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Laurent Verycken
F o r m e n   d e r  
W i r k l i c h k e i t


Recht

1. Raum-Zeit
2. Bewußtsein
3. Logik
4. Sprache
5. Tatsachen
  6. Moral
  7. Ordnung
  9. Ökonomie
10. Anarchie
11. Religion
"Ohne den Gleichheitsbegriff der Person ist Recht überhaupt nicht denkbar."

Wenn unsere Interessen mit anderen kollidieren, gibt es zwei Möglichkeiten, einen Streit zum Austrag zu bringen. Die eine beruth auf dem Verzicht einer gegenseitigen Rechtfertigung des Handelns und wird gewöhnlich mit dem Namen  Gewalt  bezeichnet. Der anderen liegt die Idee des moralisch, bzw. rechtlich geregelten Verfahrens zugrunde. Die Idee einer  übergeordneten  Autorität besteht darin, die Konkurrenz unter den Interessengruppen innerhalb der Gesellschaft  unparteiisch  zu überwachen und zu regulieren. Der gesetzliche Rahmen soll einen Faktor der Sicherheit und Gewißheit in das soziale Leben einführen.

 Gesellschaftliche Organisation  heißt im Staat, daß das Verhalten von Menschen durch verfestigte Erwartungen geregelt wird. Ordnung bedeutet vor allen Dingen Sicherheit und Sicherheit vor allem Rechtssicherheit. Der Staat soll die Organisation der Gesellschaft auf der Grundlage bestimmeter Regeln und Gesetze sein, denen sich jeder  Bürger  zu fügen hat. Der Staat ist deshalb als Machtverhältnis definiert. "Ein Staat ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen." 1) Staat heißt Herrschaft kraft Legalität.  Legalität  ist die logische Vorraussetzung des Staatsbegriffs.

Eine demokratische Regierung leitet die Ausübung von Gewalt von der Zustimmung der Mehrheit der Regierten her. Wirklicher Träger der Verfassung soll das Volk sein und das Gesetz der Ausdruck des allgemeinen Willens. Jeder Staat gibt deshalb vor, die Interessen der Allgemeinheit zu vertreten. Der politische Apparat ist auf den Willen des Volkes hin organisiert, dessen Artikulation dann zu Rechtfertigung politischer Entscheidungen wird. Die Abstraktion vom  Willen des Volkes  bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt und muß durch allgemeine Wahlen zum Ausdruck kommen. Die Wahl soll der Ausdruck des demokratischen Prozesses sein. Eine Demokratie scheint zu funktionieren, solange der Wahlritus funktioniert.

 Demokratie  beruht auf der Idee der Kommunikation und nicht auf Autorität oder Gewalt und gilt deshalb als die ideale Verfassungsform, in der sich die Bevölkerung zu artikulieren vermag und ihre Bedürfnisse realisieren kann und soll. Die  Idee  der Demokratie besteht darin, daß Macht nicht in geballten Organisationen liegen darf. Gewaltenteilung, Wahlen und Gerichte sollen Institutionen sein, die den Kampf der Interssengruppen auf Austragungsformen beschränken, die physische Waffengewalt ausschließen. In der Rechtstheorie wird deshalb versucht, die Legalität von Macht zu bestimmen. Jede gesellschaftliche Institution benötigt eine, wie auch immer geartete, Legitimation.

Dies gilt nicht nur für Regierungen, sondern auch für Gewerkschaften, Fabriken oder Universitäten. Von entscheidender Wichtigkeit ist immer,  wie  die Legitimation zustande kommt. Legitimität kann nur existieren, wo sich Macht rechtfertigen läßt und ist deshalb immer ein bestreitbarer Geltungsanspruch. Die Repression liegt weniger in der Existenz der Institutionen, als in ihrer Legitimation. Legitimität bedeutet die Anerkennungswürdigkeit einer Ordnung. Die Gewalt allein stützt eine Regierung nicht, es bedarf dazu anerkennungswürdiger Gesetze. Hierin unterscheidet sich die Legalität von der Legitimität eines Gesetzes. Legitimität ist ein ethisches und kein juristisches Problem.

Recht bedeutet vor allen Dingen Rechtfertigung. Recht ist aber eine Norm und existiert nur in den Köpfen der Menschen. Eine Norm ist eine  Idee  eines richtigen Verhaltens. Die Idee eines  richtigen  Verhalten bedeutet, daß das richtige Verhalten nicht als  Tatsache,  sondern als  Aufgabe,  nicht als etwas Wirkliches, sondern als etwas zu Verwirklichendes vorzustellen ist. Normen, bzw. Werte und Ziele sind keine Gegenstände der Erkenntnis, sondern der subjektiven Wahl. Jede Rechtfertigung geschieht in Bezug auf subjektive Wertvorstellungen und Interessen, beruth aber nicht auf der Notwendigkeit zwingender Tatsachen. Die logischen Gesetze, das ideale Recht und die Werte machen den Bereich eines Gesollten aus; stehen also für etwas, das sein  soll  und nicht für etwas, das  ist. 

Der rechtliche Begriff hat es mit dem Ordnen von subjektiven Willensinhalten und nicht mit der objektiv-wissenschaftlichen Erkenntnis der praktischen Körperwelt zu tun, aber

"der Empirismus macht, ... wie die traditionelle Erkenntniskritik überhaupt, den Versuch, Geltung strikten Wissens durch Rekurs auf die Quellen des Wissens zu rechtfertigen. Indessen fehlt den Quellen des Wissens, dem reinen Denken und der Überlieferung ebenso wie der sinnlichen Erfahrung, Autorität. Keine von ihnen kann unvermittelte Exiden und  originäre  Geltung, keine kann mithin Kraft der Legitimation beanspruchen. Die Quellen des Wissens sind immer schon verunreinigt, der Weg zu den Ursprüngen ist uns verstellt. Daher muß die Frage nach der Herkunft der Erkenntnis durch die Frage nach ihrer (praktischen) Geltung ersetzt werden." 2)
Es ist nicht das Wissen, welches das Recht schafft, sondern der Wille. Jedes Gesetz verdankt seinen Ursprung einem praktischen Motiv. Die Gesetze des Staates sind allenfalls erwünschte Zweckmäßigkeiten. Staat und Recht stehen in einem Wechselverhältnis, eines ist ohne das andere nicht zu haben. Die Fragen nach dem Zweck des Rechts und dem Zweck des Staates sind untrennbar. Rechtsetzung ist deshalb die Hauptfunktion der Staatsgewalt.

Demokratie ist das gleiche Recht für alle. Das ganze  Recht  kann seiner Definition nach nur in der Anwendung von gleichem Maßstab bestehen. Die Grundthese der Demokratie ist, daß es keine Klassen gibt. Die Definition der Gleichheit im klassischen Liberalismus ist die politische, d.h. die abstrakte Gleichheit vor dem Gesetz. Daß die Bürger vor dem Gesetz gleich sind heißt nichts anderes, als daß Gesetze herrschen. Staatliche Macht leitet sich ab aus Regeln, die allgemein, d.h. prinzipiell für jeden gelten sollen.

"Das Grundprinzip der Demokratie ist die Auffassung, daß die allen Menschen gemeinsamen Wesenszüge, Bedürfnisse und Interessen Vorrang haben vor denen einzelner Organisationen, Institutionen oder Gruppen." 3)
Maßgebend sind nur gleiche Eigenschaften und Bedürfnisse der Menschen, also allgemeine Merkmale, die auf viele Menschen zutreffen. Ohne den Gleichheitsbegriff der Person ist Recht überhaupt nicht denkbar.
"Wenn nicht im Hintergrund jener sozialen Typen der Gleichheitsbegriff der Perso stünde, so fehlte es an dem Generalnenner, ohne den eine Vergleichung und Ausgleichung, ohne den Erwägungen der Gerechtigkeit, ohne den Privatrecht und vielleicht überhaupt Recht nicht denkbar wären." 4)
Die juristische Isolierungs- und Systematisierungstendenz der typisierenden Methode verhält sich indifferent gegen die individuelle Besonderheit und zieht aus der konkreten Ganzheit der Erlebnisse nur einen abstrakten, allgemeinen Faktor heraus. Das Recht ist darum immer im Rückstand auf die individuellen Tatsachen. Gerade weil die  Logik  nicht immer mit der Wirklichkeit übereinstimmt, ergeben sich in der Praxis der Rechtsprechung immer Fälle, welche nach den bestehenden Gesetzen nicht behandelt werden können. Diese werden dann unter analoge Fälle gerechnet und oft geradezu gewaltsam unter gewisse Gesetze subsumiert. Wenn neue Fälle, d.h. unvergleichbare Tatsachen auftreten, dann erweist sich das Gesetz immer als ungenügend.

Da alle Gesetze nur allgemeine Prinzipien niederlegen, müssen sie ausgelegt werden. In diesen Auslegungen wird aber weniger das Gesetz den Menschen angepasst, sondern die Menschen im Sinne des Gesetzes interpretiert. Wo wir aber das  Problem der Individualisierung  nicht beachten, indentifizieren wir Recht und Gesetz, also Legitimität und Legalität, wodurch eine Legitimation überflüssig wird.SOKRATES verweigerte deshalb seinen Richtern jegliche objektive Bestimmung seines Lebens. Niemand kann von einer Person sprechen, ohne wirkliche Einfühlung und Verständnis dieser Person. Jeder Fall ist singulär. Der Begriff der juristischen  Person  ist eine erfundene Konstruktion. Ein Legalist versteht von den Menschen nur so viel, wie er für die Rechtsprechung braucht. Es gibt aber kein objektives, das heißt von den besonderen Umständen unabhängiges Gesetz, weil es keinen objektiven Menschen gibt. Verschiedene Rechtsnormen existieren in verschiedenen Ländern, weil es mehrere irreduzible, also nicht mehr weiter rückführbare Grundnormen gibt. Der Geist der Gesetze ist überall verschieden.

Alles  Recht  beruht auf Übereinstimmung und Vertrag. Daß Gesetze zustimmungsbedürftig sind, ist die formale Voraussetzung der demokratischen Freiheit. Bloße Fakten oder bloße Gewalt können kein Recht schaffen. Wo objektive Fakten Recht schaffen, gilt keine Moral. Voraussetzung für Recht und Moral ist der freie Wille. Jedes Rechtsverhältnis ist ein Willensverhältnis. Immer gilt der Grundsatz: Legitimität geht vor Legalität. Sittlichkeit, als Voraussetzung allen Rechts, schafft sich allein durch persönliche Überzeugung Geltung, nicht durch physische oder ideologische Gewalt. Die legitime Ausübung von Macht kann deshalb immer nur einen Folge eines Rechtsvertrages sein, zu dem sich  zwei  Seiten freiwillig bekennen. Ein allgemeingültiges objektives Recht, das nicht der ausdrücklichen Zustimmung bedarf, ist ein Unding. Der Gewalt nachgeben ist ein Akt der Notwendigkeit, nicht des Willens. Gesetze, denen nicht wirklich freiwillig zugestimmt wird, haben auch keine Rechtskraft dem einzelnen gegenüber.

Jeder Rechtssatz, der sich aus objektiven Tatsachen ableitet, entspringt dem Bedürfnis, einen Status, er im Prinzip das Ergebnis roher Gewalt ist, mit irgendeiner Ideologie zu rechtfertigen. Ause einer absoluten und totalitären Auffassung ergibt sich aber allenfalls Macht, kein Recht. Wo im Recht die Möglichkeit der Übereinstimmung, bzw. Zustimmung aufhört, da verkehrt sich Recht in Unrecht und rechtlicher Zwang in Gewalt. Legalität ohne Legitimation ist die Definition von  Diktatur.  Allgemeingültigkeit kann nicht anders, als durch die konkrete, persönliche und  ausdrückliche  Zustimmung jedes einzelnen Menschen in einem Sozialverband erreicht werden. Da der allgemeine Wille nur in der idealen und utopischen Vorstellung existiert, wird darum in der Regel die stillschweigende Zustimmung zum  Gesellschaftsvertrag  schon als eine ausdrückliche behandelt.

Eine wesentliche Problematik des Demokratieprinzips liegt in der Verallgemeinerbarkeit der individuellen Willen, Meinungen und Bedürfnisse. Demokratie ist Wahl, Wahl ist Willensübertragung. Jede Wahl ist ein abstraktives Verfahren, das auf der Verallgemeinerung individueller Interessen und des freien Willens der Menschen zu einem Allgemeininteresse beruth. Und hier liegt das Problem: In einer Mehrheitsdemokratie gibt es lediglich Machtansammlungen, aber keine Willensansammlungen.  Macht  kann zwar übertragen werden, nicht aber der  Wille.  Ein Mensch selbst kann nicht vertreten werden. Vertreten werden bestenfalls einzelne Interessen. Über den Wahlmodus ist aber der ganze Bürger repräsentiert. Kein Wille, weder der Wille des Einzelnen, noch der Wille des Volkes ist übertragbar ohne Willensentäußerung. Niemand kann seinen Willen verallgemeinern, ohn ihn nicht zugleich aufzugeben. Ein  Wille  kann nur funktionieren, wenn er ungebrochen einer und in sich unteilbar ist. Ein geteilter Wille ist unvorstellbar. Keiner kann deshalb für den andern wollen. Wenn der Wille eines Einzelnen nicht übertragbar ist, dann ist es auch der Wille eines ganzen Volkes nicht. Es gibt keinen Willen des Volkes. Und deshalb ist es auch Unsinn,  im Namen des Volkes  Recht zu sprechen.

Wille ist ohne Allgemeinheit. Der freie Gesellschaftsvertrag als Grundlage für den staatlichen Vertretungsanspruch eines allgemeinen Interesses ist nur eine Fiktion.

"Es dauern die Staaten nur so lange, als es einen herrschenden Willen gibt, und dieser herrschende Wille für gleichbedeutend mit dem eigenen Willen angesehen wird. Es kann sich der Staat des Anspruchs nicht entschlagen, den Willen des Einzelnen zu bestimmen, darauf zu spekulieren und zu rechnen. Für ihn ist's unumgänglich nötig, daß Niemand einen eigenen Willen habe; hätte ihn Einer, so müßte der Staat diesern ausschließen (einsperren, verbannen usw.); hätten ihn Alle, so schafften sie den Staat ab." 5)
Durch den Mehrheitskonsens der Untertanen wird der Staat nicht begründet. Der staatliche Apparat wird durch das Wahlrecht lediglich legalisiert, aber keineswegs legitimiert. Souveränität ist daher die zentrale Frage des Staats. Das Recht behält nur soweit Recht, wie die Macht reicht. Oft wird darum von Rechtsfragen geredet, wo es sich lediglich um Machtfragen handelt. Der Machtkampf maskiert sich als Rechtsstreit. "Das positive Recht ist Herrschaftstechnik, ist eine besonders dünn aufliegende Herrschaftsideologie." 6)

Alles Recht ist wesentlich dazu bestimmt, praktische Ordnungsfunktionen zu erfüllen. Der Zweckgedanke des Rechts zielt auf eine harmonisierende Gestaltung des Gemeinschaftslebens ab. Politische Programme empfehlen daher Strategien zur Herbeiführung unproblematischer Situationen in Bezug auf Herrschaft und Ordnung. Durch ein Gefüge von Sanktionen wird ein einheitlicher Konsens herbeigeführt. Physische Gewalt findet nur noch da Anwendung, wo die ideologische Beherrschung versagen sollte. Das  Rechtsbewußtsein  ist deshalb Teil des politischen Bewußtseins. Alle staatlichen Gesetze sind politisch.  Politik  heißt Integration der ewig antagonistischen gesellschaftlichen Vielheit zur staatlichen Einheit. Im Recht wird die Gewalt monopolisiert. Der theoretische, bzw. juristische Anspruch wird dem praktischen, politischen Nutzen untergeordnet.

Alle Rechtfertigungen sind pragmatischer Art.

"Bei der zu bevorzugenden Tatbestandsfeststellung kommt es nicht so sehr darau an, daß die absolute Wahrheit eruiert wird, sondern daß des Streitens ein Ende werde. Hätte das Suchen nach dem wirklichen Tatbestand, das Forschen nach der  Wahrheit  kein Ende - und wie könnte es ein Ende haben, da dem Menschen doch absolute Wahrheit unerreichbar bleibt -, dann würde das gerechteste Recht im Prozess seiner Anwendung vereitelt. Darum will das positive Recht Recht vor allem eine Friedensordnung sein. Auch im Interesse von  Ruhe und Sicherheit  muß es ausgeschlossen sein, daß jeder beliebige seine subjektive Meinung über das, was gerecht sei, an Stelle der von der  berufenen Autorität  gesetzten Normen stellen dürfe. Anstelle des Ideals der Gerechtigkeit tritt mit dem Prinzip der Rechtskraft das Ideal des Friedens. Und dieses Friedensideal ist dem Gerechtigkeitsideal direkt entgegengesetzt." 7)
Die Demokratie des Mehrheitsrechts ist vielleicht sogar gefährlicher, als die offene Diktatur, weil sie den Menschen die Illusion von Freiheit und Legitimität gibt und die Notwendigkeit des Widerstands deshalb gar nie ins Bewußtsein tritt.
"Der technokratische Konservatismus ist ein besonders subtile Form antidemokratischen Denkens und Handelns, weil er die Demokratie nicht autoritär abschafft, sondern etatistisch technokratisch aufhebt: Wenn alle Fragen Sachfragen sind, haben Partizipation und Interessenpluralismus ihre Bedeutung verloren." 8)
Die Demokratie, wie wir sie kennen, ist erst im 18.Jahrhundert von Locke und Rousseau entwickelt worden. Mit dem Demokratiegedanken änderte sich auch die Definition von Legitimität. Die Legitimität des demokratischen Staates beruhte nicht mehr auf der Natur oder auf Gott, sondern auf einem Vertrag. Im Gesellschaftsvertrag wird die  Nation  zum Ursprung aller Legalität und zur Quelle des Rechts. Die Grundlage einer rechtmäßigen Regierung kann jetzt nur noch auf Abstimmungsmehrheit gegründet werden. Der allgemeine Wille ist aber Resultat, nicht Ursprung des Staates. Parlamente gab es lange, bevor es das allgemeine Stimmrecht gab. Jeder Staat entstand und behauptete sich anfangs durch äußere Gewalt. Zuerst kam die Gewalt, der Gedanke zu überzeugen ist erst später gekommen. Das Stimmrecht war noch vor nicht allzulanger Zeit auf Eigentümer von Grundbesitz und freie Mitglieder von Zünften beschränkt. Es galt ein auf die Vermögenskreise beschränktes Zensuswahlrecht. Für das aktive Wahlrecht mußten z.B. im Frankreich des letzten Jahrhunderts noch 1000 Francs, für das passive 300 Francs bezahlt werden. Im England des 17.Jahrhunderts waren Almosenempfänger, Bedienstete und Lohnempfänger vom Wahlrecht ausgeschlossen.

Das Wahlrecht war auf Eigentum gegründet. Diejenigen Bürger, die wenig oder gar keinen Steuerbetrag zahlten, besaßen keinerlei politischen Rechte und durften auch nicht wählen. Bis zum 19.Jahrhundert

"lag die Aufgabe der Gesetze hauptsächlich darin, Eigentum zu schützen, nicht Freiheit zu garantieren, denn die Freiheit mit allen ihren Rechten und Privilegien war grundsätzlich durch Eigentum garantiert." 9)
Solange vom Wahlrecht eine konkrete Änderung der bestehenden Verhältnisse befürchtet werden mußte, durften nur diejenigen wählen, die ein Interesse an der herrschende Ordnung hatten. Mit dem allgemeinen Stimmrecht wurde der politische Kampf dann auf den Wahlkampf beschränkt. Der Stimmzettel hatte die Flinte ersetzt. Mit dem Aufkommen der Demokratie trat an die Stelle der offenen Gewalt die versteckte Gewalt der Mehrheitsbeschlüsse. Die politische Existenz der Bürger wurde auf den Wahlvorgang reduziert. Heute ist das Prinzip der Mehrheitsherrschaft die Grundlage des demokratischen Glaubensbekenntnisses. Wahlen bieten aber immer nur die Möglichkeit zwischen verschiedenen Herrschaftsausübern zu wählen, nicht aber die Möglichkeit sich der Beherrschung durch andere zu entziehen.

Allgemeines Wahlrecht ist das Recht der Mehrheit, ihren Willen der Minderheit aufzuzwingen. Das Mehrheitsprinzip heißt im wesentlichen, daß die Gemeinschaft in allen sozialen Beziehungen das Recht hat, nach dem Nützlichkeitsprinzip für die größte Zahl einzugreifen. Der Allgemeinnutz soll dem Eigennutz vorgehen. Interessen sind politisch nur als Gruppeninteressen von Bedeutung. Was ein Mensch für richtig hält, hat keine politische Bedeutung, solange er dafür nicht eine ausreichende Mehrheit gewinnt. Die formale Demokratie beruht auf einer mechanischen Gleichheit, auf dem Prinzip der Zahl. Das gesamte Wahlrecht ist ein Verfahren, bei dem die  Wahrheit  auf Zahlen gegründet ist. Jeder Zählvorgang verlangt aber Vergleichbarkeit des zu Zählenden und diese Vergleichbarkeit ist nur über Verallgemeinerung zu erreichen. Menschen werden deshalb politisch auf die abstrakte Zahl herabgewürdigt.

"Siegessicher proklamierten sie das allgemeine Wahlrecht ... als Grundlage der neuen Staatsordnung. Diese arithmetische Flagge war ihnen sympathisch, die Wahrheit ließ sich durch Addition und Subtraktion ermitteln, man konnte sie auf dem Rechenbrett ausrechnen und mit Stecknadeln abstecken." 10)
Die Zahl entscheidet über Sieg und Niederlage. Stimmen werden gezählt, anstatt gewogen. Die Theorie der Repräsentationsdemokratie entsprechend ist die Unterdrückung der knappen Hälfte einer Bevölkerung durch die knappe Mehrheit erlaubt. Unter Umständen bestimmen 51% der Wähler über 49% der Stimmen. Es ist also eine äußerst fragwürdige Verpflichtung der Minderheit, sich der Wahl einer Mehrheit unterwerfen zu müssen. "Die Demokratie ... sie beruth nur auf der Zahl und hat als Maske den Namen des Volkes." 11)

Demokratie ist die Regierungsform, in der das Volk durch gewählte Vertreter die regierende Macht ausüben soll. Allein die Existenz eines Parlaments ist noch lange kein Beweis für eine demokratische Ordnung. Im Parlament wird meist über Sachen abgestimmt, die zum Zeitpunkt der Wahl noch gar nicht zur Debatte standen. In der Demokratie stimmt  der Bürger  auch dem Gesetz zu, das gegen seinen Willen geht. Das  Volk  fügt sich Entscheidungen, die von andern oft eilfertig getroffen werdn, die von den vorliegenden Problemen meist auch nicht viel Ahnung haben und oft auch nicht besonders an ihnen interessiert sind. Auftretende Meinungsverschiedenheiten mögen wichtig oder unwichtig sein, sie werden immer nach dem Willen der Mehrheit entschieden. Das Mehrheitsprinzip ist aber keine Begründung von Herrschaft, sondern selbst eine Form der Herrschaft.  Die Mehrheit hat immer recht  ist lediglich eine Umformung des Slogans:  Der Stärkere hat immer recht! 

"Oktroyiert ist jede nicht durch persönliche freie Vereinbarung aller Beteiligten zustandegekommene Ordnung. Also auch der Mehrheitsbeschluß, dem sich die Minderheit fügt." 12)
Die Mehrheitsdemokratie ist auch nur ein Anpassungssystem wie alle andern auch.
LITERATUR - Laurent Verycken, Formen der Wirklichkeit - Auf den Spuren der Abstraktion, Penzberg, 1994
    Anmerkungen
  1. IMMANUEL KANT, Metaphysik der Sitten, o.J., Seite 30
  2. JÜRGEN HABERMAS in THEODOR ADORNO, Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Frankfurt 1989, Seite 240
  3. LEWIS MUMFORD, Mythos der Maschine, Frankfurt 1980, Seite 271
  4. GUSTAV RADBRUCH, Rechtsphilosophie, Stuttgart 1973, Seite 226
  5. MAX STIRNER, Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1972, Seite 214
  6. ERNST BLOCH, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt 1985, Seite 208
  7. HANS KELSEN, Aufsätze zur Ideologiekritik, Neuwied 1964, Seite 109
  8. RICHARD STÖSS, Konservative Aspekte der Ökologiebewegung in  Ästhetik und Kommunikation  Heft 36, Berlin 1979, Seite 28
  9. HANNAH ARENDT, Über die Revolution, München 1974, Seite 233f
  10. ALEXANDER HERZEN, Die gescheiterte Revolution, Frankfurt 1977, Seite 169
  11. PIERRE-JOSEPH PROUDHON in OTTHEIN RAMMSTEDT (Hrsg), Anarchismus, Köln/Opladen 1968, Seite 36
  12. MAX WEBER, Soziologische Grundbegriffe, Tübingen 1978, Seite 74