ra-2Toshihiko IzutsuMiracle WorkersShizuteru Ueda    
 
ROBERT M. PIRSIG
Zen und die Kunst
ein Motorrad zu warten

"Er wendete die Methode der Rationalität gegen sie selbst, wendete sie gegen seine eigene Natur, um für einen irrationalen Begriff einzutreten, ein undefiniertes Etwas namens Qualität."

Wir sind jetzt an der Schranke zwischen dem Klassischen und dem Romantischen, wo wir auf der einen Seite ein Motorrad sehen, wie es unmittelbar wahrgenommen wird - und das ist eine wichtige Art, es zu sehen -, und wo wir es auf der anderen Seite allmählich wie ein Mechaniker im Hinblick auf seine innere Form sehen können - und auch das ist eine wichtige Art, die Dinge zu sehen.

Das Werkzeug zum Beispiel - dieser Schraubenschlüssel - besitzt eine gewisse romantische Schönheit, aber sein Zweck ist stets rein klassisch. Er ist so konstruiert, daß man damit die innere Form der Maschine verändern kann.

Das Porzellan im Innern der ersten Kerze ist sehr dunkel. Das ist in klassischer wie romantischer Hinsicht häßlich, denn es bedeutet, daß der Zylinder zuviel Benzin und nicht genug Luft bekommt. Die Kohlenstoffmoleküle im Benzin finden nicht genug Sauerstoff, mit dem sie sich verbinden können, und deshalb setzen sie sich als Belag an der Kerze an. Als wir gestern in die Stadt kamen war der Leerlauf ein bißchen unrund, und das ist ebenfals ein Symptom für diese Störung.

Bloß um zu sehen, ob vielleicht nur der eine Zylinder ein zu fettes Gemisch bekommt, prüfe ich auch den andern. Es ist bei beiden dasselbe. Ich hole ein Taschenmesser hervor, hebe ein Stöckchen auf, das im Rinnstein liegt, und spitze es am einen Ende zu, um die Kerzen zu säubern, wobei ich überlege, was der Grund für das zu fette Gemisch sein könnte. Mit Pleuelstangen oder Ventilen hat das nichts zu tun.

Und Vergaser verstellen sich kaum von alleine. Die Hauptdüsen sind überdimensioniert, was bei hohen Geschwindigkeiten zu einem zu fetten Gemisch führt, aber die Kerzen waren mit  denselben  Düsen schon mal sehr viel sauberer. Ein Rätsel. Ständig ist man von ihnen umgeben. Aber wollte man versuchen, sie alle zu lösen, würde man die Maschine nie hinkriegen. Da sich nicht gleich eine plausible Erklärung anbietet, lasse ich die Frage erst mal offen.

Die Einstellschraube des ersten Ventils ist in Ordnung, braucht nicht nachgestellt zu werden, also nehme ich mir die nächste vor. Immer noch jede Menge Zeit, bis die Sonne hinter diesen Bäumen vorkommt ... Mir ist immer wie in der Kirche, wenn ich das mache ... Die Fühlerlehre ist so etwas wie ein Heiligenbild, und ich vollziehe mit ihr ein religiöses Ritual. Sie ist ein Teil eines Satzes mit der Bezeichnung "Feinmeßgeräte", was in klassischem Sinne eine tiefe Bedeutung hat.

Bei einem Motorrad wird diese Präzision nicht aus irgendwelchen romantischen oder perfektionistischen Gründen gepflegt. Es ist nur so, daß die enormen Kräfte von Hitze und Explosionsdruck im Innern des Motors nur mit der Art von Präzision zu bändigen sind, die solche Meßgeräte ermöglichen. Bei jeder Zündung treibt die Explosion eine Pleuelstange mit einem Oberflächendruck von mehreren Tonnen pro Quadratzentimeter auf die Kurbelwelle. Wenn der Sitz der Pleuelstange auf der Kurbelwelle präzise ist, wird die Explosionskraft gleichmäßig übertragen, und das Metall hält dem Druck stand.

Ist jedoch zwischen Pleuelstange und Kurbelwelle auch nur ein paar hundertstel Millimeter Spiel, kommt der Schub plötzlich wie ein Hammerschlag, und das Lager und die Oberfläche der Kurbelwelle verschleißen in kürzester Zeit, was dann zu einem Geräusch führt, das sich anfangs ganz ähnlich wie ein Ventilklingeln anhört. Das ist der Grund, warum ich das jetzt überprüfe.

Wenn es wirklich eine lockere Pleuelstange ist und ich fahre in die Berge, ohne den Motor vorher überholen zu lassen, dann wird das Geräusch bald immer lauter, bis die Pleuelstange bricht, in die mit hoher Drehzahl rotierende Kurbelwelle kracht und den Motor zerstört. Manchmal durchschlagen angebrochene Pleuelstangen sogar den Boden des Kurbelgehäuses, und das ganze Öl läuft aus. Dann kann man nur noch zu Fuß gehen.

Das alles läßt sich aber verhindern durch jene nach Hundertsteln von Millimetern ermittelte Genauigkeit, wie sie durch die Verwendung von Feinmeßgeräten möglich wird, und das ist ihre klassische Schönheit - nicht was man sieht, sondern was sie bedeuten -, ihre Leistungsfähigkeit in bezug auf die Beherrschung der inneren Form.

Auch das zweite Ventil ist in Ordnung. Ich gehe auf die Straßenseite der Maschine hinüber und nehme mir den anderen Zylinder vor.

Feinmeßgeräte sind dazu konstruiert, eine  Idee  - Maßgenauigkeit - zu verwirklichen, dern vollkommene Realisierung letztlich unmöglich ist. Es gibt kein vollkommen geformtes Teil eines Motorrads, es wird nie eines geben, aber wenn man sich der Vollkommenheit so weit nähert, wie es diese Instrumente erlauben, dann geschehen bemerkenswerte Dinge, und man durchmißt wie im Fluge die Landschaft, von einer Kraft getrieben, die man als magisch bezeichnen könnte, wäre sie nicht in jeder Hinsicht so völlig rational.

Das Wissen um diese rationale, intellektuelle  Idee  ist es, worauf es ankommt. JOHN betrachtet das Motorrad und sieht Stahl in verschiedenen Formen und hat negative Gefühle im Zusammenhang mit diesen stählernen Gebilden und schaltet ab. Ich betrachte jetzt auch diese stählernen Gebilde, und ich sehe Ideen. Er glaubt, ich arbeite an  Teilen.  Ich arbeite an  Begriffen. 

Ich sprach gestern von diesen Begriffen, als ich sagte, daß man ein Motorrad nach seinen Bestandteilen und nach seinen Funktionen aufteilen kann. Damit hatte ich gleichzeitig ein Kästchendiagramm mit der folgenden Anordnung geschaffen:
                      Motorrad

                        |

               ________________

          |                    |

       Teile             Funktionen
Und als ich sagte, daß man die Teile weiter in Triebwerk und Fahrwerk unterteilen könne, waren es im selben Moment schon mehr solcher kleiner Kästche geworden:
                             Motorrad

                                |

                      ________________

                    |                 |

                 Teile           Funktionen

                    |

            ________________

         |                 |

    Triebwerk            Fahrwerk

Und jedesmal, wenn ich eine weitere Unterteilung vornahm, tauchten noch mehr Kästchen auf, die diesen Unterteilungen entsprachen, bis ich eine riesige Kästchenpyramide hatte. Indem ich das Motorrad in immer kleinere Stücke aufteilte, baute ich gleichzeitig eine Struktur auf.

Diese Struktur von Begriffen wird formal als Hierarchie bezeichnet und ist seit altersher eine Grundstruktur allen wesentlichen Wissens. Königreiche, Imperien, Kirchen, Armeen, sie alle wurden und werden in Hierarchien gegliedert. Moderne Unternehmen sind ebenfalls so strukturiert. Inhaltsverzeichnisse sind so strukturiert, Montageanleitungen, Computer-Software, alles wissenschaftliche und technische Wissen ist so strukturiert - und dies mit solcher Gründlichkeit, daß auf Gebieten wie der Biologie die Hierarchie Stamm - Ordnung - Familie - Gattung - Art fast eine heilige Kuh ist.

Das Kästchen "Motorrad"  enthält  die Kästchen "Teile" und "Funktionen". Das Kästchen "Teile" enthält die Kästchen "Triebwerk" und "Fahrwerk" und so weiter. Es gibt noch viele andere Arten von Strukturen; sie entstehen, wenn man andere Operatoren wie beispielsweise "verursacht" anwendet, die zu langen Kettenstrukturen nach dem Muster von "A verursacht B, welches C verursacht, welches D verursacht" und so weiter führen. Eine funktionale Beschreibung des Motorrads weist diese Struktur auf.

Die Operatoren "existiert", "gleicht" und "impliziert" schaffen wieder andere Strukturen. Diese Strukturen sind normalerweise in so komplexen und weitverzweigten Mustern und Linien miteinander verknüpft, daß der einzelne im Lauf seines ganzen Lebens nie mehr als einen kleinen Teil von ihnen zu begreifen vermag. Der Sammelname für diese vielfältig miteinander verknüpften Strukturen, die Gattung, der die Hierarchie des Enthaltenseins und die Struktur der Kausalität nur als Arten angehören, ist  System.  Das Motorrad ist ein System. Ein  echtes  System.

Es ist korrekt, gewisse Intuitionen des Staates und des Establishments als "das System" zu bezeichnen, da diese Organisationen auf denselben strukturellen begrifflichen Beziehungen beruhen wie ein Motorrad. Sie werden selbst dann noch durch strukturelle Beziehungen aufrechterhalten, wenn sie jeden anderen Sinn und Zweck verloren haben. Menschen gehen in eine Fabrik und führen von acht bis fünf ohne zu fragen eine völlig sinnlose Arbeit aus, weil die Struktur es so verlangt. Es gibt keinen Schurken, keinen "fiesen Typ", der will, daß sie ein sinnloses Leben führen, es liegt nur daran, daß die Struktur, das System es verlangt und keiner bereit ist, sich der ungeheuren Aufgabe zu unterziehen, die Struktur zu verändern, bloß weil sie sinnlos ist.

Reißt man aber eine Fabrik ein oder revoltiert gegen eine Regierung oder unterläßt es, ein Motorrad zu reparieren, nur weil es sich dabei um ein System handelt, heißt das, Wirkungen anstelle von Ursachen anzugreifen; und solange nur die Wirkungen angegriffen werden, ist keine Veränderung möglich. Das wahre System, das eigentliche System ist der derzeitige Aufbau unseres systematischen Denkens selbst, die Rationalität selbst, und wenn man eine Fabrik niederreißt, jedoch die Rationalität, die sie hervorgebracht hat, stehen läßt, dann wir die Realität einfach eine neue Fabrik hervorbringen.

Wenn eine Revolution eine systematische Regierung vernichtet, die systematischen Denkmuster, die diese Regierung hervorbrachten, jedoch unangetastet läßt, dann werden sich diese Denkmuster in der nachfolgenden Regierung wiederholen. Es wird so viel über das System geredet. Und so wenig begriffen.

Dies und nicht mehr ist das Motorrad, ein in Stahl ausgeführtes Begriffssystem. Es ist kein Teil an ihm, keine Form, die nicht in jemandes Kopf entstanden wäre ... die Einstellschraube des dritten Ventiels ist ebenfalls in Ordnung. Nun noch die letzte. Wehe, wenn die es auch nicht ist ... Ich habe festgestellt, das es Leuten, die noch nie mit Stahl gearbeitet haben, schwerfällt, das einzusehen - daß das Motorrad vor allem ein geistiges Phänomen ist. Sie assoziieren Metall mit bestimmten Formen - Rohre, Stangen, Träger, Werkzeuge, Teile -, die alle irgendwo festgemacht und unveränderlich sind, und sehen darin etwas vorwiegend Physisches.

Für einen, der Metall maschinell bearbeitet oder gießt oder schmiedet oder schweißt, hat dagegen "Stahl" überhaupt keine Form. Stahl kann jede Form annehmen, die man will, wenn man geschickt genug ist, und jede Form  bis auf  die, die man will, wenn einem dieses Geschick fehlt. Geformte Teile, wie diese Einstellschraube, sind das, was man  erreicht  was man aus dem Stahl macht. Stahl hat nicht mehr Form als dieser Dreckklumpen da auf dem Motor. Die Formen sind alle in jemandes Kopf entstanden.

Das muß man unbedingt sehen. Und der  Stahl?  Teufel noch mal, sogar der Stahl ist in jemandes Kopf entstanden. Es gibt in der Natur keinen Stahl. Jeder Bronzezeitmensch hätte einem das sagen können. In der Natur ist lediglich das  Potential  für den Stahl angelegt. Weiter nichts. Aber was ist "Potential"? Auch das gibt es nur in jemandes Kopf! ... Geister.

Genau das hat PHAIDROS im Grunde gemeint, als er sagte, daß alles nur im Geist existiere. Es hört sich verrückt an, wenn man sich einfach hinstellt und es sagt, ohne sich auf etwas Bestimmtes wie einen Motor zu beziehen. Wenn man es dagegen mit etwas Spezifischem und Konkretem verbindet, dann hört es sich schon nicht mehr so verrückt an, und es wird einem klar, daß er vielleicht etwas Wesentliches gesagt haben könnte.

Die Einstellschraube die vierten Ventils ist tatsächlich zu locker, was ich gehofft habe. Ich stelle sie nach. Ich prüfe die Zündeinstellung und stelle fest, daß sie noch stimmt und die Kontakte keine Krater aufweisen; ich mache deshalb nichts daran, schraube die Ventildeckel wieder auf, setze die Zündkerzen ein und lasse den Motor an.

[...]

Es gibt einen ganzen Zweig der Philosophie, der sich mit der Definition von Qualität befaßt: die Ästhetik. Ihre Frage "Was versteht man unter  schön?"  geht auf die Antike zurück. PHAIDROS aber hatte zur Zeit seines Philosophiestudiums vor diesem ganzen Wissenszweig heftigen Abscheu empfunden. Er war beinahe vorsätzlich in dem einzigen Kurs, den er darin belegt hatte, durchgefallen und hatte eine Anzahl Aufsätze verfaßt, in denen er den Lehrer und das Studienmaterial erbarmungslos angriff. Er haßte und verabscheute alles.

Es war kein bestimmter Ästhetiker, der diese Reaktion in ihm hervorrief. Es waren alle zusammen. Nicht irgendein bestimmter Standpunkt brachte ihn so in Harnisch, vielmehr die Auffassung, daß Qualität überhaupt irgendwelchen Standpunkten unterzuordnen sei. Der intellektuelle Prozeß machte sie sich zur Sklavin, prostituierte sie. Ich glaube, das war die Ursache seines Zorns.

Er schrieb in einer seiner Abhandlungen: "Diese Ästhetiker meinen, ihr Gegenstand sei so eine Art Pfefferminzbonbon, auf dem sie mit ihren wulstigen Lippen herumlutschen dürften; etwas zum Hinunterschlingen; etwas, das man unter genießerischen Bemerkungen Happen für Happen intellektuell mit dem Messer zerteilen, uaf die Gabel spießen und auslöffeln kann; ich könnte kotzen. Das, worauf sie schmatzend herumlutschen, ist der stinkende Kadaver von etwas, was vor langer Zeit unter ihren Händen verendete."

Nun aber, auf der ersten Stufe des Kristallisationsprozesses, wurde ihm klar: Wenn Qualität ihrer Definition nach undefiniert bleibt, ist das ganze Gebiet der Ästhetik mit einem Schlag ausgelöscht ... ad absurdum geführt ... kaputt. Durch seine Weigerung, Qualität zu definieren, hatte er sie gänzlich aus dem analytischen Prozeß herausgenommen. Wenn man Qualität nicht definieren kann, gibt es keine Möglichkeit mehr, sie irgendwelchen Verstandesregeln zu unterwerfen. Es ist ausgeschlossen, daß die Ästhetiker dann noch etwas zu sagen haben. Ihr ganzes Gebiet, die Definition von Qualität, ist dahin.

Dieser Gedanke elektrisierte ihn. Es war, wie wenn man ein Krebsheilmittel gefunden hätte. Keine Erklärungen mehr, was Kunst sei. Keine supergescheiten Fachleute und Kritiker mehr, die rational bestimmten, was diesem oder jenem Komponisten gelungen und was ihm mißlungen ist. Sie alle, jeder einzelne dieser Alleswisser, würden schließlich den Mund halten müssen. Das war nicht mehr nur eine interessante Idee. Es war ein Traum.

Ich glaube, daß anfangs niemand wirklich begriff, was er da vorhatte. Sie sahen einen Intellektuellen eine Theorie verkünden, die alle Merkmale einer rationalen Analyse einer bestimmten Lehrsituation aufwies. Sie sahen nicht, daß er sich ein Ziel gesetzt hatte, das all ihren gewohnten Zielen genau entgegengesetzt war. Er führte die rationale Analyse nicht fort. Er blockierte sie. Er wendete die Methode der Rationalität gegen sie selbst, wendete sie gegen seine eigene Natur, um für einen irrationalen Begriff einzutreten, ein undefiniertes Etwas namens Qualität.

Er schrieb:

  • Jeder Lehrer, der englischen Aufsatz gibt, weiß, was Qualität ist. (Jeder Lehrer, der es nicht weiß, sollte das tunlichst für sich behalten, denn es wäre zweifellos ein Zeichen von Unfähigkeit.)
  • Jeder Lehrer, der meint, Qualität im schriftlichen Ausdruck könne und solle definiert werden, bevor man sie lehrt, kann und sollte hergehen, und sie definieren.
  • Alle diejenigen, die der Meinung sind, daß Qualität im schriftlichen Ausdruck zwar existiert, aber nicht definiert werden kann, daß aber Qualität dennoch gelehrt werden sollte, können von der folgenden Methode profitieren, die es erlaubt, reine Qualität im schriftlichen Ausdruck zu lehren, ohne sie zu definieren.
Nach dieser Einleitung erläuterte er einige der Methoden, die er im Unterricht entwickelt hatte.

Ich glaube, er hoffte wirklich, es würde doch einmal jemand kommen, ihn herausfordern und den Versuch machen, Qualität zu definieren. Aber es kam keiner.

Immerhin rief die in Klammern gesetzte Bemerkung über das Unvermögen, Qualität zu definieren, als ein Zeichen von Unfähigkeit einiges Stirnrunzeln in der Abteilung hervor. Schließlich war er das jüngste Mitglied des Kollegiums und wohl doch noch nicht ganz der Mann, Maßstäbe für die Leistungen seiner älteren Kollegen zu setzen.

Das Recht, seine Meinung zu sagen, wurde ihm durchaus zugestanden, und es hatte sogar den Anschein, daß die übrige Lehrerschaft sein selbständiges Denken schätzte und ihm ein kirchengemäßes Wohlwollen entgegenbrachte. Aber im Gegensatz zu der Meinung vieler Gegner der akademischen Freiheit ist es nie die kirchengemäße Auffassung gewesen, daß es dem Lehrer freistehen solle, daherzureden, was ihm gerade in den Sinn kommt, ohne sich vor irgend jemand verantworten zu müssen. Die kirchengemäße Auffassung besagt nur, daß er sich vor dem Gott der Vernunft und nicht vor den Götzen politischer Macht verantworten muß.

Die Tatsache, daß er andere vor den Kopf stieß, war ohne Belang für die Wahrheit oder Unwahrheit seiner Aussagen, und sie konnten ihn deswegen nicht moralisch verdammen. Sehr aber hätten sie ihn moralisch verdammt, und zwar mit dem größten Vergnügen, wenn sie den geringsten Anhaltspunkt dafür gefunden hätten, daß er Unsinn verbreite. Er durfte tun und lassen, was er wollte, solange er es mit rationalen Argumenten begründen konnte.

Aber wie um alles in der Welt soll man die Weigerung, etwas zu definieren, mit rationalen Argumenten begründen? Definitionen sind die  Grundlage  der Vernunft. Ohne sie kann man überhaupt nicht argumentieren. Er konnte sich den Angriff eine Zeitlang mit allerlei diealektischer Spiegelfechterei vom Halse halten, doch früher oder später mußte er mit etwas Handfesterem aufwarten. Sein Bemühen, etwas Handfesteres zu finden, führte ihn zu weiteren Kristallisationen über die traditionellen Grenzen der Rhetorik hinaus in der Bereich der Philosophie.

CHRIS dreht sich um und wirft mir einen gequälten Blick zu. Es wird jetzt nicht mehr lange dauern. Ich hatte das schon vor dem Abmarsch kommen sehen. Als DeWEESE einem Nachbarn erzählte, ich sei ein erfahrener Bergsteiger, glühte CHRIS vor Bewunderung. In seinen Augen war das eine große Sache. Er dürfte jetzt bald am Ende sein, und dann können wir für heute Schluß machen.

Aha. Da haben wir's. Er ist hingefallen. Er steht nicht mehr auf. Es war ein verdächtig weicher Fall. Sah nicht so aus, als wäre er wirklich gestolpert. Jetzt sieht er mich wütend und gekränkt an, wartet auf einen Vorwurf. Ich tue ihm den Gefahllen nicht. Ich setze mich neben ihn und sehe, daß er schon fast geschlagen ist.

"Also", sage ich, "wir können hier bleiben oder weitergehen oder umkehren. Was ist dir lieber?"

"Ist mir egal", sagt er, "ich weiß bloß nicht ..."

"Was willst du bloß nicht?"

"Es ist mir egal!" sagt er, mißmutig.

"Wenn es dir egal ist, dann gehen wir eben weiter", sage ich, und er sitzt in der Falle.

"Mir gefällt's hier nicht", sagt er. "Das macht mir überhaupt keinen Spaß. Ich hab' gedacht, es würde Spaß machen."

Der geht auch mit mir durch. "Das mag schon sein", sage ich, "aber so deutlich brauchst du es mir auch wieder nicht zu sagen. Was denkst du dir eigentlich?"

Angst flackert plötzlich in seinen Augen auf, und er erhebt sich.

Wir gehen weiter.

Der Himmel über der anderen Wand des Canyon hat sich bezogen, und der Wind in den Kiefern um uns herum ist kühl geworden und verheißt nichts Gutes.

Wenigstens läßt es sich in der Kühle leichter gehen ...

Ich sprach vorhin von der ersten Welle der Kristallisation außerhalb der Rhethorik, die sich aus PHAIDROS' Weigerung, Qualität zu definieren, ergab. Er mußte sich die Frage beantworten: Wenn du sie nicht definieren kannst, was läßt dich dann glauben, daß sie überhaupt existiert?

Seine Antwort war nicht neu, sie entstammte einer philosophischen Richtung, die sich  Realismus  nennt. "Ein Ding existiert", sagte er, "wenn eine Welt ohne es nicht normal funktioniert. Wenn uns der Nachweis gelingt, daß eine Welt ohne Qualität nicht normal funktioniert, haben wir damit gezeigt, daß die Qualität existiert, ob sie nun definiert wird oder nicht." Hierauf ging er daran, von einer Beschreibung der Welt, wie wir sie kennen, die Qualität zu subtrahieren.

Das erste Opfer einer solchen Subtraktion, sagte er, wären die schönen Künste. Wenn man in den Künsten nicht mehr zwischen gut und schlecht zu unterscheiden vermag, verschwinden sie. Es ist witzlos, ein Bild an die Wand zu hängen, wenn die nackte Wand genausogut aussieht. Man kann auf Symphonien verzichten, wenn das Knistern von der Platte oder das Brummen des Plattenspielers sich genauso gut anhören.

Die Poesie würde verschwinden, weil sie nur selten einen Sinn gibt und keinen praktischen Wert hat. Und auch die Komödie würde interessanterweise verschwinden. Kein Mensch würde mehr über Witze lachen, denn der Unterschied zwischen Humor und Humorlosigkeit ist reinste Qualität.

Als nächstes ließ er den Sport verschwinden. Fußball, Baseball, alle sportlichen Wettbewerbe und Spiele würden verschwinden. Die erreichten Punktzahlen wären nicht länger Maßstäbe für etwas Sinnvolles, sondern bloß leere Statistiken, wie die Anzahl der Steine in einem Kieshaufen. Wer würde solche Wettkämpfe besuchen? Wer an ihnen teilnehmen?

Als nächstes subtrahierte er die Qualität vom Wirtschaftsgeschehen und sagte voraus, was für Konsequenzen das haben würde. Da Geschmacksqualität keine Bedeutung mehr hätte, würden die Supermärkte nur noch Grundnahrungsmittel wie Reis, Maismehl, Sojabohnen und Weizenmehl führen; daneben auch noch etwas Fleisch, gleich welcher Sorte, Milch zum Aufziehen von Säuglingen sowie Vitamin- und Mineralpräparate zur Verhinderung von Mangelerscheinungen. Alkoholische Getränke, Tee, Kaffee und Tabak würden verschwinden. Ebenso Filme, Tanzveranstaltungen, Theater und Partys. Wir würden nur noch mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Wir würden alle die gleichen billigen Schuhe tragen.

Ein sehr hoher Prozentsatz von uns wäre ohne Arbeit, aber das wäre wahrscheinlich nur vorübergehend, bis man uns für grundlegende qualitätslose Aufgaben heranzöge. Angewandte Naturwissenschaft und Technik würden drastisch verändert, aber reine Wissenschaft, Mathematik und Philosophie, speziell Logik, würden unverändert bleiben.

PHAIDROS fand besonders diesen letzten Aspekt äußerst interessant. Die rein intellektuellen Beschäftigungen wurden von der Subtraktion am wenigsten berührt. Wenn man die Qualität aufgäbe, bliebe nur die Rationalität unverändert. Das war seltsam. Wie sollte man sich das erklären?

Er wußte es nicht, aber eines wußte er: Indem er von einem Bild der Welt, wie wir sie kennen, die Qualität subtrahierte, hatte er einen Bedeutungsumfang dieses Begriffs aufgedeckt, von dem er selbst nichts geahnt hatte. Die Welt  kann  ohne Qualität funktionieren, aber das Leben wäre so öde, daß es kaum noch lebenswert wäre. Es wäre überhaupt nicht mehr lebenswert. Das Wort  wert  drückt Qualität aus. Das Leben wäre bloßes Existieren, ohne jeden Wert und ohne jeden Sinn und Zweck.

Er blickte auf die Wegstrecke zurück, die er mit diesem Gedankengang zurückgelegt hatte, und kam zu der Überzeugung, daß er den Beweis erbracht hatte. Da die Welt offensichtlich nicht normal funktioniert, wenn die Qualität subtrahiert wird, existiert die Qualität, ob sie nun definiert wird oder nicht.

Nachdem er diese Vision einer qualitätslosen Welt heraufbeschworen hatte, entdeckte er daran schon bald Ähnlichkeiten mit einer Anzahl Gesellschaftsformen, von denen er gelesen hatte. Das antik Sparta fiel ihm ein, das kommunistische Russland mit seinen Satelliten, ALDOUS HUXLEYss "Schöne neue Welt" und GEORGE ORWELLs "1984". Er erinnerte sich auch an Menschen aus seinem eigenen Leben, die dies qualitätslose Welt gutgeheißen hätten.

Es waren dieselben, die ihn dazu bringen wollten, sich das Rauchen abzugewöhnen. Sie wollten rationale Gründe für sein Rauchen hören, und als er keine hatte, taten sie sehr überlegen, als hätte er das Gesicht verloren oder sowas. Bei ihnen mußte man für alles Gründe und Pläne und Lösungen haben. Sie waren dieselbe Sorte Mensch wie er. Die Sorte, die er jetzt aufs Korn nahm. Und um diese qualitätslose Welt in den Griff zu bekommen, suchte er lange Zeit nach einem passenden Ausdruck, der diese Sorte Mensch charakterisierte.

Es war vor allem eine intellektuelle Grundhaltung, aber es war nicht eigentlich der Intellekt, der ausschlaggebend war. Es war eine gewisse Grundannahme, eine vorgefaßte Meinung, daß der Lauf der Welt durch Gesetze - Vernunft - bestimmt sei und daß der Fortschritt der Menschheit hauptsächlich durch die Entdeckung dieser Gesetze der Vernunft und ihre Anwendung zur Erfüllung ihrer eigenen Wünsche zu bewerkstelligen sei.

Dieser Glaube war es, der alles zusammenhielt. Er besah sich eine Zeitlang mit zusammengekniffenen Augen dieses Bild einer qualitätslosen Welt, fügte ihm noch ein paar Details hinzu, dachte darüber nach, besah sich dann wieder eine Weile und dachte noch ein bißchen nach, um schließlich an seinen Ausgangspunkt zurückzukehren.

Squareness.

Das war's. "Squareness". Wenn man Qualität subtrahiert, bleibt jene rein intellektuelle, pedantische, spießige Grundhaltung übrig, die von der Beat-Generation schlicht als "square" bezeichnet wurde. Die totale Abwesenheit von Qualität ist die Essenz von "Squareness".

Er mußte an ein paar befreundete Künstler denken, mit denen er einmal durch die Vereinigten Staaten gefahren war. Es waren Schwarze, und sie hatten sich ständig über eben die Qualitätslosigkeit beklagt, um die es ihm jetzt ging.  Square.  Das war ihr Ausdruck dafür. Schon lange bevor die Massenmedien den Ausdruck übernahmen und er sich daraufhin auch im Sprachgebrauch der Weißen einbürgerte, hatten sie all diesen intellektuellen Kram, den sie für sich grundsätzlich ablehnten, als "square" bezeichnet. Und es war grotesk gewesen, wie er und sie ständig aneinander vorbeigeredet hatten, weil er ein Musterexemplar eben dieser  squareness  gewesen war, von der sie andauern sprachen. Je mehr er sich bemüht hatte, sie beim Wort zu nehmen, um so deutlicher hatten sie sich ausgedrückt. Und jetzt, mit seinen Aussagen über Qualität, schien er genau dasselbe zu sagen und sich genauso undeutlich auszudrücken wie sie, obwohl das, worüber er sprach, so hart und klar und fest umrissen war wie nur irgendein rational definierter Gegenstand, mit dem er sich je befaßt hatte.

Qualität. Das war es, wovon sie andauernd geredet hatte. "Mann", hatte einer von ihnen einmal gesagt, "jetzt halt aber mal gefälligst die Luft an und verschon uns mit deinen ewigen Sieben-Dollar-Fragen. Wenn du die ganze Zeit bloß fragst, was es  ist,  wirst du nie so weit kommen, daß due es  weißt."  Seele. Qualität. Ein und dasselbe?

Die Wellen der Kristallisation rollten eine nach der anderen heran. Er sah zwei Welten, gleichzeitig. Auf der intellektuellen Seite, der "squareness"-Seite, erkannte er jetzt, daß Qualität ein Spaltbegriff war. Wie ihn jeder intellektuelle Analytiker sich wünscht. Man nimmt sein analytisches Messer, setzt die Spitze genau auf den Begriff Qualität, klopft einmal darauf, gar nicht fest, nur ganz leicht, und die ganze Welt teilt sich, zerfällt glatt in zwei Hälften -  hip  und  square,  romantisch und klassisch, humanistisch und technologisch -, und der Bruch ist sauber.

Es gibt keine Scherben, keinen Abfall, keine Splitter, die ebensogut hier- wie dorthin passen würden. Man braucht für einen solchen Bruch nicht nur Geschick, sondern auch viel Glück. Es kommt vor, daß die besten Analytiker das Messer an der naheliegendsten Spaltlinie ansetzen und trotzdem nur einen Haufen Trümmer bekommen. Und da war nun die Qualität, ein feiner, kaum wahrnehmbarer Sprung, ein Haarriß der Unlogik in unserer Vorstellung vom Universum, und man brauchte nur anzutippen, und das ganze Universum zersprang in zwei Teile, so glatt, daß man es kaum glauben konnte. Er wünschte sich, daß KANT jetzt lebte. KANT hätte es zu schätzen gewußt. Dieser Meister der Diamantschneidekunst. Er hätte es verstanden. Qualität undefiniert lassen. Das war das Geheimnis.

Trotz der beginnenden Einsicht, daß er im Begriff stand, auf eine merkwürdige Art intellektuellen Selbstmord zu begehen, schrieb PHAIDROS:

"Man kann  squareness  knapp und dennoch umfassend als das Unvermögen definieren, Qualität wahrzunehmen, bevor sie nicht rational definiert, das heißt, bevor sie nicht in lauter Worte zerstückelt wird ... Wir haben bewiesen, daß Qualität, obgleich undefiniert, dennoch existiert. Ihr Vorhandensein erweist sich empirisch im Unterricht und läßt sich logisch demonstrieren, indem man zeigt, daß es eine Welt, wie wir sie kennen, ohne sie nicht geben könnte. Was dann noch der Betrachtung bedarf, Gegenstand der Analyse sein muß, ist nicht die Qualität, sondern sind vielmehr jene eigentümlichen, umgangssprachlich als  squareness  bezeichneten Denkgewohnheiten, die uns manchmal den Blick auf die Qualität verstellen."
So suchte er den Angriff abzuwehren, den Spieß umzudrehen. Der Gegenstand der Analyse, der Patient, auf dem Operationstisch war nicht mehr die Qualität, sondern die Analyse selbst. Die Qualität war wohlauf und in bester Verfassung. Der Analyse hingegen schien ein Gebrechen anzuhaften, das sie hinderte, das Naheliegende zu sehen.
LITERATUR - Robert M. Pirsig, Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten, Ffm 1980