Stirner als SprachkritikerNietzsche und StirnerDeutsche Ideologie | ||||
Ich und Stirner [1/3]
STIRNERs "Verdienst" geht im Grunde auf ein einziges Werk zurück: Der Einzige und sein Eigenthum erschienen 1844/45 in Leipzig. Hören wir also, was "berufene" Geister der Geschichte über ihn zu schreiben wußten: ARNOLD RUGE ein führender Kopf des sogenannten Vormärz der 48er Revolution des letzten Jahrhunderts, hat das Buch bei seinem ersten Erscheinen als "frischen Morgenruf im Lager der schlafenden Theoretiker" begrüßt. LUDWIG FEUERBACH nannte es, trotz einiger Einwände; das "Werk des genialsten und freiesten Schriftstellers, den er kenne".(1) MAX NETTLAU schreibt 1925, daß nur wenige Bücher so mißverstanden oder so verschiedenartig beurteilt werden wie dieses, "und viele Leser bleiben bei einem auf die Spitze getriebenen Individualismus oder Egoismus stehen, den sie herauslesen wollen".(2) Vom selben Werk sagt AUGUST BEBEL, daß es eine extreme Lehre verbreite, nach der "Leute, die nicht scharf denken und sich leicht von der Leidenschaft fortreißen lassen oder fremden Einflüssen und Einflüsterungen leicht zugänglich sind, sich an einzelnen Individuen in einflußreicher Stellung vergreifen, weil sie solche Individuen für verantwortlich für die Übel in der Gesellschaft halten".(3) Das äußerste in dieser Hinsicht hat sich aber der Bonner Universitätsprofessor ERNST SCHULZ geleistet mit der Arbeit: STIRNERsche Ideen in einem paranoischen Wahnsystem.(4) Aber auch wenn es im Nachwort zur aktuellen Reclam-Ausgabe heißt: "STIRNER ist nur ein Beispiel für das Versagen einer ganzen Generation der Intelligentsia", so wurde das Buch doch seit der Jahrhundertwende bis zum heutigen Tag immer wieder gedruckt. Und das nicht etwa nur wegen der "totalitären Tendenzen", die STIRNER angeblich als einen Vorläufer des Faschismus erscheinen lassen. Was ist das also für ein Mensch, mit dem NIETZSCHE eine solche Verwandtschaft empfunden hat, daß er gefürchtet haben soll, für einen Plagiator gehalten zu werden? (5) Wer war der Radikalste unter den Radikalen, der unerschrockenste und konsequenteste unter den Anarchisten, "der Alleszermalmer, wie eher er, als KANT heißen sollte", so FRITZ MAUTHNER. (6) Der "wildgewordene, aber harmlose Kleinbürger" war allem Anschein nach ein Mensch, der zu den verschiedensten Beurteilungen und Mißverständnissen Gelegenheit bot. Was mich betrifft, so empfand ich die Lektüre des "Einzigen" bei der ersten Bekanntschaft als besonders wohltuend für das "schlechte Gewissen" eines jungen Menschen, der sich pausenlos mit gesellschaftlichen Anforderungen konfrontiert sah und die "Schuld" an diesem Mißverhältnis bisweilen ausschließlich bei sich selber suchte. STIRNER war ein echter Befreiungsschlag. Er gab mir das Gefühl, mit meinen Ansichten nicht allein zu sein. Es war mir damals jedoch noch nicht möglich, die entscheidenderen Stellen im Buch zu würdigen. Zuerst war mir STIRNER der wilde Empörer, der es mit seinem Egoismus vielleicht etwas zu weit trieb. Wie alle meine damaligen Mitmenschen war ich im objektivistischen Denken befangen, vertraute auf Wissenschaft, Logik und Rationalität und versuchte dementsprechend, ein STIRNERsches Modell auf die Gesellschaft zu übertragen - was natürlich scheiterte und scheitern mußte. Erst nach der Beschäftigung mit MAUTHNERs Sprachkritik wurde mir klar, wie wichtig die Sprache für das Denken ist. Über den Nominalismus stieß ich wieder auf STIRNER. Der "Nominalismus" wurde bereits im 11. Jahrhundert als solcher bezeichnet und erhielt von WILHELM von OCKHAM seine eigentliche philosophische Begründung. Es ist eine Anschauung, wonach den Allgemeinbegriffen der Sprache keine objektive Wirklichkeit entspricht. Die sprachlichen Kategorien sind nur Namen, die als Zeichen für die Dinge dienen, aber nicht mit der Wirklichkeit gleichgesetzt werden dürfen. Sprechen ist dem Nominalisten nichts anderes, als Zeichen geben, ein Fingerzeig auf die Wirklichkeit, aber keine direkte Erklärung. Unsere Wahrnehmungen sind kein Ergebnis von Wirklichkeit, sondern kommen aus uns selbst: Daß etwa ein Anzug zum Bekleiden daliegt, nehme ich nicht wahr. Dem in gewisser Weise zugeschnittenen bzw. genähten Stoff wird dieser Sinn nur beigelegt. Wir erfassen die Gegenstände meist schon in ihrer Funktion, nicht als Summe von Einzeltatsachen. Damit ist aber unser Denken von vornherein beschränkt und ein Feld zahlreicher Irrtümer eröffnet, weil jedem Gegenstand nicht nur eine Bedeutung zukommt. Was wir z. B. sehen, ist kein "Gehstock". Es liegt etwas auf einem Stuhl, hat die und die Farbe, diese Form oder Konsistenz etc. "Gehstock" ist die Beschreibung eines Zwecks, aber keine Tatsache. Der Gehstock kann in bedrohter Lage den Sinn einer "Waffe" erhalten, der Baum vor meinem Haus kann heute die Bedeutung als Fruchtbringer, morgen die eines Schutzes gegen die Sonne und Regen, ein andermal die von Brennholz haben. Die Bedeutungen sind also aus der bloßen Wahrnehmung allein nicht ableitbar. Es ist unser Interesse, das die "Tatsachen" ermöglicht. Es gibt keinen Wert und keine Wirklichkeit, die nicht relativ zu einem Subjekt stünde. Es hängt von unseren Empfindungen ab, wie uns die Dinge erscheinen. Alle sogenannten sinnlichen Qualitäten gehören aber nicht den Dingen als solchen an, sondern entstehen in uns selbst. Gewöhnlich wird vorausgesetzt, daß der Ausdruck "Ding" im Gegensatz zur "Idee" etwas bezeichnet, das außerhalb des Geistes existiert. "Real" nennen wir die Beziehung auf das Dinghafte. Das Problem des Gegenstandes bzw. der Gegenständlichkeit, wird jedoch in der Regel ignoriert. Unser ganzes Denken ist an Gegenstände gebunden. Ein Ding ist aber weiter nichts als eine konstante Summe von Empfindungen im Bewußtsein. Wir können auch Eigenschaften und Tätigkeiten nur schwer als für sich bestehend denken, darum fassen wir sie auf, als würden sie den Dingen innewohnen. Wir haben es aber nie mit den Dingen an sich zu tun, sondern mit unserem Wissen davon. Alle existenten Dinge sind Einzeldinge. Das Abstrakte existiert nicht. Existenz ist immer individuelle Existenz. Objektives und allgemeingültiges Wissen erhalten wir nur durch Abstraktion. Das Abstrakte ist aber nicht das Wirkliche. Die Grenze der wissenschaftlichen Erkenntnis ist die individualisierte Realität, die nur beschrieben, aber nicht begriffen werden kann. Keine Theorie kann etwas Objektives, d. h. mit der Natur sich wirklich Deckendes sein. Die Wirklichkeit als solche ist unsprachlich, unsagbar. Die Abstraktionen sind bloß allgemeine Ideen, wie etwa "Mensch", die wir aus praktischen Gründen, der Zusammenfassung halber anwenden. Wir denken in Begriffen, aber selbst die konkretesten Begriffe sind immer noch abstrakt. Was wir "wissen", ist immer etwas Gedachtes. Was wir dagegen erleben, ist umfassender als unser Denken. Mein Erleben bildet eine letztlich unerklärbare Einheit aus Denken, Fühlen, Wollen, die bestenfalls annähernd beschrieben werden kann, aber niemals an sich und objektiv erklärt wird. Die Überzeugung von der objektiven Realität der Sinnesqualitäten ist ein Trugbild. Schon die Wahrnehmungsaussage ist eine Interpretation des sinnlich Gegebenen. Der Gegenstand ist nicht gegeben, sondern wird erzeugt. Der Individualismus akzeptiert deshalb, wie der Nominalismus, ausschließlich die Wirklichkeit des individuellen, d. h. des eigenen Bewußtseins. Es gibt also keine Wirklichkeit, die uns gegeben ist. Darin unterscheidet sich der Nominalismus vom Realismus. Für die traditionelle Theorie war die Geltung der Allgemeinbegriffe gestützt durch die Hypothese der Gleichheit von Begriff und realer Wesenheit vermittels der Verdinglichung des Wirklichen. Die Subjekt-Objekt-Relation, wie sie in der Wahrnehmung gegeben ist (hier Subjekt, da Objekt), war ursprünglich der Prototyp, nach dem auch die Struktur des begrifflichen Erkennens gedacht wurde. Diese Analogie behielt solange ihren Sinn, als der Begriffsinhalt in der Sphäre des irgendwie gegenständlich Gegebenen verblieb. Hier ist er aber von OCKHAM herausgehoben worden. Der Begriff besitzt nur mehr als psychischer Akt Realität, dessen Inhalt nicht mehr als "gegeben" bezeichnet werden kann und der in keiner Weise mehr Objekt im bisherigen Sinn ist. Die Setzung des Begriffs steht am Anfang aller Logik und Rationalität. Diese Setzung ist aber nicht objektiv gegeben, sondern wird von uns mehr oder weniger willkürlich vorgenommen. Der ganze Erlebnisinhalt ist subjektiv und kommt als solcher nur einmal vor. Unsere Erlebnisse bilden nur im Wort, in der Analogie oder im Bild eine Einheit, die sie in Wirklichkeit nicht haben. Niemand vermag eine exakte Grenze zwischen Denken, Fühlen und Wollen zu ziehen. Zwischen dem rationalen Wort und der subjektiven Empfindung liegt eine nicht überbrückbare logische Kluft. Das seelische Erleben ist ein kontinuierlicher Prozeß von Empfindungen. Wir haben eigentlich nur unsere Empfindungen und ordnen diesen dann mehr oder weniger allgemeine Zeichen oder Begriffe zu. Was Sache der Empfindung ist, läßt sich aber nur empfinden und nicht denken. Diese Erkenntnisse ließen mir STIRNERs Buch in einem völlig neuen Licht erscheinen, so daß eine erneute Lektüre des "Einzigen" anstand. Ich mußte feststellen, daß STIRNER bereits damals wesentliche Konsequenzen durchschaut hatte, die sich aus der den Abstraktionen innewohnenden dogmatischen Verallgemeinerung ergaben. Ich aber war wortabergläubig gewesen und der üblichen Bedeutung der Begriffe und dem allgemeinen Sprachgebrauch viel mehr nachgelaufen, als ich selbst wahrhaben wollte. Mit der Klarheit über das "Wesen" der Abstraktionen kam auch die Erkenntnis meiner Wirklichkeit: Abstrahieren heißt "Vergegenständlichung" des Prozeßhaften. Die so entstehende objektive Welt ist aber nicht meine und auch nicht irgendjemandes Welt, es ist eine Illusion, ein Ideal, ein Spuk, würde STIRNER sagen. Die Kategorien allein geben Gegenständlichkeit. Ich mußte erkennen, daß es keine von der Diskussion über die Sprache losgelöste Diskussion der empirischen Gegebenheiten gibt. Wir sprechen immer auch über die Sprache, wenn wir über Dinge sprechen. Die Sprache bringt uns sogar dazu, Namen für gar nicht existierende Gegenstände zu erfinden und diesen Gegenständen Realität zuzuschreiben. Der Wortrealismus schafft Pseudo-Objekte, also Dinge, die nur scheinbar existieren. Was wir die objektive Bedeutung eines Dinges nennen, ist lediglich seine praktische Gültigkeit für einen größeren Kreis von Subjekten. Wir brauchen die Sphäre der Gegenständlichkeit, weil nur in ihr alles allgemein und übertragbar ist. Die Objektivierbarkeit der Dinge und Handlungen ist deshalb die Kardinalfrage des Wissens und der Wirklichkeit, aber auch der Legitimation von Recht und Moral. Überall, wo ein Anspruch erhoben wird, handelt es sich um die Objektivität berechtigter Ansprüche. STIRNER hat vor NIETZSCHE, aber auch vor den Neukantianern, vor F.A. LANGE oder VAIHINGER von Fiktionen gesprochen. Spuk und Sparren sind ihm die fixen Ideen: Gedankenherrschaft und Absicherung von Herrschaft. Für LANDAUER war STIRNER deshalb der letzte große Nominalist, der mit radikalster Gründlichkeit dem Spuk der Abstraktionen seine Realität und Heiligkeit raubte. Die Essenz der STIRNERschen Lehre faßt LANDAUER in die Worte: "Der Gottesbegriff ist zu vernichten. Aber nicht Gott ist der Erzfeind, sondern der Begriff." STIRNER fand, daß alle tatsächliche Unterdrückung zuletzt von den Begriffen und Ideen ausgeübt wird, die respektiert und für heilig genommen werden. Die Wesen allein und nichts als die Wesen zu erkennen und anzuerkennen, das ist Ideologie: Ihr Reich ein Reich der Wesen, des Spukes und der Gespenster. (43) "Mit unerschrockener gewaltiger und sicherer Hand", hat STIRNER, so LANDAUER, Begriffe wie "Gott", "Heiligkeit", "Moral", "Staat", "Gesellschaft", "Liebe" auseinandergenommen und lachend ihre Hohlheit demonstriert. Die Abstrakta sind nach seiner glänzenden Darstellung aufgeblasene Nichtigkeiten, vereinfachte Sammelnamen für eine Summe von Einzelwesen. (7) STIRNERs Bedeutung muß aus der damaligen Zeit heraus verstanden werden. Die geistige Welt des 19. Jahrhunderts war vollauf damit beschäftigt, aufklärerisch, d. h. "wissenschaftlich" zu wirken. Allgemeine Rationalität und Logik, d. h. eine objektive "Vernunft" wurde gegen alle möglichen irrationalen Autoritäten gestellt, dem unbeweisbaren Aberglauben sollte die allgemeine Objektivität des "beweisbaren" Wissens und der objektiven Tatsachen entgegengesetzt werden. Die klassische Wissenschaft feierte Hochkonjunktur. Es wurde versucht, das Wesen des Menschen zu ergründen, um damit die verschiedensten Formen von Organisation und "Ordnung" zu rechtfertigen. Die bürgerlichen Freiheitsbestrebungen setzten die "natürliche Ordnung" der Dinge gegen Willkür und Aberglauben. Den Wissenschaftlern, auch den Ökonomen, mangelte es jedoch häufig an der Erkenntnis der Abstraktheit ihres begrifflichen Instrumentariums und daher auch an der entsprechenden Durchforstung ihrer Theorien nach Begriffsgespenstern. Der realitätsgläubige KARL MARX bildete da keine Ausnahme. MARX unterstellte STIRNER z. B., daß für ihn die Notwendigkeit zu produzieren, um zu leben, und die davon abhängigen Verhältnisse "fixe Ideen" sind. (8) Darin hat er sicher Recht und zeigt gleichzeitig, daß er nicht versteht, worum es STIRNER eigentlich geht. Sicher gibt es so etwas wie "Produktion" und auch ein "Leben" sowie "abhängige Verhältnisse", aber absolut und an sich gesehen haben diese Begriffe keine Bedeutung. Es sind unwirkliche Konstruktionen, die als Realitäten ausgegeben werden, indem ihr Setzungscharakter verschleiert wird. "Produktion", "Leben", "abhängige Verhältnisse", "Notwendigkeit" - alles Ideen, zusammengesetzt aus einer Unmenge anderer Ideen, aber keine Realitäten. Sicher gibt es so etwas wie eine Wirklichkeit, aber diese Wirklichkeit ist individuell und in keiner Theorie zu verallgemeinern. Entscheidend ist die Bedeutung, die diesen Begriffen beigemessen wird, aber nicht "an sich", sondern von konkreten, einzelnen Menschen zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt, an einem ganz bestimmten Ort. KARL MARX war zwar einer der wenigen, die schon damals den ideologischen Charakter vieler Wissenschaften aufdeckten, MAX STIRNER jedoch der Einzige, der auch die letzten abstrakten Begriffe in sein "Gebet" einschloß. STIRNER hat den grundsätzlichen Science-Fiction-Charakter der Wissenschaften bloßgelegt. MARX war immer noch Positivist, STIRNER dagegen leugnet jede prinzipielle, d. h. objektive Erkennbarkeit der Welt. Mit Worten schaffen wir vielleicht eine Annäherung, aber nur, um bestimmte Zwecke zu verwirklichen. Unser ganzes Wissen ist nie etwas anderes als praktisch für subjektive Zwecke, aber niemals objektiv an sich geltend, Ideologe ist, wer Ideen für Tatsachen ausgibt, und wer sich der Ideenhaftigkeit der Worte, die er gebraucht, nicht bewußt ist, der hat eben "fixe Ideen". Wer nur mit Abstraktionen jongliert, macht die Sache um nichts deutlicher. STIRNER zog gegen die "fixen Ideen" und "Gespensterbegriffe" zu Felde. Sein Subjektivismus bzw. Individualismus ist hauptsächlich unter diesem Gesichtspunkt wertvoll. MAX STIRNER lebte in einer Zeit des geistigen Umbruchs, in der zwar die Götzen "Gott" und "König" vom Sockel gestürzt wurden, aber neue Götzen - wie "Vernunft" und "Wissenschaft" oder das Ideal des "Menschen an sich" -sich anschickten das vakante Erbe zu übemehmen. Die Bourgeoisie hatte die Monarchie abgelöst. "Der Gedanke des Staats zog in alle Herzen ein und weckte Begeisterung; ihm zu dienen, diesem weltlichen Gotte, das ward der neue Gottesdienst und Kultus." (108/109) Mit der Bourgeoisie beginnt der Liberalismus. Sein Ziel ist die "vernünftige" Ordnung, nicht die autoritäre. Die liberalen Grundsätze blieben jedoch abstrakt. Durch den Liberalismus wurden nur andere Begriffe aufs Tapet gebracht, nämlich statt der göttlichen menschliche, statt der kirchlichen staatliche, statt der gläubigen wissenschaftliche. (104f) Anstelle der alten Götzen sind neue getreten. "Staat" und "Gesellschaft" sind nun neben dem "Menschen" die Hauptideen. STIRNER dagegen verabscheute die Verabsolutierung des Menschen. "Der Mensch ist der letzte böse Geist oder Spuk, der täuschendste oder vertrauteste, der schlaueste Lügner mit ehrlicher Miene, der Vater der Lügen." (202)Der "Bürger an sich" ist aber, wie der "Mensch an sich", keine Person, sondern ein Ideal, ein Spuk (85) Die konkreten Menschen schienen weiterhin nicht zu existieren. "Wieder ist das Subjekt dem Prädikate unterworfen, der Einzelne einem Allgemeinen; wieder ist einer Idee die Herrschaft gesichert und zu einer neuen Religion der Grund gelegt." (201) Und die Dichter und Philosophen der Bourgeoisie (GOETHE und HEGEL) besingen die Abhängigkeit des Subjekts vom Objekt und wissen den Gehorsam gegen die objektive Welt zu verherrlichen. (114) "Ein eingebildetes Ich, eine Idee, wie die Nation ist, tritt handelnd auf, d. h. die Einzelnen geben sich zu Werkzeugen dieser Idee her und handeln als Bürger." (121) Grundsätzlich unterscheidet STIRNER "Mensch" und "Ich". So sind auch die beiden Abteilungen seines Buches überschrieben. Der "Mensch" ist der abstrakte Mensch, der objektive Mensch, der Mensch-an sich, der Mensch im Allgemeinen - der Spuk. "Ich", das ist der Einzelne in seiner ganzen Subjektivität, das unwiederholbare, einzigartige Individuum, der "Einzige". Diese Differenzierung kann nicht deutlich genug herausgehoben werden. Viele seiner Kritiker scheitern genau an diesem Punkt: Was ich objektiv zu sagen weiß, hat nichts mit mir zu tun. Ich bin nicht objektiv. In einer Welt des "An sich" bin ich nicht vorhanden. Das objektive Ich ist bedeutungslos. STIRNER ist hinter den hypothetischen Charakter seiner Ichvorstellung gekommen. Wir teilen uns selbst in zwei Personen, in ein wirkliches und ein theoretisches Ich, ohne uns der Unterscheidung immer bewußt zu sein. Durch die Sprache entsteht die doppelte Welt, die wir nun nicht mehr auseinanderzuhalten vermögen. Wir verwechseln unser subjektives Erleben mit unserem rationalen Denken. Wir denken unsere Gefühle und emotionalisieren unsere Gedanken. Unsere unklassifizierten Empfindungen werden zu einer "eigentlichen Wahrheit". Nicht so bei STIRNER. Alle Begriffe haben für ihn nur eine subjektive Bedeutung und keine andere. STIRNERs Begriffe sind, indem er sie denkt, schon verwirklicht. Er benützt sie, ohne sich von ihnen benutzen zu lassen. Für STIRNER gibt es kein höheres Wesen, das er sich erst erwerben müßte. Ihm geht nichts über sich. "Das Objekt hat seine Problematik dem Subjekt gegenüber verloren, weil es nicht anders existiert, in gar keiner andern Hinsicht in Frage kommt, als im Genossenwerden durch das Subjekt. Es ist deshalb völlig logisch, wenn die Wahrheit als Ideal für STIRNER nicht besteht - er braucht sie nicht, da der Abgrund zwischen Subjekt und Objekt, den sie zu überbrücken bestimmt ist, hier praktisch von der Seite des Subjekts her ausgefüllt wird oder eigentlich von vornherein dadurch negiert ist, daß das Objekt nur in seinem Eingehen in das Subjekt real wird." (9)STIRNER hat sich hinter den Gedanken gefunden, als ihr Schöpfer und Eigner. (14) Er ist das Kriterium der Wahrheit, und Er ist keine Idee, sondern mehr als eine Idee, d. h. unaussprechlich. Er steht nicht im Dienste einer Idee, sondern ist seine eigene.(400) STIRNER faßt die Ideen als seine Ideen, weil Er ihre Realität ist, weil ihre Realität darin besteht, daß Er, der Leibhaftige, sie hat. (401) "Ich verrichte nie in abstracto Menschliches, sondern immer Eigenes, d. h. meine menschliche Tat ist von jeder andern menschlichen verschieden und ist nur durch diese Verschiedenheit eine wirkliche, Mir zugehörige Tat. Das Menschliche an ihr ist eine Abstraktion, und als solches Geist, d. h. abstrahiertes Wesen." (197) Es geht ihm nur um Sich, nicht "um die Sache", weil es ihm nur um Sich gehen kann. Seine Erkenntnis ist immer subjektiv, sein Tun immer auf seine Interessen bezogen. Es gibt für ihn kein objektives, d. h. wertfreies Wissen oder Tun. Das von den konkreten Dingen abgewandte Leben zieht keine Nahrung mehr aus der Natur, sondern lebt nur von "Gedanken" und ist deshalb nicht mehr "Leben", sondern - Abstraktion. (22) STIRNER hat an sich nur ein praktisches Interesse. STIRNER benützt die Sprache, wie er seinen Verstand benutzt, ohne an ihre Wahrheit zu glauben, sondern weil sie seinen Interessen dient. Sein abstraktes Ich ist ihm eine grammatikalische Hilfskonstruktion, aber nicht wirklich "Er". "Er" ist "einzig", unsagbar. STIRNER weist alle Erscheinungsformen von Positivität ab. Alle Abstraktionen sind nur praktisch-nützlich und haben keine objektive Gültigkeit. Objektivität ist ihm Sparren und Spuk. Alle unsere Theorie ist nichts als Praxis. STIRNER wußte, daß es für ihn nur eine Welt gab - seine eigene; er wußte, daß es für ihn nur eine Moral gab - seine eigene -, und er wußte auch, daß es für ihn nur ein Recht gab - sein eigenes. Derartige Postulate sind heute wie damals der Anlaß verschiedenster Debatten und Anfeindungen. Gewöhnlich wird der Individualismus, bzw. Subjektivismus, von den Objektivisten als Gegensatz aufgefaßt. Dem subjektiven, sprich privatisierten Bewußtsein wird ein unpolitisches und unsolidarisches bis unmoralisches Verhalten angelastet. Nur allzuleicht wird deshalb die radikale Subjektivität in den Bereich des Wahnsinns abgedrängt. Die "subjektiven Situationen des kleinbürgerlichen Individuums" werden den "objektiven Bewegungstendenzen der gesellschaftlichen Gesamtsituation" gegenüber als "objektiv machtlos" dargestellt. Das ist eben die Krankheit aller politischen Ideologie, daß nur die Herren ausgetauscht werden. Der mächtigste Herr sitzt in diesem Fall in unserem Kopf und heißt "Wahrheit" bzw. Objektivität. An einer solchen STIRNER-Diskussion möchte ich mich auch nicht mehr als unbedingt nötig beteiligen, weil hier, von einem überholten Objektivismus ausgehend, das Übliche Parteiengezänk ausgetragen wird. STIRNER hatte es wahrscheinlich nur zu gut am eigenen Leib erfahren, daß er nicht gegen eine übermächtige Wirklichkeit, sondem gegen den allgemein herrschenden Wahnsinn zu kämpfen hatte. Er erkannte den Glauben an die objektive Wirklichkeit von Abstraktionen als den mächtigsten Helfer zur Beherrschung von Menschen. Eine solche geistige Beherrschung von Menschen ist aber anscheinend nur Anarchisten ein Problem. HANS G. HELMS z. B. wähnt sich, ideologiekritisch zu argumentieren. "Terminologische Verwirrung" ist ihm "Strukturelement von Ideologie", die über der Wirklichkeit schwebt. (10) Daß er in keinster Weise zur Entwirrung beiträgt, ist ihm nicht bewußt, weil er selbst an eine objektive Wirklichkeit glaubt. Wenn es bei HELMS heißt, STIRNERs Lehre vom Einzigen rechtfertige "Kapitalismus", "Unwahrheit" und "Unrecht", "Haben" und "Nichthaben" - da ihr Ideal die "unsoziale" und "anonyme Existenz" ist, rechtfertigt sie sogar den "Mord" (11)-, so sind alle diese Begriffe in einem absoluten Sinn gebraucht, sie entspringen einem objektivistischem Weltbild und daher einer ganz bestimmten Ideologie. Es wird vorausgesetzt, daß über Begriffe wie "Kapitalismus", "Wahrheit", "Recht" oder "Gewalt" ein eindeutiges objektives Verständnis besteht. Ein solches existiert aber nur für diejenigen, die diese Begriffe dogmatisch "beherrschen". STIRNER war es, der über die Herrschaft der Begriffe aufklärte. Wenn HELMS STIRNER vorwirft, er habe "für Realitäten lediglich gewisse Idealitäten als Bewußtseinsersatz zu bieten. (12), dann hat er rein gar nichts kapiert. Es ist die alte Krankheit der Positivisten, daß sie nur eine Ideologie gegen die andere austauschen. "Eine unzählige Menge von Begriffen schwirren in den Köpfen umher, und was tun die Weiterstrebenden? Sie negieren diese Begriffe, um neue an deren Stelle zu bringen! Sie sagen: Ihr macht Euch einen falschen Begriff vom Rechte, vom Staate, vom Menschen, von der Freiheit, von der Wahrheit, von der Ehe usw.; der Begriff des Rechts usw. ist vielmehr derjenige, den Wir jetzt aufstellen. so schreitet die Begriffsverwirrung vorwärts. " (105) Es wundert mich also nicht, daß der "Einzige" so oft mißverstanden wurde. Seine Kritiker gingen hauptsächlich vom allgemeinen Sprachgebrauch bzw. von ihrem eigenen Ideologiebegriff aus. Das führt dann leicht zu Mißverständnissen gerade in der Problematik "Einziger , "Ich , Mensch", "Wesen" etc. HANS H. HOLZ wirft STIRNER vor, er übertölple seine Leser mit einem ganz einfachen Trick: er setzt die "Denk"möglichkeit des Einzelnen, sich die ganze Welt anzueignen, der "Real"möglichkeit gleich, dies als Einziger zu tun. ... Der Einzige kann sich mithin als Eigner dieser Welt nur denken. Wirklich wird er erst, wenn er sich (qua Einziger) aufhebt und in die Gemeinschaft mit anderen eintritt. Daß diese simple Realität die Konstruktionen STIRNERs ins luftige Reich der Träume verweist, folgert HOLZ, hat deren Wirkung keinen Abbruch getan. (13)
1) Anselm Ruest, Vorwort zum Einzigen, Berlin 1924, Seite 8 2) Max Nettlau, Der Vorfrühling der Anarchie, Bremen o.J., Seite 169 3) August Bebel, Attentate und Sozialdemokratie, (nach einer Rede, gehalten 1898) in Iring Fetscher, Terrorismus und Reaktion, Köln/Ffm 1978, Seite 30 4) Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 36, Berlin 1903, Seite 793-818, in Sveistrup, Stirners 3 Egoismen, Seite 100, Anm. 125, Lauf/Pegnitz 1932 5) Ch. Andler, Nietzsche, sa vie et sa Pensée, Paris 1928 in Justus Wittkop, Unter der schwarzen Fahne, Ffm 1973, Seite 32 6) Fritz Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, Bd. IV, Seite 203 7) Gustav Landauer, Skepsis und Mystik, Münster/Wetzlar 1978, Seite 12 8) Marx-Engels-Werke, Bd. 3, Berlin 1978, Seite 144 9) Georg Simmel, Hauptprobleme der Philosophie, Berlin 1964, Seite 89 10) Hans G. Helms, Die Ideologie der anonymen Gesellschaft, Köln 1966, Seite 1 11) Hans G. Helms, Die Ideologie der anonymen Gesellschaft, Köln 1966, Seite 500 12) Hans G. Helms, Die Ideologie der anonymen Gesellschaft, Köln 1966, Seite 206 13) Hans Heinz Holz, Die abenteuerliche Rebellion, Neuwied 1969, Seite 12 |