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[mit NS-Vergangenheit] Zur Methodologie der Beziehungslehre
Im Anschluß an SIMMEL und in Übereinstimmung mit VIERKANDT (so suchte ich im erwähnten Aufsatz darzutun) erscheint mir das Studium der Formen der Vergesellschaftung zwar nicht als die dauernd einzige, aber als die nächstliegende, fruchtbarste und (zumindest neben anderen) jetzt unerläßliche Aufgabe. (Ob es außer der formalen Soziologie noch eine andere gibt, die auch einen wirklichen eigenen Erkenntniswert besitzt, glaube ich, um unnützen Streit zu vermeiden, unbeantwortet lassen zu dürfen. Wer sich an einer Art Soziologie versucht, wie es viele vor uns getan haben, sollte, meine ich, von uns, die wir uns der "formalen Soziologie" zuwenden, nicht gleich als ein unnützer Kostgänger im Garten der Wissenschaft verschrien werden.) Für unst ist das Formalprinzip (im Sinne SIMMELs) ein Ausgangspunkt; wir sehen es als ein heuristisches an und stellen, wie ich schon damals schrieb, "die Hypothese auf: die Form läßt sich vom Inhalt trennen". Indessen ist der Gebrauch des Wortes "Form" und "formal" nicht sehr zweckmäßig. Manche Kritik, die sich bereits gegen SIMMEL gerichtet hat, wäre vermieden oder abgeschwächt worden, wenn nicht die Vieldeutigkeit des Wortes Form und besonders die Vielheit von Formarten und -stärken sowie die bisweilen zu dunkle Gegenüberstellung von Form und Inhalt Mißverständnisse hervorgerufen hätte. SIMMEL wollte und wir, die wir seine Arbeit an der Soziologie fortzuführen bereit sind, wollen an dne Vergesellschaftungsvorgängen aller Lebensgebiete unter möglichster Lösung von der Sachaufgabe jedes Falles das abstrahieren, was eben gesellschaftlich an ihnen ist. Da es sich dabei um allgemeinste Abstraktionen handelte, schien der Gegensatz zwischen den anderen sozialen Einzelwissenschaften und dieser Soziologie gut ausdrückbar in der gleichfalls allgemeinsten Gegenüberstellung von Form (gleich Gesellschaftliches) und Inhalt (gleich konkrete Sachaufgabe). Aber das ist nicht immer richtig verstanden worden. Es bietet sich eine andere Bezeichnung an: das Wort Beziehung statt Form. Wenn man hervorhebt, daß man aus den Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens, unter Loslösung von den Zwecken und Sachaufgaben des speziellen Falls, nur Art und Wesen der in ihnen bestehenden Wechselbeziehungen der Menschen abstrahieren will, so ist die Aufgabe so deutlich gekennzeichnet, wie es ihre Allgemeinheit überhaupt zuläßt. Mit Recht hat VIERKANDT die Beziehung die "Grundkategorie des soziologischen Denkens genannt". (2) Die Erhebung der Beziehung (im Gegensatz zum Begriff des Gegenstandes) zur Grundkategorie ist also nichts Neues. (Auch SIMMEL sieht die Aufgabe so.) Nur möchte ich weiter vorschlagen, auch die ganze Unterdisziplin als "Lehre von den gesellschaftlichen Beziehungen" oder kurz als Beziehungslehre zu bezeichnen. Das scheint mir plastischer und deutlicher als "formale Soziologie". In diesem Sinne soll auch dieser Teil der "Hefte" ein Archiv für Beziehungslehre bilden. Doch damit ist nur der Name geprägt und sein Sinn sehr oberflächlich angedeutet. Es handelt sich weiter um Wichtigeres:
2. Weshalb müssen wir sie als nächsten und wichtigsten Problemkomplex ansehen? Ist anzunehmen, daß sie unser Wissen vom sozialen Leben der Menschen in wesentlichen Punkten fördert? 3. Wie hat sie vorzugehen? Doch ist in unserer Beziehungslehre nicht bloß eine logische, sondern eine soziale Beziehung gemeint. Die Größen, die hier in Beziehung treten, sind Menschen oder menschliche Kollektivgebilde, die tätig (seelisch oder körperlich tätig) aufeinander wirken. Unsere Aufgabe ist es nun, die sozialen Beziehungen zu beschreiben, zu analysieren, zu gruppieren, zu messen und zu systematisieren. Es handelt sich also um eine Arbeit auf dem Boden der Erfahrung. Die Beziehungslehre ist rein emirischer Natur. Sie ist dabei nicht dasselbe wie Psychologie, so sehr sie (besonders bei der Analyse der einzelnen Beziehungen) die Seelenkunde nutzen muß. Soweit es in der Psychologie eine Lehre von den Motiven gibt (diese bildet die Brücke zu unserer Disziplin), ist sie der Soziologie benachbart. Der Unterschied liegt in der synoptischen [vergleichenden - wp] Betrachtungsweise des Soziologen, der individualisierenden des Psychologen. PAREDES sagt darüber sehr richtig:
Mit dieser Aufgabenbestimmung der Beziehungslehre ist sie als ein Teil der Lehre vom Sein (nicht des Wertens), als Systematisierung von Tatsächlichem bezeichnet; ihre phänomenologische Natur steht fest. Hier setzt die Kritik derer ein, die zwar an der engen Verbindung mit der Psychologie keinen Anstoß nehmen, aber befürchten, daß damit "eine Systematik der gesellschaftlichen Erscheinungen nicht zu erreichen" sei. Auch SINGER meint zur Kritik von SIMMELs Aufgabenstellung der Soziologie (4):
Den Weg von der Analyse der seelischen Verbindungen der Menschen zur Gesellschaft, d. h. zu den gesellschaftlichen Kollektivgebilden glaube ich deutlich zu sehen. Sind doch diese Gebilde nur abstrakte Objektivierungen von zahllosen Einwirkungen von Menschen aufeinander. Ich vermag Klasse, Staat, Familie usw. eben gerade nur auf diesem Weg zu verstehen. Auf jedem anderen geraten wir in die Spekulation, Geschichtsphilosophie, Ethik oder Metaphysik. Indessen bleiben noch einige Zweifelsfragen: ist die seelenkundliche Deutung ausreichen? Muß nicht ferner neben die Untersuchung und Ordnung der Beziehungen die Betrachtung der Menschen und Gruppengebilde auf ihre Funktion hin treten? Der Einwand gegen den "Psychologismus" finden wir nicht nur bei einigen deutschen Forschern, sondern genauso ringt im Ausland die psychologische Schule mit anderen Richtungen. Gerade auch in Amerika hat die psychologische Schule ihren (heute mehr oder weniger wohl anerkannten) Sieg nicht unbestritten erfochten. In Frankreich haben der verstorbene DURKHEIM und ADOLPH COSTE eine "objektive Soziologie" gegenüber der psychologischen Betrachtungsweise gefordert. Vom Subjekt Mensch her sei (wie auch BRINKMANN meint) die Systembildung nicht zu bewirken. Man müsse die Erscheinungen des sozialen Lebens mit Hilfe eines rein objektiven (d. h. hier außerhalb der Menschenseele bestehenden) Kriteriums ordnen. COSTE nimmt als letzte treibende Kraft, die die Entwicklung aller Formen des Gesellschaftslebens bestimmt, "ein Tatsache, die nichts Geistiges enthält: das ist der Druck der immer wachsenden Bevölkerung" (7). BRINKMANN vermißt bei der seelenkundlichen Richtung den "Anschluß an die zweite Seite der gesellschaftlichen Gebilde, auf der die Wissenschaften von der sozialen Außenwelt, die Beschreibung der Rechts- und Wirtschaftstatsachen, der statistischen Ausmaße von Kräften und Wirkungen arbeiten". Sicherlich bleiben bestimmte Tatsachen und Gesetze des nicht von Menschen allein herrührenden Teils der Außenwelt (Nahrungsspielraum, Bevölkerungstatsachen usw.) neben den seelischen von nicht geringerer Bedeutung; aber sie durchlaufen entweder das Medium der Psyche oder erfassen den Menschen als physisches Wesen. Die biologische Betrachtungsweise ergänzt aber die psychosoziologische und ist in der Beziehungslehre keineswegs ausgeschlossen. Was die Funktion betrifft, so ist sie kein begrifflicher Gegensatz zur Beziehung, sondern nur eine bestimmte Unterart von ihr. Die Aufgaben und Verrichtungen der Menschen und Gruppen leiten sich ebenso aus den Relationen von Ich und Du her wie die nicht auf einen Zweck gerichteten und in diesem Sinne organisierten sonstigen (bloßen Seins-) Beziehungen. Faßt man die Funktion als Ausfluß einer übergeordneten Norm, so entsteht alsbald wieder die Gefahr der Spekulation und setzt das Bestreben ein, mit Hilfe soziologischer Forschung die Geschichte zu "deuten". Jede vorzeitige Normgebung liegt aber jenseits einer realistischen, empiristischen Beziehungslehre. Gerade weil wir von der Analyse der Vergesellschaftungsvorgänge weiterschreiten und aufsteigen wollen zum Verständnis der Gebilde sozialer Kollektivkräfte, setzen wir bei einer so verfahrenden Beziehungslehre ein. Es gibt keinen anderen Zugang zu ihnen. Es lag mehr an SIMMELs wissenschaftlicher Eigenart als an der Natur seiner (von ihm nur nicht zu Ende geführten) Methode, daß er in zahlreichen, unzusammenhängenden Analysen steckenblieb. Er schritt nicht weiter zur Gruppierung der analysierten Beziehungen. Ihre Systematisierung unter Zurückführung verwickelterer auf einfache Beziehungen ist jedoch nicht minder notwendig. Zunächst ist die vorläufige Zusammenstellung von Worten erwünscht, deren Sinn eine soziale Beziehung ausdrückt. Schon WAXWEILER ließ einen ersten flüchtigen Versuch machen, ein "lexique sociologique" am Schluß seiner "Esquisse" zu geben. Die Wortsammlung gibt das Material zu zweiten Aufgabe: der Herstellung eines Netzes von Beziehungsbegriffen, die nunmehr in ein einheitliches, seelenkundlich orientiertes System gebracht werden. Zur Deduktion gesellt sich die Induktion. An den zahllosen Fällen der Selbstbeobachtung, des Studiums der gesellschaftlichen Umwelt, der Literatur, den Ergebnissen anderer sozialer Einzelwissenschaften und der Geschichte versuchen sich die Analyse und der Vergleich. Hier ist Raum in Menge für Massenbeobachtungen und Sammlung ihrer Ergebnisse. Die Kollektivarbeit erweitert die stets mehr auf das Wesentliche und die allgemeine Regel gerichtete Einzelforschung. Die Erkenntnis, daß induktive, gut organisierte Kollektivarbeiten notwendig sind, ist auch der Grund für die Wahl des Wortes "Archiv" als Überschrift für diesen der Beziehungslehre gewidmeten Teil unserer "Hefte". Ergebnisse von Beobachtungen der Wirklichkeit sollen hier in hoffentlich wachsendem Umfang (mit in erster Linie) gesammelt werden. RENÉ MAUNIER berichtet (in der Monatsschrift für Soziologie, Seite 100) in seiner Übersicht über "Die Soziologie in Frankreich seit 1900":
Auch die, welche meinen, daß das nicht der wichtigere Teil der Soziologie sei, daß kühne Synthese auf hypothetischer Grundlage wertvoller seien, sollten sich nicht von der Kleinarbeit der Beziehungslehre abwenden.
Die letzten Zwecke unserer Forschungen, über die ich hier nichts auszusprechen versuchen will, mögen sehr viel höher liegen; das resolute Beschreiten eines gegebenen Weges mit vorläufig nahe und deutlich sichtbar gesteckten Zielen tut jetzt mehr not. ![]()
1) FERDINAND TÖNNIES' Erwiderung auf BELOWs Angriff im "Weltwirtschaftlichen Archiv", Bd. 16, ist als vermehrter Sonderabdruck mit dem Titel "Hochschulreform und Soziologie, kritische Anmerkungen zu BECKERs Gedanken zur Hochschulreform und BELOWs "Soziologie als Lehrfach" 1920 in Jena erschienen. Die Broschüre hat 36 Seiten. 2) Vgl. VIERKANDT, Die Beziehung als Grundkategorie des soziologischen Denkens, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. IX, Heft 1 und 2 (Oktober 1915 und Januar 1916). 3) Ihn zitiert VICENTE SANTAMARIA de PAREDES in seinem Aufsatz "Der Gesellschaftsbegriff" in der Monatsschrift für Soziologie, Seite 654. 4) Vgl. KURT SINGER, Die Krisis der Soziologie, Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 16, Seite 255. 5) OTHMAR SPANN, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 115, Seite 166, 1920 6) Vgl. meine Anzeige des SPANNschen Werkes in dieser Zeitschrift auf Seite 67. 7) VIERKANDT in der "Monatsschrift für Soziologie", Seite 105. |