perzeptive  Objektivität.

Dieses Eigentümliche nun, daß das nicht frei von mir Vorgestellte, sondern Wahrgenommene oder Halluzinierte oder Mitgeteilte durch einen  Gegenstand  mir aufgenötigt ist oder aufgenötigt scheint und demnach sein Perzipiertsein oder sein Auftreten in mir einen Charakter des Aufgenötigtseins an sich trägt, der doch nicht ein Charakter bloßer Passivität ist, sondern zugleich eine eigenartige  Objektivität  besitzt, das ist es, was ich mit dem Ausdruck "perzeptive Gebundenheit" bezeichnen will. Das gegenteilige Bewußtseinserlebnis nenne ich entsprechend Bewußtsein der "perzeptiven Freiheit".

Ein besonderer Fall der perzeptiven Gebundenheit ist die "perzeptive Objektivität" des ästhetischen Inhaltes eines ästhetischen Objektes, oder des in diesem Objekt Dargestellten, oder die "ästhetische Realität". Hierfür verweise ich auf den Aufsatz über "Die Form der ästhetischen Apperzeption", Halle 1901.

Viermal ist uns im Vorstehenden, von dieser perzeptiven Gebundenheit abgesehen, der Gegensatz der Objektivität und Subjektivität begegnet: als Gegensatz der Objektivität und Subjektivität der Qualität, der Quantität, des Wertes und als Gegensatz der gegenständlichen Subjektivität und Objektivität. Die Gleichartigkeit der Benennung in den vier Fällen entspricht einer Gleichartigkeit der Sache. Die Objektivität insbesondere ist jedesmal eine Bedingtheit durch den Gegenstand. Sie ist die Forderung oder der Rechtsanspruch des Gegenstandes. Sie ist bzw. die Forderung, dem Gegenstand eine Qualität zuzuerkennen, eine Größe zuzuschreiben, einen Wert beizumessen, endlich die Forderung der einfachen Anerkennung oder der Betrachtung des Gegenstandes als eines wirklichen.

Diesem Gegensatz gegenüber steht der einfache Gegensatz der Aktivität und der Passivität des Apperzipierens, der sich aber mit all jenen Gegensätzen kreuzen kann.

Die damit gewonnenen einfachen Relationen sind in gewisser Weise jedesmal Doppelrelationen. Ich beziehe mich apperzipierend auf ein Gegenständliches, und erlebe es dabei, daß das Gegenständliche zu mir in eine bestimmte Beziehung tritt. Zugleich sind damit doch nur die beiden notwendig verbundenen Seiten einer und derselben Sache bezeichnet. Beide verhalten sich wie Aktion und Reaktion. Oder, wie ich schon gelegentlich sagte, in meinem Apperzipieren stelle ich an das Gegenständliche eine "Frage", und darauf gibt das Gegenständliche die Antwort. Beides zusammen erst ist  die  Relation.
LITERATUR - Theodor Lipps, Einheiten und Relationen [eine Skizze zur Theorie der Apperzeption] Leipzig 1902
    Anmerkungen
    1) THEODOR LIPPS, "Vom Fühlen, Wollen und Denken", Leipzig 1902. Die Schrift bildet ein Heft der "Schriften der Gesellschaft für psychologische Forschung". Sie ist im Erscheinen begriffen.
    2) THEODOR LIPPS, Einige psychologische Streitpunkte, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 28, Leipzig 1902
    3) THEODOR LIPPS, Grundzüge der Logik, Hamburg und Leipzig 1893
    4) Genaueres über "objektive Werte" siehe in meinen "Ethischen Grundfragen", Hamburg und Leipzig 1900. Im übrigen bitte ich über objektive und subjektive Werte, ebenso wie über objektive und subjektive Größe oder Quantität die Schrift "Vom Fühlen, Wollen und Denken" zu vergleichen.