tb-4   
   
Laurent Verycken
F o r m e n   d e r  
W i r k l i c h k e i t


Bewußtsein


1. Raum-Zeit
3. Logik
4. Sprache
5. Tatsachen
6. Moral
  7. Ordnung
  8. Recht
  9. Ökonomie
10. Anarchie
11. Religion
"Wir dürfen aus den Empfindungen der Sinne nicht ohne weiteres auf einen Gegenstand schließen."


Allen empiristischen Richtungen ist die ausschließliche Anerkennung der sinnlichen Erfahrung als Quelle der Erkenntnis des Wirklichen gemeinsam. Die Empfindung scheint zwingend real. Wer realistisch denkt, setzt Erkenntnis mit Wahrnehmung gleich. Daß die Dinge so sind, wie wir sie wahrnehmen, ist jedoch  naiver  Realismus. Die Überzeugung von der objektiven Qualität der Sinnesempfindung ist falsch, der Glaube an die Untäuschbarkeit der inneren Wahrnehmung eine Illusion. Das  Seiende  ist keine objektive, also vom erkennenden Bewußtsein unabhängige Realität. Unser  Gehirn  macht die Bilder, die wir wahrzunehmen glauben. Der gewöhnliche Alltagsverstand dagegen hält unerschütterlich an der Überzeugung fest, daß alles, was unser Erkenntnisapparat meldet, wirklichen Gegebenheiten einer  außersubjektiven  Welt entspricht.

Unsere sinnliche  Wahrnehmung  ist zwar die Basis unseres Wissens, aber im Großen und Ganzen nur sehr schlecht auf  objektive  Erkenntnis ausgerichtet. Vieles von dem, was wir durch unsere Sinne erfahren, ist nur ein unkritisches Vorurteil. Unsere Alltagssinne spiegeln uns vielmehr eine Realität vor, die es  so  gar nicht gibt. Der Mikrokosmos oder das Weltall ist unserer  normalen  Sinnesempfindung viel zu mangelhaft zugänglich, um über  die  Realität zutreffende Aussagen machen zu können. Eine gezeichnete Linie ist nur für unser Auge gerade. Unter dem Mikroskop gibt es keine absolut gerade Linie und es ist nur eine Frage der Vergrößerung, bis das Beobachtete zu  leben  beginnt. Es kommt immer auf den Standpunkt und die Perspektive an, welche Wirklichkeit wir sehen. Makroskopisch betrachtet mögen die materiellen Objekte um uns herum passiv und unbeweglich erscheinen, auf der atomaren Ebene jedoch trifft das nicht mehr zu.

Wir müssen das Problem der Weltbeschaffenheit daher hauptsächlich im Hinblick auf unseren wahrnehmenden Erkenntnisapparat betrachten: Es gibt nur ein paar Wege, mit denen wir mit der Außenwelt in Verbindung stehen, nämlich unsere fünf Sinne. Ohne Augen, Ohren und Nasen gibt es für uns auch keine Farben, Klänge und Gerüche. Empfindungen nennen wir die Prozesse, welche uns durch unsere Sinne zu Bewußtsein kommen. Es gibt kein Bewußtsein ohne Empfindungen und umgekehrt gibt es keine Empfindung ohne Bewußtsein. Nur was uns bewußt ist, ist für uns konkret existent. Wirklichkeit existiert und entsteht auf der Basis unseres Bewußtseins. Bewußt werden uns die Dinge aber immer nur, insofern sie unsere Sinnesorgane auffassen können. Der Zustand eines jeden Dings muß erst einen gewissen Grad der Größe erreicht haben, um von unseren Sinnen registriert werden zu können. Eine Wirkung der Außenwelt auf unsere Sinne existiert nicht, solange das Bewußtsein nicht durch das Überschreiten eine Reizschwelle geweckt worden ist.

Für jedes subjektive Sinnesorgan, wie auch für jedes  objektive  Meßgerät, existiert eine untere Grenze der Ansprechbarkeit, unterhalb derer nichts mehr registriert wird, so daß wir ständig Instrumente wie Mikroskope, Teleskope, Tachometer, Stethoskope oder Seismographen benützen müssen, um die Vorgänge entdecken und aufzeichnen zu könne, die unsere Sinne nicht unmittelbar wahrnehmen. Es ist deshalb absurd zu glauben, wir könnten jemals etwas wahrnehmen, wie es  wirklich  ist. Keinem wahrnehmbaren Ding liegt objektive Wirklichkeit zugrunde. Alles Objekt ist Erscheinung im Bewußtsein und damit Phänomen. Auch wenn es die objektive Realität gäbe, könnten wir sie nicht erkennen. In einer  objektiven  Welt dürften der besondere Zeitraum und der konkrete Ort, in und an welchem sich ein Geschehen abspielt, keine besondere Bedeutung haben, aber gerade das macht ein Ereignis irreal. Eine objektive Welt bleibt immer ein reines Gedankenprodukt.

Die Welt bietet uns eine endlose Zahl von möglichen Reizen. Von den vielen Einflüßen, die wir unbewußt aufnehmen, trennen wir daher diejenigen ab, die wir bewußt und willentlich zum  Gegenstand  unserer Aufmerksamkeit machen. Bewußtsein heißt Eingrenzung, Formung und konzentrierte Bündelung der Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand. Unsere Sinnesorgane sind dabei die Auswahlsysteme für Informationen. Aufmerksamkeit ist hauptsächlich ein Unterscheidungsvorgang, ein Akt des Aussonderns. Nur im Bewußtsein der Begrenztheit und Endlichkeit der Dinge sind wir bewußt und die Welt für uns wirklich. Information ist wahrnehmbarer Unterschied und jede geistige Tätigkeit wird durch Unterschiede ausgelöst, die uns aufgrund unseres Zeit- und Raumempfindens als solche auffallen.

Solange wir bei Bewußtsein sind, ist immer irgendein subjektives Zeit- und Raumempfinden vorhanden. Die Maßeinheiten unseres Zeitempfindens sind aber individuell verschieden. Je nach Stand des Erlebens erscheint uns die  Zeit  bald langsamer, bald schneller. Deshalb brauchen wir mit unserer hohen Sensibilität für schnelle Veränderungen für langsame Veränderungen eine Uhr. Sehr langsame Veränderungen sind meist kaum wahrnehmbar. Wir stehen deshalb immer vor der Schwierigkeit zwischen einer langsamen Veränderung und einem Zustand unterscheiden zu müssen. Wir besitzen z.B. die seltsame Fähigkeit die Konstanten unserer Sinneswelt auszublenden, wie etwa das Ticken einer Wohnzimmeruhr. Was wir als Veränderung empfinden, setzt etwas Beharrliches in der Anschauung voraus, um überhaupt als Veränderung wahrgenommen werden zu können.

Unser ganzes Bewußtsein beruth auf Unterscheidungen. Wo Bewußtsein ist, da ist vergleichendes Bewußtsein. "Bewußtsein ist waches Bewußtsein, und waches Bewußtsein ist potentiell zählendes Bewußtsein." 1) Wir können unsere Wirklichkeit einzig an ihren Unterschieden und Veränderungen erkennen und diese Unterschiede müssen zeitlich oder räumlich erkannt werden. Raum und Zeit sind Einheiten, mit denen Unterschiede gemessen werden. Ein Unterschied wir immer zwischen  zwei  Dingen festgestellt und ist nichts  ansich  Seiendes. Wir ziehen (draw) Unterscheidungen.  Teile, Ganzheiten, Bäume  und  Geräusche  als solche existieren nur in Anführungszeichen.  Wir  sind es, die  Baum  von  Luft  und  Erde  unterscheiden.  Ganzes  von  Teil  usw. 2) Die Unterscheidungen, die nicht gezogen werden, existieren nicht. Durch Unterscheidungen wird uns die Welt bewußt. Gäbe es keine Unterscheidungen, gäbe es auch kein Bewußtsein.

Was ins Bewußtsein gelangt, wird selektiert und ist eine systematische Auswahl von Informationen. Unser Erkenntnisapparat schneidet aus der unendlichen Zeit und dem unendlichen Raum einen Gegenstand der Aufmerksamkeit heraus und unterscheidet ihn von allen anderen möglichen Gegenständen, hebt ihn quasi heraus. Wir trennen, mehr oder weniger bewußt, das für uns interessante Geschehen vom uninteressanten. Aus einem unendlichen zusammenhängenden Geschehen unterscheiden wir konkrete Gegenstände an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Hätte unser Sinnesapparat kein Zeitempfinden, könnten wir nichts feststellen, da alles fließend wäre und keine Konturen hätte. Alles wäre nur verschwommen erkennbar. Erst durch die zeitliche Eingrenzung werden Form und Einheit und damit die Gegenständlichkeit geschaffen, die eine sinnvolle Bezeichnung ermöglichen.
"Aus der Vielfalt an Dingen, von deren Existenz wir wissen, müssen wir eine Auswahl treffen, und was wir auswählen und Bewußtsein nennen, ist nie dasselbe, wie die Dinge selbst, denn durch das Auswählen werden sie verändert. Wir nehmen eine Handvoll Sand aus der endlos weiten Landschaft, die uns umgibt, und nennen diese Handvoll Sand  Welt. " 3)
Wir simplifizieren die Vielfalt unserer lebendigen Eindrücke in einem System von Kategorien. Der kontinuierlich Fluß unseres Erlebens wird per Abstraktion schematisiert. Wir definieren ein Geschehen indem wir Grenzen aus Zeit und Raum setzen. Unter einem Begriff ist dann ein ganz konkretes Geschehen gemeint. Mit Abstraktionen halten wir die Wirklichkeit fest, um sie zu konstruieren. Wir suchen aus praktischen Gründen für den Ausdruck unserer Empfindungen und Gefühle nach einer gegenständlichen, d.h. wörtlichen Entsprechung.

In der Sprache wird die überwältigende Empfindungsvielfalt des seelischen Erlebens gebunden. Wir dürfen unsere Worte aber nicht mit der erlebten Wirklichkeit verwechseln. Worte sind nur Analogien. Die Beziehung von Zeit, Raum und Person ist das grammatische Gesetz der Sprache, aber kein Naturgesetz.

"Alle Zergliederungen der Sensation sind Abstraktionen: man muß einen Faden der Empfindung liegen lassen, indem man den anderen verfolgt - in der Natur aber sind alle die Fäden ein Gewebe." 4)
Unser bewußtes Sein ist immer auf einen ziemlich kleinen Ausschnitt unserer geistigen Prozesse begrenzt. Es können in einem gegebenen Augenblick immer nur einige wenige Inhalte gleichzeitig festgehalten werden und niemals eine objektive Realität.

Wir sind immer mehr oder weniger bewußt. Völlige und durchgängige Aufmerksamkeit für alle möglichen Dinge wurde eine derart hohe Konzentration erfordern, so daß sie ein Mensch nur bedingt und beschränkt leisten könnte. Unser Bewußtsein ist zu allen Zeiten begrenzt und konzentriert sich auf dieses oder jenes und wechselt von einem Augenblick zum anderen. Unsere Aufmerksamkeit ist immer psychologisch bedingt und nicht logisch erklärbar.

Bewußtsein ist keine Frage eines eindeutigen entweder - oder, sondern enthält zahlreiche Abstufungen. Was Gegenstand der Empfindung ist hat einen Grad, der sich nach unseren ganz spezifischen Wahrnehmungsbedingungen bemißt. Bestimmte Frequenzen können wir einfach nicht hören, was aber für eine Fledermaus nicht gelten muß. Auch ein Hund, mit seinem feinen Riechorgan, hat eine andere Geruchswelt, als eine Schlange. Das Blatt, auf dem die Raupe lebt, ist für sie eine eigene Welt, ein unendlicher Raum. Hätten wir keinen anderen Sinn, als das Gehör, dann bestände unsere gesamte Erfahrung aus Tönen. Mit einem eingebauten Zeitraffer könnten wir das Gras wachsen sehen.  Was  wir sehen hängt daher davon ab,  wie  wir sehen. Für die Honigbiene ist Farbkonstanz wichtig, für eine Katze, die in der Dämmerung jagt, ist die Farbe völlig irrelevant; die Eule muß das Rascheln einer Maus genau lokalisieren können und so sind auch die Sinne der Menschen in der Verbindung zu praktischen Zwecken zu sehen.

 Wahrnehmbarkeit  ist ein relativer Begriff. Wir können gar nicht anders sehen, als unser Auge es zuläßt. Das grüne Blatt ist nur darum grün, weil es für unser menschliches Auge grün ist. Verschiedene Wellenlängen erzeugen verschiedene Farbempfindungen, aber es gibt auch Bereiche, für die unser Auge einfach nicht empfindlich ist. Farben sind also optische Deutungen.

Das Wahrnehmungsdatum ist immer Ausdruck einer Beziehung zwischen dem Wahrnehmenden und dem Gegenstand der Wahrnehmung. Alle Ruhe, alles Gleichgewicht ist nur relativ, hat nur einen Sinn in Bezug auf diese oder jene Bewegungsform. Alle Relationen, wie etwa die von  Zeit  und  Raum  oder von Tun und Leiden, sind definitionsgemäß nicht absolut, existieren also nicht  ansich.  Die Befriedigungen, die wir uns durch Essen und Trinken verschaffen, sind abhängig vom Hunger und vom Durst, den wir haben.

"Der Wohlgeschmack eines Weines gehört nicht zu den objektiven Bestimmungen des Weines, sondern zu der besonderen Beschaffenheit des Sinnes an dem Subjekte, das ihn genießt." 5)
Schmerzen können nicht objektiv festgestellt werden. Schmerz und Freude sind genausogroß, wie sie gefühlt werden. Wir empfinden die Verringerung von Schmerzen als Freude und die Verkleinerung einer Freude als Schmerz. Wenn ich einen schweren Gegenstand trage, dann fühle ich einen Druck der Schwere; aber nicht der Gegenstand selbst ist schwer, sondern er ist es nur im Verhältnis zu meiner Kraft.

Unmittelbare Erlebnisse und Empfindungen sind individuelle Qualitäten und gehören verschiedenen logischen Typen an, d.h. wir können nicht sehen, was wir hören. Und was wir riechen, können wir nicht fühlen. Die verschiedenen Sinne sind nicht miteinander kommensurabel. Es gibt keine Brücke zwischen dem Empfinden für Farben und dem Empfinden für Töne. Ein dunkles Rot und ein schrilles Geräusch haben nichts gemeinsames. Sie können nicht zusammengezählt werden, sie haben kein gemeinsames Maß. "Jeder Sinn hat seine Welt." 6) Kein Ding hat objektive Eigenschaften, deshalb kann es kein  Ding-ansich ' geben. Ein Objekt ansich, unabhängig vom Subjekt ist etwas völlig Undenkbares. Subjekt und Objekt sind Korrelatbegriffe wie links und rechts. "Weder dem Subjekt noch dem Objekt kommt selbständige Existenz zu; jede Existenz beruth auf Wechselwirkung und ist relativ." 7)

Alle sinnlichen Qualitäten, die uns als solche erscheinen, gehören nicht den Dingen an, sondern entstehen in uns selbst. Es hängt immer von unseren Empfindungen ab, wie uns die Dinge erscheinen. Unter der Folter können fünf Minuten wie eine Ewigkeit erscheinen, Stunden des Glücks kommen uns dagegen wie Minuten vor. Es ist kein Ding  warm  oder  kalt,  wenn es nicht jemand mit seinen Sinnen so empfindet. Sinnesdaten als solche sind weder richtig noch falsch, sondern ein Produkt unserer Interpretation. Eigenschaften haben die Dinge nur in der Relation zu uns. Alle sinnlichen Qualitäten bedürfen eines Trägers. Die Qualitäten der Dinge sind immer bloß Zustände des Subjekts. "Das Opium enthält keine einschläfernde Kraft und der Mensch enthält keinen Aggressionstrieb." 8)

Wir dürfen also aus den Empfindungen der Sinne nicht ohne weiteres auf einen Gegenstand schließen. Was wir die Außenwelt nennen, ist in Wirklichkeit das Ergebnis eines komplexen psychologischen Prozesses. Die bloße Wahrnehmung ist kein Beweis für Realität, was der  gekrümmte  Stock im Wasser oder gewisse Experimente unter Hypnose und andere Täuschungsexperimente bestätigen. Wir glauben die Dinge unmittelbar da wahrzunehmen, wo sie sind, während sich der Vorgang eigentlich im Gehirn abspielt. Wir meinen auch den Schmerz im Fuß zu empfinden, aber es handelt sich um ein Geschehen in unserem Gehirn. Daß die Empfindung im Großhirn stattfindet und nicht, wie wir glauben z.B. an einem Finger, zeigt die prinzipielle Eigenart des Psychischen im Verhältnis zur Physis. Die Sinne sind lediglich Ausläufer des Gehirns und geben uns nur die  Wirkungen  der Dinge und sind keine Ursachen. Unser Gehirn ist aber weit davon entfernt ein fehlerfreier Spiegel der Wirklichkeit zu sein. Nicht im Sinnesdatum als solchem liegen Irrtum und Wahrheit, sondern in seiner Beziehung zu unserem Gehirn. Täuschungen entstehen nicht durch unsere Sinne, sondern durch den Verstand. Wir nehmen die Dinge nicht einfach wahr, sondern benützen auch unbewußt unseren Denkapparat, um sie zu interpretieren.

Die periphere Retina empfängt auch eine Menge Informationen, die nicht ins Bewußtsein gelangen. Es ist daher unmöglich, von dem, was im einfachen Akt des Sehens vor sich geht, eine annehmbare Beschreibung zu geben. Die Sprache hat keine Ausdrucksform für das, was uns nicht bewußt ist. Was wir wahrnehmen, ist uns stets nur als Phänomen unseres Bewußtseins und als Zustand unseres Geistes gegeben. Die Wahrnehmung ist eine  Interpretation  der Sinnesdaten und Teil des Verstandes. Alle Beobachtungen sind immer schon Interpretationen. "Sinnesdaten sind psychologisch gesprochen das Ergebnis unseres Glaubens an die Existenz gewisser theroretischer Entitäten." 9) Wahrnehmung ist eigentlich unbewußtes Schließen. Wahrnehmungen können deshalb nicht mit physikalischen Dingen identifiziert werden, weil Wahrnehmungen erst entstehen, nachdem sich zwischen den physikalischen Dingen und einem Organismus und schließlich im Gehirn viele Vorgänge abgespielt haben.

Unsere Wahrnehmungen erfolgen über die Vermittlung eines konzeptuellen Schemas und sind vorgeordnet. Wir sind immer auf Wahrnehmungstypen, wie etwa Gegenstände, Formen oder Farben eingestellt. Wir nehmen die Dinge nicht als zusammenhanglos und isolierte Elemente wahr, sondern ordnen sie mehr oder weniger unbewußt schon während des Wahrnehmungsprozesses in ein  sinnvolles  Ganzes. Wahrnehmungen sind bereits synthetische Leistungen. Alles, was überhaupt von einem Denkprozess ergriffen wird, ist schon in ein Schema berechenbarer Zusammenhänge gebracht. Die Konformität des Konstruierten mit dem materiellen Gegenstand ist aber reine Vermutung: Das Sehen findet nicht im Auge statt, sondern im Gehirn. Der Sehakt ist im tiefsten Sinne  mental. 

Die Farbqualitäten sind Produkte unserer Sinnesempfindung und unseres Verstandes und keine dem Licht anhaftenden physikalischen Eigenschaften. Die Farbe ist keine Eigenschaft des Gegenstandes. Die Farbe  blau  läßt keine Beschreibung zu, sondern ist letztlich eine Empfindung, dasselbe gilt von allen anderen Farben. Es gibt keine Farben und Töne sondern nur Farbsehende und Tonhörende. Farbe, Klänge und Gerüche sind Erregungsformen unserer Sinnlichkeit. Was für Farbe und Geschmack gilt, gilt auch von Ausdehnung und Festigkeit und es gilt auch von der Substanz: Alles existiert nur im Bewußtsein und ist eine subjektive Erscheinung. Wahrnehmungen sind nicht  wahr-,  sondern nur  angenommen. 

Der sogenannte materielle Gegenstand und seine durch das Bewußtsein vollzogene Aufzeichnung sind rein geistige Konstruktionen. Wahrnehmung und Deutung von  Fakten  erfolgt stets aufgrund eines Vorauswissens und einer ganzen Struktur von Vorurteilen. Es gibt keine uninterpretierten Tatsachen. Der Wahrnehmungsprozess ist Teil des Verstandes, ein Akt der logischen Typisierung. Es gibt kein unvermitteltes Wissen. Was im Bewußtsein erscheint, ist schon abstrahiert. HERMANN COHEN verwirft sogar den Dualismus von Anschauung und Denken als zweier gleichberechtigt nebeneinander stehender Formen der Erkenntnis. Er erklärt auch die Anschauung für eine Form des Denkens. Für ihn gibt es kein als solches  gegebenes  Rohmaterial. Schon die Empfindungen sind ihm Gedankliches.

Auch der Begriff  Bewußtsein  bedeutet deshalb lediglich einen Versuch, eine persönliche Erfahrung zu definieren. Alle Begriffe müssen eigentlich als Hilfskonstruktionen und Arbeitshypothesen verstanden werden, die erst durch einen individuellen Bedeutungswert, der ihnen vom jeweiligen Verwender zugemessen wird, subjektive Geltung erhalten. Unser Bewußtseinsbegriff hat viel Ähnlichkeit mit dem alten Seelenbegriff. Alle Bewußtseinserscheinungen können auch als seelische verstanden werden.  Seelenleben  kann eine Definition für Ganzheiten sein, die sich nicht in Elemente auffassen lassen. Seelische  Gebilde  müssen demnach immer als Ganzheiten aufgefasst werden, weil wir sie in ihrem Wesen stören, falls wir versuchen, sie in letzte Elemente zu zerlegen.  Bewußtsein  ist also eine praktische Abstraktion für ein organisches Ganzes. Nicht die Empfindungen sind die Elemente der Wirklichkeit, sondern das Bewußtsein ist maßgebend, in dem sie zusammenhängen. Diese subjektive Einheit des Bewußtseins ist Bedingung aller Erkenntnis. Wo die Einheit des Bewußtseins fehlt, da fehlt auch das Bewußtsein selbst.
LITERATUR - Laurent Verycken, Formen der Wirklichkeit - Auf den Spuren der Abstraktion, Penzberg, 1994
    Anmerkungen
    1) LUDWIG KLAGES, Der Geist als Widersacher der Seele, Bonn 1981, Seite 842
    2) Vgl. GREGORY BATESON, Geist und Natur, Ffm 1987, Seite 120
    3) ROBERT PIRSIG, Zen oder die Kunst ein Motorrad zu warten, Ffm 1980, Seite 83
    4) JOHANN GOTTLIEB HERDER, Sprachphilosophie, Hamburg 1960, Seite 40
    5) IMMANUEL KANT, Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart 1966, Seite 92
    6) MAURICE MERLEAU-PONTY, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1974, Seite 260
    7) LUDWIK FLECK, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Ffm 1980, Seite XXIII
    8) GREGORY BATESON, Geist und Natur, Ffm 1987, Seite 165
    9) PAUL FEYERABEND in ERNST TOPITSCH (Hrsg), Probleme der Wissenschaftstheorie, Wien 1966, Seite 50