cr-4ra-1K. VorländerH. J. StörigB. RussellF. MauthnerW. Vossenkuhl    
 
WILHELM von OCKHAM
Grundbegriffe
aus der "Summa Logicae"


"Pluralitas non est ponenda sine necessitate."
(Eine Vielheit darf nicht gesetzt werden, ohne daß es notwendig ist.)

    EINLEITUNG von RUEDI IMBACH
    Wie es Sprachzeichen gibt, welche sich nicht auf außersprachliche Gegenstände beziehen, sondern Zeichen sprachlicher Zeichen darstellen, ebenso gibt es mentale Termini, die nicht Zeichen von Dingen, sondern Zeichen mentaler Zeichen sind. In Übereinstimmung mit der logischen Tradition arabischer Prägung nennt Ockham sie Namen zweiter Intention (Text 9). Im Zusammenhang mit der Klärung dieses Begriffes stellt sich das grundsätzliche Problem von Ursprung, Funktion und Wesen der Allgemeinbegriffe (Texte 10 bis 11)

    Diese Fragen sind von grundlegender philosophischer Relevanz, wird doch der Bezug menschlicher Begriffe zu der extramentalen Wirklichkeit diskutiert. Der von Ockham kritisierte Realismus - in allen seinen z.T. recht subtilen Varianten - bemüht sich, den Wirklichkeitsgehalt der Universalien zu retten. Aus diesem Grunde muß er behaupten, den Universalien entspreche etwas in der extramentalen Wirklichkeit.

    Ockhams Widerlegung aller Formen des erkenntnistheoretischen Realismus ist einfach, radikal und folgenreich: Nur Begriffe (und sprachliche Zeichen) sind allgemein; das wirklich Existierende dagegen ist durch und durch individuell. Keine noch so scharfsinnige Zurechtlegung vermag diesen Gegensatz zu überwinden: "Es ist ebenso unmöglich, daß ein extramentales Ding ein Universale sei ..., wie es unmöglich ist, daß ein Mensch mit dem Denken oder dem Sein nach ein Esel sei".

    Die Funktion universaler Begriffe bei der menschlichen Erkenntnis der individuellen Wirklichkeit ergibt sich von selbst, wenn man sich an das bereits Ausgeführte erinnert: Die Intentionen, Begriffe sind Zeichen, deren Aufgabe nicht im Abbilden extramentaler Gegenstände besteht, sondern im Verweisen darauf. In gleicher Weise, wie die sprachlichen Zeichen durch ihre Bedeutung auf etwas hinweisen und in einem Satz für etwas stehen können, sind die Begriffe allgemeine Zeichen, welche in mentalen Sätzen für individuelle Dinge stehen können.

    Ockhams Lehre vom Begriff als Zeichen revolutioniert die mittelalterliche Erkenntnistheorie, wenn sie die traditionelle Auffassung - der Begriff als Bild des Erkannten - an der Wurzel zerstört. Mit der Abbildtheorie wird zugleich die Abstraktionstheorie, welche erklären sollte, wie der Intellekt den Allgemeinbegriff aus dem sinnlichen, individuellen Vorstellungsbild ablöst, hinfällig und überflüssig. Weil OCKHAM in erster Linie eine negative Kritik intendiert - er insistiert auf der Destruktion eines Aberglaubens -, interessiert er sich kaum für die Frage nach dem Ursprung der Universalien. Sie sind für ihn Bestandteile einer natürlichen Sprache, die sich bei der Begegnung mit der Außenwelt von selbst ergibt.

    Bezüglich der Natur oder des Wesens der Begriffe hat sich die Auffassung Ockhams entwickelt. Im Text 9 (4) schlägt OCKHAM drei mögliche Lösungen dieses Problems vor, die er zuvor im Sentenzenkommentar und im Kommentar zu Peri Hermenias als wahrscheinlich beurteilt hatte. Die erste dieser drei Thesen unterstellt, das Universale sei eine Erfindung oder ein Produkt des Intellekts (fictum, idolum), welches sein Sein allein der Tätigkeit des Intellekts verdanke. Das eigentümliche  Sein  dieser Fiktionen, welches vom wirklichen Existieren der Dinge abgehoben werden muß, nennt Ockham  esse intentionale  oder  esse obiectivum. 

    Die zweite mögliche Antwort lautet: Das Universale ist eine Qualität der Seele, d.h. aber ein wirklich existierendes Akzidens der Seele, welches als solches ein rein real existierendes Einzelding ist, das aber von mehreren ausgesagt werden kann, wie ein einzelner Laut von mehreren Dingen ausgesagt werden kann. Diese  Qualität der Seele  welche in zwei Varianten gedacht werden kann, nämlich 1. als mit dem Erkenntnisakt identisch oder 2. als von ihm verschieden, wäre als ein Seiendes in der Seele (ens in anima) zu deuten, das als Akzidens der Seele zu den wirklich Seienden (entia realia positiva) gehört.

    In den beiden genannten Texten will sich OCKHAM für keine der drei Lösungen entscheiden. Die späteren Schriften argumentieren hingegen eindeutig für die Identifikation des Universale mit dem Erkenntnisakt. Diese Lösung, welche dem Ökonomieprinzip entgegenkommt und alle denkbaren Zusatzhypothesen ausschaltet, besagt: Das Universale ist ein Akt des Intellekts, der als solcher wahrhaft existiert, nämlich als Einzelding, das ebenso wirklich ist wie die schwarze Farbe des Tisches, auf dem ich schreibe, aber von Natur aus Zeichen eines anderen sein kann und als solches Zeichen universal ist.

    Die Hintergründe und Konsequenzen von Ockhams Antwort auf die Universalienfrage sind bedenkenswert. Die radikal kontingente Welt kann nicht mehr als Nachahmung göttlicher Ideen-Vorbilder im traditionellen Sinne gelesen werden. Dieser Verlust einer idealen, einheitlichen und erkennbaren Ordnung begünstigt einerseits das Individuelle in seiner absoluten, irreduziblen und einzigartigen Seinsweise. Andererseits wandelt sich die Stellung des erkennenden Subjekts, denn die kritische Aufhebung einer natürlichen Zuordnung von Denken und Sein, Intellekt und Wirklichkeit entreißt das Subjekt seiner selbstvergessenen Hingabe an das Objekt und bereitet durch das Wissen um die Differenz von Denken und Sein die Geburt des Selbstbewußtseins vor. Ockhams Universalienlehre stellt vordergründig die Antwort auf eine überkommene Schulfrage der Philosophie dar, sei impliziert aber eine ganze Weltauslegung und hat in ihrer Wirkung zu einer Umgestaltung der menschlichen Selbstauslegung beigetragen.

Text 9: Summa Logicae I,12
Namen erster und zweiter Intention

(1) Da im (vorangehenden Kapitel) gesagt worden ist, gewisse Namen seien Namen erster und andere Namen zweiter Intention, und da für viele die Unkenntnis der Wortbedeutung eine Gelegenheit zum Irren bietet, ist nun beiläufig zu sehen, was eine erste Intention sei und was eine zweite, und wie sie unterschieden werden.

(2) Man muß zuerst wissen, daß ein Etwas in der Seele, das fähig ist, etwas anderes zu bedeuten, eine Intention der Seele genannt wird. Wie früher gesagt worden ist, sind die Laute auf dieselbe Weise, wie die Schrift zweitrangiges Zeichen im Verhältnis zu den Lauten ist - denn unter den konventionell eingesetzten Zeichen kommt den Lauten der Vorrang zu -, zweitrangige Zeichen dafür, wofür die Intentionen der Seele erstrangige Zeichen sind. In diesem Sinne sagt ARISTOTELES, die Laute seien Zeichen der Eindrücke in der Seele. Dieses in der Seele Existierende, welches ein Zeichen des Dinges ist und woraus ein mentaler Satz zusammengesetzt wird, nennt man manchmal Intention der Seele, manchmal Begriff der Seele, manchmal Eindruck der Seele, manchmal Ähnlichkeit des Dinges, und BOETHIUS in seinem  Kommentar zur Lehre vom Satz  nennt es Erkanntes. ... Wann immer jemand eine gesprochene Aussage ausspricht, hat er vorher in seinem Inneren eine mentale Aussage gebildet, die zu keinem Idiom gehört; das ist so sehr wahr, daß viele oft in ihrem Innern Aussagen bilden, die sie wegen der Mangelhaftigkeit des Idioms nicht ausdrücken können. Die Bestandteile solcher mentalen Aussagen werden Begriffe, Intentionen, Ähnlichkeiten oder Erkannte genannt.

(3) Aber was ist dieses Etwas in der Seele, welches ein derartiges Zeichen ist?

(4) Es ist zu sagen, daß es diesbezüglich verschiedene Meinungen gibt: Einige sagen, es sei nichts anderes als etwas von der Seele Eingebildetes; andere behaupten, es sei eine gewisse vom Erkenntnisakt verschiedene Qualität, welche subjektiv in der Seele existiere; andere sagen, es sei der Erkenntnisakt selbst.

(5) Zugunsten der letzten Ansicht spricht folgender Grund: überflüssigerweise wird etwas durch mehrere gemacht, was durch wenigere gemacht werden kann. Alles, was man erklären kann, wenn man etwas vom Erkenntnisakt Verschiedenes annimmt, kann man ebenso gut auch ohne dieses Verschiedene erklären, denn  für ein anderes stehen  und  etwas bedeuten  kann dem Erkenntnisakt ebenso zukommen wie einem anderen Zeichen. Es ist also nicht erforderlich, etwas neben dem Erkenntnisakt anzunehmen.

(6) Diese Meinungen werden später geprüft werden. Im Augenblick genügt es zu wissen, daß die Intention etwas in der Seele ist, das ein Zeichen ist, welches von Natur aus etwas, wofür es supponieren kann, bedeuten kann, oder daß es Teil eines mentalen Satzes sein kann.

(7) Ein solches Zeichen ist zweifacher Art: Das eine ist Zeichen eines Dinges, das selbst kein Zeichen ist, ungeachtet dessen, ob es gleichzeitig auch ein solches Zeichen bedeutet oder nicht. Ein solches Zeichen nennt man eine erste Intention. Von dieser Art ist jene Intention der Seele, welche von allen Menschen ausgesagt werden kann; und auf ähnliche Weise die von aller Weiße und Schwärze aussagbare Intention und ebenso bei anderen Fällen.

(8) Man muß jedoch wissen, daß man  erste Intention  im engeren und weiteren Sinne auffassen kann.

(9) Im weiteren Sinne wird jedes in der Seele existierende intentionale Zeichen erste Intention genannt, das nicht einzig eine Intention oder ein Zeichen bedeutet, ob man nun Zeichen im engeren Sinne auffasse als das, was so bedeutet, daß es in einer Aussage für sein Bedeutetes stehen kann, oder ob man Zeichen im weiteren Sinne verstehe in der Weise, wie die synkategorematischen Ausdrücke (z.B. Ausdrücke wie  jeder, einer, keiner, neben, nur, als ) bedeuteten. Und auf diese Weise können mentale Verben, synkategorematische Ausdrücke, Konjunktionen und Derartiges erste Intentionen genannt werden.

(10) Im engeren Sinne wird nur der mentale Name, der für sein Bedeutetes supponieren kann, erste Intention genannt.

(11) Eine zweite Intention ist Zeichen solcher erster Intentionen. Von dieser Art sind die Begriffe  Gattung, Art  und Derartiges. So wie von allen Menschen eine allen gemeinsame Intention ausgesagt wird, wenn ich sage,  Dieser Mensch ist ein Mensch, Jener Mensch ist ein Mensch  und ebenso von allen einzelnen, ebenso wird von allen Intentionen, die bedeuten und für Dinge supponieren (für Dinge stehen), eine gemeinsame Intention ausgesagt, wenn ich sage  Diese Art ist eine Art,   Jene Art ist eine Art  und ebenso in anderen Fällen.

Ebenso wenn man sagt  Stein ist eine Gattung, Tier ist eine Gattung, Farbe ist eine Gattung  und ebenso in anderen Fällen wird von Intentionen eine Intention ausgesagt in der Weise, wie in den Aussagen  Mensch ist ein Name, Esel ist ein Name, Weiße ist ein Name  von verschiedenen Namen ein Name ausgesagt wird. Und ebenso wie die Namen der zweiten Namengebung konventionell Namen der ersten Namengebung bedeuten, ebenso bedeutet die zweite Intention von Natur aus die erste. Und wie ein Name der ersten Namengebung anderes als Namen bedeutet, ebenso bedeutet die erste Intention andere Dinge als Intentionen.

(12) Man kann sagen, die zweite Intention werde im engeren Sinne für eine Intention verwendet, die ausdrücklich erste Intention bedeute; im weiteren Sinne für eine Intention, die Intentionen und konventionell eingesetzte Zeichen bedeute - wenn es Derartiges überhaupt gibt!


Text 9: Summa Logicae I,14
Universale und Einzelnes

(1) Da dem Logiker eine so allgemeine Erkenntnis der Termini nicht genügt, sondern es erforderlich ist, von den Termini eine genauere Kenntnis zu besitzen, deshalb muß im folgenden, nachdem die allgemeinen Einteilungen der Termini abgehandelt worden sind, von einigen den bisher behandelten Einteilungen untergeordneten Termini gesprochen werden.

(2)  Zuerst  sollen die Begriffe zweiter Intention,  dann  jene erster Intention abgehandelt werden. Es ist gesagt worden,  Universale, Gattung, Art  usw. seien Termini zweiter Intention. Deshalb ist etwas von den sogenannten fünf Universalien zu sagen.  Zuerst  aber soll der Allgemeinbegriff  Universale,  welcher von jedem Universale ausgesagt wird, und der ihm entgegengesetzte Ausdruck  Einzelnes  besprochen werden.

(3) Man muß zuerst wissen, daß  Einzelnes  zweifach aufgefaßt wird. Auf eine  erste  Weise bedeutet der Name  Einzelnes  all das, was eines ist und nicht vieles. Und auf diese Weise fassen es jene auf, welche annehmen, welche annehmen, das Universale sei eine Qualität der Seele, welche von mehreren ausgesagt werden könne - nicht für sich selbst, sondern für diese vielen -, und pflegen zu sagen, jedes Universale sei wahrhaft und wirklich ein Einzelnes, denn so wie jeder Laut, obschon er auf Grund der Einsetzung allgemein ist, wahrhaft und wirklich einzeln und der Zahl nach einer ist, weil er einer ist und nicht viele, genauso ist eine Intention der Seele, welche mehrere äußere Dinge bedeutet, wahrhaft und wirklich einzeln und der Zahl nach eine, weil sie ein Ding ist und nicht mehrere, obschon sie mehrere Dinge bedeutet.

(4)  Anders  wird "Einzelnes" aufgefaßt und meint das, was eines ist und nicht vieles und nicht Zeichen meherer sein kann. Wenn man "Einzelnes" so auffaßt, dann ist kein Universale ein Einzelnes, denn jedes Universale kann Zeichen mehrerer sein und kann von mehreren ausgesagt werden. Aus diesem Grunde sage ich, daß, wenn man Universale das nennt, was der Zahl nach nicht eines ist - eine Auffassung, die viele dem Universale zuschreiben -, dann nichts ein Universale ist, außer man mißbrauche dieses Wort, indem man z.B. sagt  Volk  sei ein Universale, weil es nicht eines ist, sondern viele, Das aber ist kindisch.

(5) Man muß also sagen, daß jedes Universale ein Einzelding ist; es ist nur aufgrund der Bedeutung, das heißt, weil es ein Zeichen mehrerer ist, ein Universale. Und dies sage Avicenna im fünften Buch seiner  Metaphysik:  "Eine geistige Form ist bezogen auf eine Vielheit; aufgrund dieser Relation ist sie ein Universale, weil dieses eine Intention im Intellekt ist, deren Beziehung sich nicht wandelt, welches auch das Relat sei." Und es folgt: "Diese Form ist, obschon sie in Beziehung zu den Einzeldingen universal ist, im Vergleich zur Einzelseele, in der sie sich befindet, individuell. Sie ist nämlich nur eine von vielen Formen, die im Intellekt sind."

Er will damit sagen, daß das Universale eine einzelne Intention der Seele ist, die von mehreren ausgesagt werden kann - nicht für sich selbst, sondern für diese vielen. Weil sie eine wirklich im Intellekt existierende Form ist, wird sie einzelne genannt. Wenn man also  Einzelnes  in der ersten Weise versteht, wird es vom Universale ausgesagt, nicht aber in der zweiten Weise; in der Weise etwa, wie wir sagen, die Sonne sei universale Ursache; und dennoch ist die Sonne wahrhaft ein besonderes und einzelnes Ding, und folglich ist sie wahrhaft eine besondere und einzelne Ursache.

Die Sonne wird universale Ursache genannt, weil sie Ursache mehrerer ist, nämlich der werdenden und vergänglichen Dinge im sublunaren Bereich. Sie wird besondere Ursache genannt, weil sie eine Ursache ist und nicht mehrere. Ebenso wird die Intention der Seele universal genannt, weil sie ein Zeichen ist, das von mehreren ausgesagt werden kann; sie wird Einzelnes genannt, weil sie ein Ding ist und nicht mehrere.

(6) Man muß indessen wissen, daß das Universale zweifach ist. Das eine ist Universale von Natur aus, welches von Natur aus ein von mehreren aussagbares Zeichen ist, so wie, verhältnisgleich, der Rauch von Natur aus Feuer, das Stöhnen des Kranken Schmerz und Lachen innere Freude bedeutet. Ein solches Universale ist allein eine Intention der Seele, so daß keine extramentale Substanz oder ein entsprechendes Akzidens ein solche Universale ist. Von derartigen Universalien werde ich in den folgenden Kapiteln sprechen.

(7) Verschieden davon ist das konventionelle Universale. Auf diese Weise ist der ausgesprochene Laut, welcher der Zahl nach eine Qualität ist, universal, weil er nämlich ein konventionelles Zeichen zur Bedeutung mehrerer ist. So wie deshalb der Laut allgemein genannt wird, ebenso kann er universal genannt werden. Aber diese Eigenschaft besitzt er nicht durch seine Natur, sondern durch das Wollen derjenigen, welche die Sprache eingesetzt haben.


Text 9: Summa Logicae I,15
Das Universale ist kein extramentales Ding

(1) Weil es nicht genügt, diese Dinge zu erzählen, wenn sie nicht durch offensichtliche Gründe aufgewiesen werden, deshalb führe ich zum Gesagten einige Gründe an und bestätige das Gesagte durch einige Zitate.

(2) Es kann mit Evidenz aufgewiesen werden, daß kein Universale eine extramentale Substanz ist.

(3) Erstens so: Kein Universale ist eine Einzelsubstanz und der Zahl nach eines. Behauptet man das Gegenteil, dann ergäbe sich, daß SokratesSOKRATES ein Universale wäre, weil es keinen einleuchtenden Grund gibt, wieso ein Universale eher eine Einzelsubstanz wäre als ein anderes. Keine Einzelsubstanz ist irgendein Universale, sondern jede Substanz ist der Zahl nach eine und eine Einzelsubstanz, weil jede Substanz entweder ein Ding ist und nicht viele oder mehrere Dinge. Wenn sie ein Ding ist und nicht mehrere, dann ist sie der Zahl nach eine; dies nämlich wird von allen das der Zahl nach Eine genannt.

Wenn aber eine Substanz mehrere Dinge ist, dann ist sie mehrere Einzeldinge oder mehrere Universalien. Wenn das erste gilt, dann ergibt sich, daß eine Substanz mehrere Einzelsubstanzen wäre; aus dem gleichen Grund könnte man sagen, daß eine Substanz mehrere Menschen sei; und dann folgt, obschon das Universale von einem Besonderen unterschieden würde, daß es von den Besonderen nicht unterschieden würde. Wenn hingegen eine Substanz mehrere Universalien wäre, dann nehme ich eines davon und frage: Entweder ist es mehrere Dinge oder eines und nicht mehrere. Im zweiten Falle ergibt sich, daß es ein Einzelding ist; im ersten Fall frage ich: Entweder handelt es sich um mehrere Einzeldinge oder um mehrere Universalien. Es ergibt sich dann entweder ein unendlicher Prozess, oder man kommt zu dem Schluß, daß keine Substanz ein Universale ist, so, daß sie nicht ein Einzelnes ist. Daraus ergibt sich, daß keine Substanz universal ist.

(4) Ferner: Wenn ein Universale eine Substanz wäre, welche in vielen Einzelsubstanzen existierte und dennoch davon verschieden wäre, dann folgte, daß es ohne diese existieren könnte, weil jedes Ding, das natürlicherweise früher ist als ein anderes, durch die göttliche Allmacht ohne dieses andere existieren kann. Diese Folgerung aber ist absurd.

(5) Ferner: Wenn diese Meinung wahr wäre, dann könnte kein Individuum (b) erschaffen werden, wenn ein anderes (a) bereits existierte, denn (b) würde nicht aus dem Nichts erschaffen, wenn das Universale, das in ihm ist, zuerst in anderem (a) war. Wegen des gleichen Grundes würde folgen, daß Gott nicht ein Individuum einer bestimmten Art von Substanz vernichten könnte, ohne zugleich die anderen Individuen derselben Art zu vernichten; denn wenn er ein Individuum vernichten würde, dann vernichtete er alles, was zum Wesen des Individuums gehörte; und folglich vernichtete er auch jenes Universale, das in ihm und in den anderen ist; die anderen Individuen würden also nicht mehr weiter existieren, da sie nicht ohne jenen Teil, welcher als Universale gesetzt wird, weiter existieren könnten.

(6) Ferner: Ein solches Universale könnte nicht als etwas gesetzt werden, das ganz und gar vom Wesen des Individuums verschieden ist. Es gehörte also zum Wesen des Individuums, und das Individuum wäre folglich aus Universalien zusammengesetzt. Und so wäre das Individumm nicht mehr Einzelnes als Universale.

(7) Ferner: Es ergäbe sich, daß etwas vom Wesen Christi elend und verdammt wäre, denn die gemeinsame Natur, die wirklich in Christus und dem Verdammten existierte, wäre verdammt, weil Judas daran teilhätte. Das ist aber absurd.

(8) Man könnte viele andere Gründe anführen. Um der Kürze willen übergehe ich sie und bestätige denselben Schlußsatz durch Autoritäten.

... (9) Aus den vorangegangenen Autoritäten und vielen anderen ergibt sich, daß kein Universale eine Substanz ist, wie auch immer man es betrachten mag. Deshalb bewirkt die Betrachtung des Intellekts nicht, daß etwas eine Substanz sei oder nicht, obschon die Bedeutung der Termini bewirkt, daß von etwas - nicht für sich selbst - der Name  Substanz  ausgesagt wird, oder nicht. In diesem Sinne ist der Satz  Der Hund ist ein Tier,  wenn  Hund  für bellendes Tier steht, wahr, nicht aber, wenn der Ausdruck  Hund  für ein Gestirn steht. Es ist aber unmöglich, daß dasselbe Ding wegen einer Betrachtung eine Substanz sei, wegen einer anderen aber nicht.

Man muß also ohne Einschränkung zugestehen, daß keine Universale eine Substanz ist, wie man es auch betrachten mag. Jedes Universale ist eine Intention der Seele, welche gemäß einer wahrscheinlichen Meinung sich vom Erkenntnisakt nicht unterscheidet. Deshalb sagen sie, der Erkenntnisakt, durch den ich den Menschen erkenne, sei ein natürliches Zeichen der Menschen; natürlich in der Weise wie das Stöhnen Zeichen der Krankheit, der Trauer oder des Schmerzes ist. Und der Erkenntnisakt ist ein solches Zeichen, das in mentalen Aussagen für die Menschen stehen kann, gleich wie Laute in gesprochenen Aussagen für Dinge stehen.

(11) AVICENNA sagt im fünften Buch seiner  Metaphysik  deutlich genug, das Universale sei eine Intention der Seele, an der Stelle, wo er bemerkt: "Ich sage, daß  Universale  auf dreifache Weise gebraucht wird. Man nennt nämlich etwas Universale, weil es tatsächlich von vielen ausgesagt wird, z.B.  Mensch;  und man nennt Universale eine Intention, die von vielen ausgesagt werden kann." Und es folgt: "Das Universale wird Intention genann; und nichts verbietet zu vermeinen, daß sie von vielen ausgesagt wird."

(12) Aus diesen Sätzen und aus vielen anderen Stellen erhellt, daß das Universale eine Intention der Seele ist, die von vielen ausgesagt werden kann.

(13) Dies kann durch Vernunftgründe bekräftigt werden, denn jedes Universale kann, gemäß der Auffassung aller, von vielen ausgesagt werden. Aber nur eine Intention oder ein konventionell eingesetztes Zeichen, nicht aber eine Substanz, hat diese Fähigkeit. Also ist nur eine Intention der Seele oder ein konventionelles Zeichen ein Universale. Jetzt aber gebrauche ich  Universale  nicht für ein konventionelles Zeichen, sondern für das, was von der Natur aus ein Universale ist.

(14) Daß eine Substanz nicht ausgesagt werden kann, ist offensichtlich, weil, wenn dies der Fall wäre, dann eine Aussage als Einzelsubstanzen zusammengesetzt wäre. Folglich wäre das Subjekt in Rom und das Prädikat in England, was absurd ist.

(15) Ferner: Eine Aussage ist entweder im Geiste, oder sie wird gesprochen oder geschrieben. Ihre Teile also können nur als gedachte, gesprochene oder geschriebene vorkommen. Von dieser Art sind aber keine Einzelsubstanzen. Es steht also fest, daß keine Aussage aus Substanzen zusammengesetzt ist. Eine Aussage ist aus Universalien zusammengesetzt. Die Universalien sind deshalb auf keine Weise Substanzen.
LITERATUR - Wilhelm von Ockham, Texte zur Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft, (Hrsg. Ruedi Imbach), Stuttgart 1984