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Entenquak aus 1984
"Da ist ja der Mann, den ich suche", sagte eine Stimme hinter Winstons Rücken. Er drehte sich um. Es war sein Freund Syme, der in der Forschungsabteilung arbeitete. Vielleicht war "Freund" nicht ganz das richtige Wort. Man hatte heutzutage keine Freunde, man hatte Kameraden; aber es gab Kameraden, deren Gesellschaft angenehm war als die anderer. Syme war Sprachwissenschaftler, ein Spezialist für "Neusprache". Er gehörte zu der riesigen Gruppe von Fachleuten, die jetzt mit der Zusammenstellung der elften Ausgabe des Wörterbuchs der Neusprache betraut waren. Er war ein winziges Kerlchen, kleiner als Winston, mit dunklem Haar und großen, hervortretenden Augen, die traurig und spöttisch zugleich dreinblickten und im Gespräch das Gesicht des Gegenübers genau zu durchforschen schienen. "Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht ein paar Rasierklingen hast", sagte er. "Nicht eine!" versicherte Winston mit gleichsam schuldbewußter Hast. "Ich habe überall welche aufzutreiben versucht. Es gibt keine mehr." Beständig wurde man von allen Leuten nach Rasierklingen gefragt. In Wirklichkeit hatte Winston noch zwei unbenützte gehortet. Seit Monaten schon herrschte Mangel an diesem Artikel. Alle Augenblicke fehlte es an einem notwendigen Gebrauchsartikel, den die Parteiläden nicht liefern konnten. Manchmal waren es Knöpfe, machmal Stopfwolle, dann wieder Schnürsenkel; zur Zeit waren es Rasierklingen. Man konnte sie, wenn überhaupt, nur dadurch herbekommen, daß man mehr oder weniger heimlich den "freien" Markt abgraste. "Ich habe schon seit sechs Wochen die gleiche Klinge benützt", setzte Winston lügnerisch hinzu. Die Schlange machte einen neuen Ruck vorwärts. Erst als sie zum Stehen kam, drehte er sich wieder Syme zu. Jeder von ihnen nahm ein fettiges Metalltablett von einem auf der Ecke des Ausgabetisches stehenden hochaufgetürmten Stoß. "Hast du gestern zugeschaut, wie die Gefangenen aufgehängt wurden?" fragte Syme. "Ich hatte zu arbeiten", sagte Winston leichthin. "Ich werde es mir wohl im Kino ansehen." "Ein sehr ungenügender Ersatz", meinte Syme und blickte Winston forschend an. Seine spöttischen Augen glitten über Winstons Gesicht. "Ich kenne dich!" schienen die Augen zu sagen. "Ich sehe durch dich hindurch. Ich weiß sehr wohl, warum du nicht hingegangen bist, um dir das anzusehen." Auf eine intellektuelle Art und Weise war Syme verbissen orthodox. Er konnte mit einer unangenehm genießerischen Befriedigung von Bombenangriffen auf feindliche Dörfer, von den Gerichtsverhandlungen und Geständnissen der Gedankenverbrecher und den Hinrichtungen in den Kellern des Liebesministeriums sprechen. Wenn man sich mit ihm unterhalten wollte, so mußte man ihn vor allem von diesen Themen ablenken und ihn möglichst in ein Gespräch über die technischen Eigentümlichkeiten der Neusprache verwickeln, ein Thema, über das er fesselnd und voll Sachkenntnis plaudern konnte. Winston drehte den Kopf ein wenig zur Seite, um dem forschenden Blick der großen dunklen Augen zu entgehen. "Es war recht interessant, das Hängen", sagte Syme in Erinnerung daran. "Ich finde, es beeinträchtigt die Sache sehr, wenn man ihnen die Füße zusammenbindet. Ich sehe sie gerne strampeln. Und vor allem muß am Schluß die Zunge herausblecken, blau - ganz zart hellblau. Das ist eine Einzelheit, die mir gefällt." "Der nächste, bitte!" rief der weißbeschürzte Proles mit der Schöpfkelle. Winston und Syme schoben ihre Tabletts über den Ausgabetisch. Jedem wurde mit einem raschen Schwung seine Einheitsmahlzeit zugeteilt: ein Eßgeschirr voll eines rosagrauen Eintopfes, ein Stück Brot, ein Würfel Käse, ein Becher Victory-Kaffee ohne Milch und eine Sacharintablette. "Dort unter dem Televisor ist ein Tisch frei", sagte Syme. "Nehmen wir uns im Vorbeigehen einen Gin mit." Der Gin wurde in henkellosen Porzellanbechern ausgegeben. Sie zwängten sich durch den gedrängt vollen Raum und stellten ihre Schüsseln auf die Metallplatte des Tisches, auf dessen einer Ecke jemand eine Pfütze von Eintopf hinterlassen hatte, einen schmutzig-nassen Brei, der wie Erbrochenes aussah. Winston erhob seinen Ginbecher in die Höhe, hielt einen Augenblick inne, um Mut zu sammeln, und stürzte das ölig schmeckende Zeug hinunter. Nachdem er die Tränen niedergekämpft hatte, die ihm in die Augen gestiegen waren, merkte er plötzlich, daß er hungrig war. Er begann gehäufte Löffel des Eintopfgerichtes herunterzuschlingen, in dessen schlüpfriger Masse auch Würfel eines schwammigen, rosafarbenen Zeugs auftauchten, das vermutlich ein Kunstfleischprodukt war. Keiner der beiden sprach ein Wort, bis sie ihr Eßgeschirr geleert hatten. An dem Tisch links von Winston, ein wenig hinter ihm, sprach jemand rasch und pausenlos - ein unangenehmes Geplapper, das wie das Quaken einer Ente durch das allgemeine Getöse des Raumes drang. "Wie geht's mit dem Wörterbuch vorwärts?" fragte Winston mit erhobener Stimme, um den Lärm zu übertönen. "Nur langsam", sagte Syme. "Ich bin jetzt bei den Adjektiven. Es ist sehr interessant." Bei der Erwähnung der Neusprache war er sofort lebhaft geworden. Er schob seine Schüssel beiseite, ergriff mit der einen seiner zarten Hände sein Stück Brot und mit der andern den Käse; dabei beugte er sich über den Tisch, um nicht schreien zu müssen. "Die Elfte Ausgabe ist die endgültige Fassung", erklärte er. "Wir geben der Neusprache ihren letzten Schliff - wir geben ihr die Form, die sie haben wird, wenn niemand mehr anders spricht. Wenn wir damit fertig sind, werden Leute wie du die Sprache ganz von neuem erlernen müssen. Du nimmst wahrscheinlich an, neue Worte zu erfinden. Ganz im Gegenteil! Wir merzen jeden Tag Worte aus - massenhaft, zu Hunderten. Wir vereinfachen die Sprache auf ihr nacktes Gerüst. Die Elfte Ausgabe wird kein einziges Wort mehr enthalten, das vor dem Jahr 2050 entbehrlich wird." Er biß hungrig in sein Brot, und nachdem er zwei Bissen geschluckt hatte, fuhr er mit pedantischer Leidenschaft zu sprechen fort. Sein magers, dunkles Gesicht hatte sich belebt, seine Augen hatten ihren spöttischen Ausdruck verloren und waren fast träumerisch geworden. "Es ist eine herrliche Sache, dieses Ausmerzen von Worten. Natürlich besteht der große Leerlauf hauptsächlich bei den Zeit- und Eigenschaftswörtern, aber es gibt auch Hunderte von Hauptwörtern, die ebensogut abgeschafft werden können. Es handelt sich nicht nur um die sinnverwandten Worte, sondern auch um Worte, die den jeweils entgegengesetzten Begriff wiedergeben. Welche Berechtigung besteht schließlich für ein Wort, das nichts weiter als das Gegenteil eines anderen Wortes ist? Jedes Wort enthält seinen Gegensatz in sich. Zum Beispiel gut: Wenn du ein Wort wie gut hast, wozu brauchst du dann noch ein Wort wie schlecht? Ungut erfüllt den Zweck genauso gut, ja sogar noch besser, denn es ist das haargenaue Gegenteil des anderen, was man bei schlecht nicht wissen kann. Wenn du hinwiederum eine stärker Abart von gut willst, worin besteht der Sinn einer ganzen Reihe von undeutlichen, unnötigen Worten wie vorzüglich, hervorragend oder wie sie alle heißen mögen? Plusgut drückt das Gewünschte aus oder doppelplusgut, wenn du etwas noch Stärkeres haben willst. Freilich verwenden wir diese Formen bereits, aber in der endgültigen Neusprache gibt es einfach nichts anderes. Zum Schluß wird die ganze Begriffswelt von Gut und Schlecht nur durch sechs Worte - letzten Endes durch ein einziges Wort - gedeckt werden. Siehst du die Schönheit, die darin liegt, Winston? Es war natürlich ursprünglich eine Idee von G.B." fügte Syme hinzu. Ein mattes Aufleuchten huschte bei der Erwähnung des Großen Bruders über Winstons Gesicht. Trotzdem stellte Syme sofort einen Mangel an Begeisterung fest. "Du weißt die Neusprache nicht wirklich zu schätzen, Winston", sagte er beinahe traurig. "Selbst wenn du in ihr schreibst, denkst du noch immer in der Altsprache. Ich habe ein paar von den Artikeln gelesen, die gelegentlich in der Times schreibst. Sie sind recht gut, aber es sind doch nur Übertragungen. Dein Herz hängt noch an der Altsprache, mit allen ihren Unklarheiten und unnützen Gedankenschattierungen. Dir geht die Schönheit der Wortvereinfachung nicht auf. Weißt du auch, daß die Neusprache die einzige Sprache der Welt ist, deren Wortschatz von Jahr zu Jahr kleiner wird?" Nein, Winston wußte das nicht. Er lächelte, wie er hoffte, mit einem anerkennenden Ausdruck, ohne daß er zu sprechen wagte. Syme biß wieder ein Stück Schwarzbrot ab, kaute kurz und fuhr dann fort: "Siehst du denn nicht, daß die Neusprache kein anderes Ziel hat, als die Reichweite des Gedankens zu verkürzen? Zum Schluß werden Gedankenverbrechen buchstäblich unmöglich gemacht haben, da es keine Worte mehr gibt, in denen man sie ausdrücken könnte. Jeder Begriff, der jemals benötigt werden könnte, wir in einem einzigen Wort ausdrückbar sein, wobei seine Bedeutung streng festgelegt ist und alle seine Nebenbedeutungen ausgetilgt und vergessen sind. Schon heute, in der Elften Ausgabe, sind wir nicht mehr weit von diesem Punkt entfernt. Aber der Prozeß wird immer weitergehen, lange nachdem wir beide tot sind. Mit jedem Jahr wird es weniger und immer weniger Worte geben, wird die Reichweite des Bewußtseins immer kleiner und kleiner werden. Auch heute besteht natürlich kein Entschuldigungsgrund für das Begehen eines Gedankenverbrechens. Es ist lediglich eine Frage der Selbstzucht, der Wirklichkeitskontrolle. Aber schließlich wird auch das nicht mehr nötig sein. Die Revolution ist vollzogen, wenn die Sprache geschaffen ist. Neusprache ist Engsoz, und Engsoz ist Neusprache", fügte er mit einer Art geheimnisvoller Befriedigung hinzu. "Hast du schon einmal bedacht, Winston, daß um das Jahr 2050 kein Mensch mehr am Leben sein wird, der ein solches Gespräch, wie wir es eben führen, überhaupt verstehen könnte?" "Außer -", wollte Winston einwenden, aber er brach ab. Es lag ihm auf der Zunge zu sagen: "Außer den Proles", aber er hielt sich zurück, da er nicht ganz sicher war, ob eine solche Bemerkung nicht in gewisser Weise unorthodox gewesen wäre. Syme hatte jedoch erraten, was er sagen wollte. "Die Proles sind keine Menschen", sagte er beiläufig. "Mit dem Jahr 2050 - aber vermutlich schon früher - wird jede wirkliche Kenntnis der Altsprache verschwunden sein. Die gesamte Literatur der Vergangenheit wird vernichtet worden sein. Chaucer, Shakespeare, Milton, Byron werden nur noch in Neusprachfassungen vorhanden sein, und damit nicht einfach umgewandelt, sondern zu dem Gegenteil von dem verkehrt, was sie waren. Selbst die Parteiliteratur wird eine Wandlung erfahren. Sogar die Leitsätze werden anders lauten. Wie könnte ein Leitsatz wie Freiheit ist Sklaverei bestehen bleiben, wenn der Begriff Freiheit aufgehoben ist? Das ganze Reich des Denkens wird anders sein. Es wird überhaupt kein Denken mehr geben - wenigstens was wir heute darunter verstehen. Strenggläubigkeit bedeutet: nicht mehr denken - nicht mehr zu denken brauchen. Strenggläubigkeit ist Unkenntnis." Winston war fertig mit seinem Brot und seinem Käse. Er drehte sich auf seinem Stuhl ein wenig zur Seite, um seinen Becher Kaffee zu trinken. Am Tisch links von ihm sprach der Mann mit der kreischenden Stimme noch immer unbarmherzig weiter. Eine junge Frau, vielleicht seine Sekretärin, die mit dem Rücken zu Winston dasaß, hörte ihm zu und schien allem, was er sagte, eifrig beizustimmen. Von Zeit zu Zeit fing Winston Bemerkungen auf wie "Ich glaube, Sie haben vollkommen recht, ich bin ganz ihrer Meinung", die eine jugendliche und ziemlich törichte Frauenstimme vorbrachte. Aber die andere Stimme schwieg keinen Augenblick still, auch nicht, wenn das Mädchen einmal sprach. Winston kannte den Mann vom Sehen, doch wußte er nicht mehr von ihm, als daß er einen wichtigen Posten in der Literaturabteilung bekleidete. Er war ein Mann von etwa dreißig Jahren, mit einem muskulösen Hals und einem großen, beweglichen Mund. Sein Kopf war ein wenig zurückgebeugt, und infolge des Winkels, in dem er dasaß, fingen seine Brillengläser das Licht auf und zeigten Winston zwei blanke Scheiben statt der Augen. Das etwas Gespenstische an der Sache war, daß es fast unmöglich war, ein einziges Wort des aus seinem Munde hervorbrechenden Redeschwalls zu verstehen. Nur einmal fing Winston einen Gesprächsfetzen auf: " ... vollständige und endgültige Ausrottung des Goldsteinismus" ... sehr rasch und gleichsam in einem Stück, wie eine fertiggegossene Druckzeile, hervorgestoßen. Der Rest war nur ein Geräusch, quak-quak-quak. Und doch konnte man, auch ohne zu verstehen, was der Mann sagte, sich über den Grundton nicht im Zweifel sein. Mochte er nun Goldstein beschuldigen und strengere Maßnahmen gegen Gedankenverbrecher fordern, mochte er gegen die Grausamkeiten der eurasischen Streitkräfte wettern, mochte er gegen den Großen Bruder oder die Helden an der Malabar-Front lobpreisen - es blieb sich alles gleich. Man konnte sicher sein, was immer er sagte, daß jedes seiner Worte streng orthodox, reinster Engsoz war. Während Winston das augenlose Gesicht betrachtete, dessen Unterkiefer schnell auf- und zuklappte, hatte er ein merkwürdiges Gefühl, daß dies kein richtiger Mensch, sondern eine Art Puppe war. Hier sprach nicht das Gehirn eines Menschen, sondern sein Kehlkopf. Was dabei herauskam, bestand zwar aus Worten, aber es war keine menschliche Sprache im echten Sinne; es war ein unbewußt hervorgestoßenes, völlig automatisches Geräusch, wie das Quaken einer Ente. Syme war einen Augenblick verstummt und zeichnete mit dem Stiel seines Löffels ein Muster in die Eintopfreste. Die Stimme am Nebentisch quakte pausenlos weiter, gut hörbar trotz des großen Getöses ringsum. "Es gibt ein Wort in der Neusprache", sagte Syme, "ich weiß nicht, ob du es kennst: Entenquak. Es ist eines von den interessanten Wörtern, die zwei gegensätzliche Bedeutungen haben. Einem Gegner gegenüber angewandt, ist eine Beschimpfung; gebraucht man es von jemandem, mit dem man einer Meinung ist, dann ist es ein Lob." |