tb-3Fahrenheit 4511984Gullivers ReisenDas große Netz    
 
A. E. van VOGT
NULL-AXIOME
(aus der Welt der Null-A)

van VOGT und die AS
A.E. van VOGT an seine Leser
"Das Feld steht weit offen für kreative, unverzagte Frauen und Männer, ein System einzuführen, das die Menschheit von Krieg, Armut und Furcht erlöst. Um das zu erreichen, wird es zuvor nötig sein, die politische Gewalt Leuten zu entwinden, die identifizieren."

Der wissenschaftliche Kenntnisstand zu ARISTOTELES Zeit hätte sich wahrscheinlich nicht präziser formulieren lassen, als er das tat. Seine Anhänger ergaben sich zweitausend Jahre lang der Identifizierung, die gefundenen Formulierungen besäßen immerwährende Gültigkeit. Neue und verbesserte Messungen in jüngerer Zeit haben viele dieser  Wahrheiten,  widerlegt, aber immer noch gründen sich die Ansichten und Überzeugungen der meisten Menschen darauf. Dementsprechend hat man der zweiwertigen Logik, auf der solcher Volksglaube beruht, die Bezeichnung aristotelisch - abgekürzt A - gegeben, der mehrwertigen Logik moderner Wissenschaft dagegen den Namen nicht-aristotelisch, Abkürzung  Null-A. 
Das menschliche Nervensystem ist von einer überaus komplexen Struktur. Man schätzt die Zahl der Nervenzellen oder Neuronen im menschlichen Gehirn auf zwölftausend Millionen, von denen mehr als die Hälfte im Kortex liegen. Nehmen wir an, daß eine Million Nervenzellen untereinander in Gruppen von jeweils nur zwei Neuronen verbunden sind und berechnen danach die Zahl der möglichen Kombinationen, so kommen wir auf einen Wert von 10273 für die Zahl der möglichen interneuronischen Schaltungen. Im Vergleich dazu enthält das gesamte bekannte Universum nicht mehr als 1066 Atome.
Der verzehrende Hunger des unkritischen Geistes nach dem, was er sich als Gewißheit oder Endgültigkeit vorstellt, treibt ihn dazu, sich an Schattenbildern zu ergötzen.
Was du sagst, was ein Ding sei, ist es nicht. Es ist viel mehr. Es ist eine Verbindung im weitesten Sinne. Ein Stuhl ist nicht einfach ein Stuhl. Es ist eine Struktur von unbegreiflicher Komplexität. Sich diese komplexe molekulare chemische Struktur einfach als Stuhl vorzustellen, hieße, das Nervensystem auf das einzuengen, was KORZYBSKI eine Identifikation nennt. Es ist die Totalität solcher Identifikationen, die das neurotische, das unvernünftige und das dem Wahn verfallene Individuum hervorbringt.
Kinder, unreife Erwachsene und Tiere "identifizieren". Wann immer jemand auf eine neue beziehungsweise gewandelte Situation so reagiert, als handle es sich um eine bekannte oder unveränderte, sagt man, er (respektive sie) identifiziere. Eine solche Grundeinstellung ist aristotelisch. Trifft jemand eine Feststellung über einen Gegenstand oder ein Ereignis, so "abstrahiert" er dabei nur einige von dessen Eigenschaften. Wenn er beispielsweise sagt: "Der Stuhl dort ist braun!", dann sollte er damit meinen, daß Bräune ein Merkmal des Stuhls ist, und er sollte sich beim Sprechen bewußt sein, daß der Stuhl noch zahlreiche andere Attribute hat. Dieses "Bewußtsein in der Abstraktion" stellt einen der wesentlichen Unterschiede zwischen einem Menschen dar, der semantisch geschult, und einem, der das nicht ist.
Ein Kind ist zu feineren Unterscheidungen noch nicht fähig, weil seinem Gehirn der entwickelte Kortex fehlt. Unausweichlich unterlaufen ihm deshalb Fehleinschätzungen seiner Umwelt. Solche objektiv falschen Urteile werden häufig  unbewußt  internalisiert und ins Erwachsenenalter übernommen. Das Resultat sind  gebildete  Frauen oder Männer, die sich infantil betragen. Weil Kinder - und infantile Erwachsene - unfähig zu feineren Unterscheidungen sind, erschüttern viele Erlebnisse ihr Nervensystem so nachhaltig, daß die Psychiatrie ein besonderes Wort dafür geprägt hat: Trauma.

Jahrelang mitgeschleppt, können solche Traumen einem Menschen derart zusetzen, daß seelische Störungen - das heißt Neurosen - oder sogar Geisteskrankheiten (Psychosen) die Folge sind. Beinahe jeder hat in seinem Leben mehrere traumatische Erfahrungen durchgemacht. Die Wirkung zahlreicher Erschütterungen kann auf psychotherapeutischem Wege gemildert werden.
Semantik hat mit der Bedeutung der Bedeutung zu tun - mit dem Sinn, den Worte haben. Allgemeine Semantik befaßt sich mit den Beziehungen des menschlichen Nervensystems zu seiner Umwelt und schließt deshalb Semantik ein. Sie stellt ein Integrationssystem für alles Denken und alle Erfahrungen des Menschen zur Verfügung.
Aus Gründen der Vernunft DATIERE man. Man sage nicht: Wissenschaftler sind der Ansicht ... ", sondern man sage: Wissenschaftler waren 1986 der Ansicht ... "JOHN SMITH (1986) ist Neutralist ... - Alle Dinge, einschließlich JOHN SMITHs politischer Meinung, unterliegen der Veränderung und können deshalb nur in ihrem zeitlichen Zusammenhang richtig wiedergegeben werden.
Um der Vernunft willen DIFFERENZIERE man. Man sage nicht: Zwei kleine Mädchen ... ", es sei denn, man meint damit: Mary und Jane, zwei kleine Mädchen, verschieden voneinander und von allen anderen Menschen auf der Welt ...

Um der Vernunft willen verzichte man auf ETIKETTIERUNGEN. Ausdrücke wie "Faschist" "Kommunisten" "Demokrat" "Republikaner" "Katholik" "Jude", beziehen sich auf menschliche Geschöpfe, die niemals gänzlich in irgendein Schema passen.

Um der Vernunft willen verwende man ANFÜHRUNGSZEICHEN. So stellen beispielsweise "Bewußtsein", und "Unterbewußtsein" nützliche Beschreibungen dar, aber daß sie dem tatsächlichen "Prozeßcharakter" der Abläufe wirklich entsprechen, muß erst noch bewiesen werden. Sie gleichen Karten eines Gebiets, über das wir vielleicht niemals genaue Kenntnisse besitzen werden. Weil jeder einzelne Mensch im Null-A-Denken unterwiesen werden soll, ist es wichtig, sich der "polyvalenten, - das heißt der vielwertigen - Bedeutung der Worte bewußt zu bleiben, die man entweder aufnimmt oder selbst benutzt.


Um der Vernunft willen vergesse man nicht: Die Karte ist nicht das Land, das Wort ist nicht die Sache selbst." Jede Verwechslung von Karte und Land löst im Organismus eine  semantische Störung  aus, die so lange andauert, bis man sich die Beschränktheit der  Karte  klargemacht hat.
Um der Vernunft willen vergesse man nicht: An erster Stelle steht das Ereignis - der auslösende Reiz; als zweites folgt die nervliche Registrierung des Geschehenen, auf dem Weg über die Sinne; als drittes die gefühlsmäßige Reaktion, gegründet auf die bisherigen Erfahrungen jedes einzelnen; den Abschluß bildet die verbale Reaktion. Die meisten Menschen identifizieren den ersten mit dem vierten Schritt, ohne sich der Existenz des zweiten und dritten überhaupt bewußt zu sein.
Über non-aristotelische Ausbildungsmethoden lediglich informiert zu sein, genügt nicht. Sie müssen auf der automatischen, das heißt  unbewußten,  Ebene erlernt werden. An Stelle des  theoretischen,  muß das  praktische,  Stadium treten. Das Ziel besteht darin, Flexibilität bei der Verarbeitung von Ereignissen unterhalb der verbalen Ebene zu erlangen. Allgemeine Semantik ist darauf angelegt, dem einzelnen ein Richtungsgefühl zu vermitteln, statt von neuem starre Verhaltensdispositionen zu fördern.
 Allgemeine Semantik  ist eine Methode, keine Philosophie. Jede beliebige Zahl neuer, Null-A-orientierter Philosophien wäre denkbar, so, wie geometrische Systeme sich in beliebiger Zahl vorstellen lassen. Möglicherweise besteht das dringendste Erfordernis unserer Zivilisation in der Entwicklung einer Null-A-orientierten Wirtschaftswissenschaft. Es kann mit Nachdruck festgestellt werden, daß keine derartige Lehre bis jetzt existiert. Das Feld steht weit offen für kreative, unverzagte Frauen und Männer, ein System einzuführen, das die Menschheit von Krieg, Armut und Furcht erlöst. Um das zu erreichen, wird es zuvor nötig sein, die politische Gewalt Leuten zu entwinden, die identifizieren.

LITERATUR, A. E. van Vogt, Welt der Null-A, München 1986