ra-4Entenquak aus 1984Null-AxiomeGullivers ReisenDas große Netz    
 
RAY BRADBURY
Fahrenheit 451

"Wenn dir jemand liniertes Papier gibt, schreibe quer über die Zeilen."

Montag war allein in der Wildnis.

Ein Reh. Er verspürte den schweren, moschusähnlichen Duft, vermischt mit Blut und dem haftenden Atemhauch des Tieres, einen Geruch aus Kardamon und Moos und Ambrosia in dieser ungemeinen Nacht, wo die Bäume auf ihn zukamen, auswichen, kamen, auswichen, im Gleichtakt mit seinem Herzen, das ihm bis zum Hals hinauf schlug.

Des dürren Laubes auf dem Land war kein Ende; er watete darin wie in einem trockenen Fluß, der nach Gewürznelken und warmem Staub roch. Und die übrigen Gerüche! Vom ganzen Land ging ein Geruch wie von einer angeschnittenen Kartoffel aus, wund und kalt und weiß, da fast die ganze Nacht der Mondschein darauf geruht hatte. Dann war da ein Geruch wie von sauren Gurken und ein Geruch von zerhackter Petersilie, wie zu Haus bei Tisch, und etwas wie das schwache Aroma eines Senftopfes. Etwas wie der Duft der Nelken aus dem Nachbargarten. Er langte mit der Hand hinab und fühlte ein Unkraut emporstreben, wie ein Kind, das ihn streifte. Seine Finger rochen nach Süßholzwurzel.

Er stand da und atmete, und je länger er das Land einatmete, um so mehr war er davon erfüllt bis ins kleinste. Er war nicht leer. Er gab hier mehr als genug, um ihn auszufüllen. Es würde mehr als genug da sein.

Stolpernd schlurfte er durch das Laub, das ihm bis zu den Knöcheln stand.

Und mitten in all dem Neuartigen etwas Vertrautes.

Es gab einen dumpfen Ton, als er mit dem Fuß dagegen stieß.

Mit der Hand tastete er den Boden ab, ein Meter nach links, ein Meter nach rechts.

Das Eisenbahngeleise.

Das Geleise, das aus der Stadt kam und durch die Landschaft dahinrostete, durch die jetzt menschenleeren Wälder am Fluß.

Wohin immer er wollte, dies war sein Pfad. Er brauchte vorläufig noch etwas, womit er vertraut war, einen Zauber, der ihn schützte und ihm Halt verlieh auf seinem Weg durch dorniges Gestrüpp und all das, was es zu riechen und zu empfinden und zu betasten gab, inmitten des Gewispers von fallendem Laub.

Auf dem Geleise setzte er seinen Weg fort.

Und war überrascht, wie ihm plötzlich Gewißheit wurde in einer Sache, die sich jedem Beweis entzog.

Einst, vor langer Zeit, war Clarisse hier gegangen, wo er jetzt ging.

Eine halbe Stunde später, er schritt frierend, aber mit einem neuen Körpergefühl vorsichtig auf dem Geleise dahin, die Augen voller Finsternis, die Ohren voller Geräusche, an den Beinen ein Geprickel von Kletten und Nesseln, da sah er das Feuer vor sich.

Das Feuer war weg, dann kam es wieder, wie ein Augenzwinkern war es. Er blieb stehen, aus Angst, er könnte es mit einem einzigen Hauch auslöschen. Doch es war da, und er ging behutsam darauf zu, obwohl noch weit davon entfernt. Es dauerte nahezu eine Viertelstunde, bis er ihm wirklich nahekam, und da stand er still, in Deckung, und betrachtete es. Betrachtete das bißchen Bewegung, weiß und rot, und es war ein seltsames Feuer, weil es ihm etwas anderes bedeutete.

Es brannte nicht, es wärmte!

Er sah eine Anzahl Hände ausgestreckt an die Wärme, Hände ohne die im Dunkel verborgenen Arme. Über den Händen reglose Gesichter, in die nur das Flackern des Widerscheins etwas Bewegung brachte. Er hatte nicht gewußt, daß Feuer so aussehen konnte. Nie in seinem Leben war ihm der Gedanke gekommen, daß es nicht nur nehmen, sondern auch geben könne. Selbst sein Geruch war anders.

Wie lange er schon dastand, hätte er nicht zu sagen vermocht; er war sich nur des törichten und doch köstlichen Gefühls bewußt, wie ein Tier aus den Wäldern vom Feuer angelockt worden zu sein. Er war ein Wesen mit Lunte und Lichtern, ein Wesen aus Pelz und Schnauze und Huf, aus Horn und Blut, das nach Herbst riechen würde, wenn man es am Boden verbluten ließe. Lange stand er da und lauschte dem warmen Knistern der Flammen.

Eine geballte Stille war rund um das Feuer, und die Stille war in den Mienen der Männer, und Zeit war da, Zeit genug, um an diesen verrostenden Geleisen unter den Bäumen zu sitzen und die Welt zu betrachten, von allen Seiten, als würde sie mitten ins Feuer gehalten, ein Stück Stahl, dem diese Männer Gestalt gaben. Es war nicht nur das Feuer, das anders war, es war Stille. Montag fühlte sich in diese eigenartige Stille hineingezogen, die mit der ganzen Welt zu tun hatte.

Und dann setzten die Stimmen ein, und es wurde geredet, und wenn er auch nicht verstand, was sie sagten, so hörte er doch das ruhige Auf und Ab der Stimmen, die sich die Welt vornahmen und sie betrachteten; sie kannten das Land und die Bäume und die Stadt am Fluß, aus der die Geleise kamen. Die Stimmen sprachen von allem möglichen, es gab nichts, worüber sie nicht sprechen konnten, er erkannte es schon am Tonfall und an der sich ständig darin regenden Wißbegier und Verwunderung.

Und dann schaute einer der Männer auf und sah ihn, zum ersten oder vieleicht auch zum siebten Mal, und eine Stimme rief Montag zu:

"Du kannst jetzt ruhig herauskommen!"

Montag trat ins Dunkel zurück.

"Komm ruhig", rief die Stimme, "du bist hier willkommen."

Langsam ging Montag auf das Feuer und die fünf alten Männer zu, die darum herumsaßen, in dunkelblauem Baumwollzeug. Er wußte nicht, was er zu ihnen sagen sollte.

"Setz dich hin", sagte der Mann, der das Oberhaupt zu sein schien. "Willst du Kaffee?"

Er sah zu, wie das dunkle, dampfende Gebräu in einen zusammenschiebbaren Blechbecher rann, der ihm ohne Umstände gereicht wurde. Zaghaft nippte er daran, während er neugierige Blicke auf sich gerichtet fühlte. Er verbrühte sich die Lippen, aber das tat gut. Es waren bärtige Gesichter, die ihn da umgaben, doch die Bärte waren sauber und ordentlich, und auch die Hände der Männer waren sauber. Sie waren aufgestanden, wie um einen Gast zu begrüßen, und setzten sich jetzt wieder ans Feuer. Montag schlürfte von dem Kaffee. "Danke", sagte er, "vielen Dank."

"Schon gut, Montag. Ich heiße Granger." Er hielt ihm eine kleine Flasche mit einer farblosen Flüssigkeit hin. "Trink dann noch das hier. Es wird die chemische Zusammensetzung deines Schweißes verändern. In einer halben Stunde riechst du wie zwei andere Leute. Wenn der Hund hinter einem her ist, gibt's nichts Besseres als das."

Montag trank das bittere Zeug.

"Du wirst stinken wie ein Luchs, aber das macht nichts", versicherte ihm Granger.

"Ihr kennt meinen Namen", bemerkte Montag.

Granger deutete mit dem Kopf auf ein tragbares Fernsehgerät neben dem Feuer. "Wir haben die Verfolgung mitangesehen. Dachten uns schon, du würdest schließlich südwärts längs des Flußes landen. Als wir dich im Wald herumpreschen hörten wie einen trunkenen Elch, gingen wir nicht wie sonst uns verstecken. Wir nahmen an, du seist im Wasser, als die Hubschrauber wieder nach der Stadt abschwenkten. Etwas stimmt dort nicht. Die Fahndung geht noch weiter. In der Gegenrichtung allerdings."

"In der Gegenrichtung?"

"Wollen mal sehen."

Granger knipste den tragbaren Empfänger an. Das Bild war ein böser Traum, verkleinert, im Wald leicht von Hand zu Hand gehend, ein Wirbel von Farbe und Flügelschlag. Jetzt rief eine Stimme:

"...Fahndung im Norden der Stadt. Polizeihubschrauber kreisen das Gebiet um die 87. Straße und Elm Grove Park ein!"

Granger nickte. "Die tun bloß so. Du hast sie am Fluß abgeschüttelt, aber sie dürfen es nicht zugeben. Sie wissen genau, daß sie die Zuschauer nicht beliebig lang bei der Stange halten können. Das Schauspiel muß einen knalligen Schluß haben, und zwar rasch. Wenn sie den ganzen Fluß absuchen wollten, dauerte das vielleicht die ganze Nacht. So suchen sie denn einen Sündenbock aufzustöbern, um die Sache mit einem Knalleffekt abzuschließen. Paß auf, in den nächsten fünf Minuten kriegen sie Montag!"

"Wieso -"

"Paß nur auf."

Von einem schwebenden Hubschrauber aus kippte jetzt die Kamera auf eine menschenleere Straße hinunter.

"Siehst du?", sagte Granger leise. "Das wirst du sein. Ganz am andern Ende der Straße wird das Wild gestellt. Siehst du, wie die Kamera einschwenkt? Spannender Aufbau der Schlußszene. Totale. Irgendein armer Teufel macht gegenwärtig einen Spaziergang. Ein Einzelgänger, ein Sonderling. Glaube nur ja nicht, der Polizei seien die Lebensgewohnheiten solcher Käuze unbekannt, die in der Frühe ausgehen, weil es ihnen Spaß macht, oder weil sie nicht schlafen können. Wie dem auch sei, der Betreffende steht seit Jahr und Tag unter polizeilicher Beobachtung. Man kann ja nie wissen, wann solche Kenntnisse einmal brauchbar sind.

Heute zum Beispiel kommen sie äußerst gelegen. Um das Gesicht zu wahren. Ach Gott, sieh doch!"

Die Männer am Feuer reckten den Hals.

Auf dem Bildschirm sah man jemand um die Ecke biegen. Sogleich kam auch der Mechanische Hund ins Bild, während aus den Hubschraubern die Scheinwerfer ein ganzes Bündel Lichtsäulen nach unten warfen, so daß sie rings um den Mann einen Käfig bildeten.

Eine Stimme rief: "Dort ist Montag!" Die Suche ist zu Ende!"

Verdutzt blieb der Ahnungslose stehen, eine Zigarette in der Hand. Er starrte auf den Hund, ohne zu wissen, was das war. Wahrscheinlich erfuhr er es überhaupt nie. Das Geheul der Sirenen ließ ihn zum Himmel aufblicken. Die Kameras stürzten hernieder. Der Hund sprang hoch in die Luft, mit einem Rhythmus und einer Genauigkeit, die etwas unbeschreiblich Schönes hatten. Seine Nadel schoß heraus. Eine Weile wurde er in der Bildmitte festgehalten, damit die Zuschauer Muße hatten, sich alles deutlich zu vergegenwärtigen, den wunden Blick des Opfers, die leere Straße, das Stahltier, das wie ein Geschoß seinem Ziel zustrebte.

"Montag, stillgestanden!" rief eine Stimme vom Himmel.

Die Kamera fiel über ihr Opfer her, gleichzeitig mit dem Hund. Von beiden wurde es in die Zange genommen.

Der Mann schrie. Er schrie und schrie.

Abblenden.

Funkstille.

Dunkelheit.

Montag entfuhr ein Aufschrei, und er wandte sich ab.

Stille.

Und dann, nachdem die Männer eine Zeitlang mit unbewegter Miene um das Feuer gesessen hatten, erklärte ein Ansager aus der dunklen Bildfläche heraus: "Die Fahndung ist zu Ende, Montag ist tot. Ein Staatsverbrechen ist gesühnt worden."

Dunkelheit.

"Wir schalten jetzt um auf das Hotel Lux, zum Frühprogramm. Sie hören -"

Granger stellte ab.

"Ist dir auch aufgefallen, das Gesicht des Mannes war nie scharf eingestellt zu sehen. Selbst deine besten Freunde konnten nicht mit Sicherheit sagen, ob du es warst. Man ließ er gerade unscharf genug, um die Phantasie anzuregen. Höllisch", sagte er leise. "Höllisch."

Montag erwiderte nichts, er sah bloß wieder her und saß nun da, den Blick starr auf den leeren Bildschirm geheftet.

Granger faßte ihn an. "Willkommen aus dem Totenreich."

Montag nickte, und Granger fuhr fort: "Ich glaube, ich mache dich jetzt am besten mit allen bekannt. Dies hier ist Fred Clement, früher Inhaber eines Lehrstuhls für Literaturgeschichte an der Harvard-Universität, bevor ein Technikum für Atomenergie daraus wurde. Dies ist Dr. Simmons von der Universität von Kalifornien in Los Angeles, ein Ortega-y-Gasset-Forscher; Professor West hier hat allerhand geleistet auf dem Gebiet der Ethik, einem jetzt ausgestorbenen Fach, seinerzeit an der Columbia-Universität. Pfarrer Padover hier hat vor dreißig Jahren ein paar Vorträge gehalten, bis ihm von einem Sonntag auf den andern seine Gemeinde abhanden kam, seiner Ansichten wegen. So stromert er jetzt schon seit längerem mit uns umher. Was mich betrifft, ich habe ein Buch geschrieben über "Die Finger im Handschuh - Das richtige Verhältnis zwischen Einzelmenschen und Gesellschaft", und hier bin ich! Willkommen, Montag!"

"Ich gehöre nicht zu euch", sagte Montag schließlich gedehnt. "Ich war ein Trottel, noch und noch."

"Das sind wir gewohnt. Wir haben alle Fehler gemacht, wie es sich gehört, sonst wären wir nicht hier. Als jeder noch für sich war, hatten wir nichts als unsere Wut. Ich wurde seinerzeit tätlich gegen einen Feuerwehrmann, als er kam, meine Bibliothek zu verbrennen. Seither bin ich auf der Flucht. Willst du bei uns mitmachen, Montag?"

"Ja."

"Was hast du zu bieten?"

"Nichts. Ich glaubte, ich hätte einen Teil des Predigers Salomo und vielleicht ein Stück der Offenbarung, aber auch das habe ich nicht mehr."

"Der Prediger wäre gut. Wo war das Buch?"

"Hier." Montag deutete auf seine Stirn.

"Aha." Granger nickte lächelnd.

"Wieso? Ist das nicht recht?" fragte Montag.

"Mehr als recht; ausgezeichnet!" Granger wandte sich an den Geistlichen. "Haben wir einen Prediger Salomo?"

"Ein Exemplar. Ein Mann namens Harris aus Youngstown."

"Montag." Granger faßte ihn fest an der Schulter. "Trag dir Sorge. Sieh zu, daß du gesund bleibst. Falls Harris etwas zustoßen sollte, bist du der Prediger. Siehst du, wie wichtig du im letzten Augenblick geworden bist."

"Aber ich hab doch alles vergessen."

"Nein, nichts geht je verloren. Es gibt Mittel und Wege, es wieder heraufzubaggern."

"Aber ich habe mich doch bemüht, es mir wieder ins Gedächtnis zu rufen."

Gib dir keine Mühe. Wenn wir es brauchen, kommt es von selber. Wir haben alle ein fotografisches Gedächtnis, nur daß wir uns ein Leben lang alles, was darin ist, mit Teufels Gewalt verklemmen. Simmons hat hier hat sich zwanzig Jahre lang damit beschäftigt, und jetzt haben wir das Verfahren soweit entwickelt, daß wir alles, was einmal gelesen wurde, wieder ins Gedächtnis zurückrufen können. Möchtest du bei Gelegenheit einmal Platos "Staat" lesen, Montag?"

"Gewiß."

"Ich bin Platos "Staat". Möchtest du Mark Aurel lesen? Simmons ist Mark Aurel."

Simmons machte eine Verbeugung.

"Sehr erfreut", sagte Montag, und Granger fuhr fort:

Darf ich vorstellen: Jonathan Swift, der Verfasser dieses garstigen politischen Traktats, "Gullivers Reisen". Und hier ist Charles Darwin, und hier Schopenhauer, und hier haben wir Einstein, und hier an meiner Seite ist Dr. Albert Schweitzer, der menschfreundlichste Philosoph, der je gelebt hat. Da wären wir also, Montag. Aristophanes und Mahatma Gandhi und Gautama Buddha und Konfuzius und Thomas Love Peacock und Thomas Jefferson und Abraham Lincoln, falls gefällig. Nebenbei sind wir auch Matthäus, Markus, Lukas und Johannes."

Alle lachten sie vor sich hin.

"Das kann doch nicht sein", staunte Montag.

"Es 'ist' aber", versetzte Granger mit einem Lächeln. "Auch wir sind Bücherverbrenner. Wir haben die Bücher gelesen und sie dann verbrannt, aus Angst, sie könnten gefunden werden. Sie auf Mikrofilm aufzunehmen, hat sich als untunlich erwiesen. Wir waren immer unterwegs und wollten den Film nicht vergraben und später wieder herkommen. Man hätten uns dabei ertappen können. So bewahren wir die Dinge eben im Kopf auf, wo sie nieman sieht oder vermutet. Wir bestehen aus lauter Bruchstücken von Geschichte und Literatur und Völkerrecht, Byron, Tom Paine, Macchiavelli oder Christus, alles vorhanden. Und höchste Zeit dazu. Der Krieg ist ausgebrochen. Wir sind hier draußen, und dort ist die Stadt, hübsch eingewickelt in ihren kunterbunten Mantel. Woran denkst du, Montag?"

"Ich dachte gerade, wie kurzsichtig es war von mir, auf eigene Faust vorzugehen, Bücher in fremde Häuser einzuschmuggeln und dann Anzeige zu erstatten."

"Du hast getan, was du mußtest. In großem Maßstab durchgeführt, hätte es vielleicht Wunder gewirkt. Aber unser Vorgehen ist einfacher und, wie wir glauben, besser. Wir haben es bloß darauf angelegt, und die Kenntnisse, die wir einmal benötigen werden, zu sichern und zu erhalten. Vorläufig gehen wir noch nicht darauf aus, irgend jemand aufzuwiegeln oder Ärgernis zu erregen. Wenn wir vernichtet werden, stirbt das Wissen mit uns aus, vielleicht ein für allemal. Auf unsere Art sind wir vorbildliche Staatsbürger: wir ziehen die alten Geleise entlang, nächtigen in den Bergen, und die Städter lassen wir in Frieden. Gelegentlich werden wir angehalten und durchsucht, aber wir tragen nichts mit uns, was uns gefährlich werden könnte. Die Organisation ist sehr locker und anpassungsfähig. Einige von uns haben sich Gesicht und Fingerabdruck operativ verändern lassen. Gegenwärtig haben wir eine fürchterliche Aufgabe; wir warten, bis der Krieg hereinbricht und ebenso rasch wieder aus ist. Das ist nicht erquicklich, aber was willst du, wir sind nur eine überzählige Minderheit, die Rufer in der Wüste. Wenn der Krieg vorbei ist, können wir der Welt vielleicht von Nutzen sein."

"Glaubt ihr wirklich, daß man dann auf euch hört?"

"Andernfalls warten wir eben noch. Wir geben die Bücher, mündlich an unsere Kinder weiter, und dann mögen die Kinder ihrerseits sich der Welt nützlich machen. Natürlich geht auf diese Art viel verloren. Aber man kann die Leute nicht zum Zuhören zwingen. Sie müssen sich darüber Gedanken zu machen, warum ihre Welt in die Luft geflogen ist. Einmal mußte es ja dazu kommen."

"Wieviele euresgleichen gibt es denn?"

"Tausende auf den Straßen und Bahngeleisen, nach außen hin Landstreicher, inwendig eine Bibliothek. Es war zuerst nicht geplant. Jeder hatte ein Buch, das er nicht vergessen wollte, und so lernte er es eben auswendig. Dann, im Laufe von zwanzig Jahren oder so, wurden wir unterwegs miteinander bekannt und schlossen uns zu einem lockeren Bund zusammen und stellten einen Plan auf. Das wichtigste indessen, das wir uns einhämmern mußten, war das Bewußtsein unserer Unwichtigkeit; es durfte keine Gelehrteneitelkeit aufkommen, wir durften uns nicht über andere erhaben fühlen. Schließlich sind wir nichts als Schutzumschläge für Bücher, im übrigen aber belanglos. Einige von uns wohnen in Kleinstädten. THOREAUs 'Walden', Erstes Kapitel in Green River, Zweites Kapitel in Willow Farm, Maine. Da gibt es doch in Maryland eine Ortschaft, siebenundzwanzig Seelen insgesamt, keine Bombe wird die je heimsuchen, da sind die gesammelten Aufsätze eines gewissen Bertrand Russel zu Hause, man kann den Ort gewißermaßen wie ein Buch zur Hand nehmen und umblättern, auf jeden Bewohner so und soviel Seiten. Und eines schönen Tages, wenn der Krieg überstanden ist, dann können die Bücher wieder geschrieben werden. Die Leute werden einberufen werden, einer nach dem andern, um herzusagen, was sie sich einverleibt haben, und dann geht es wieder in Druck, bis zur nächsten Kulturdämmerung, wor wir vielleicht mit der ganzen vertrackten Sache nochmals von vorne anfangen müssen. Das ist ja gerade das Wunderbare am Menschen, er läßt sich nie in dem Maße entmutigen und verbiestern, daß er jemals aufhörte, wieder von vorne anzufangen, weil er genau weiß, es lohnt sich."

Was tun wir heute?" wollte Montag wissen.

"Warten", erwiderte Granger. "Und etwas weiter flußabwärts ziehen, für alle Fälle."

Er begann, Erde auf das Feuer zu schütten.

Die andern halfen mit, und Montag half mit, und da wurde nun in der Wildnis gemeinsam Hand angelegt, das Feuer zu löschen.

Sie standen am Fluß in sternklarer Nacht.

Montags Blick fiel auf das Leuchtzifferblatt seiner wasserdichten Uhr. Fünf. Fünf Uhr früh. Schon wieder ein Jahr vorübergetickt in einer einzigen Stunde, und drüben hinter dem Flußufer wartete die Morgenröte.

"Wieso traut ihr mir eigentlich?" fragte Montag.

Im Dunkeln regte sich einer.

"Dein Aussehen genügt. Du hast dich schon lange nicht mehr im Spiegel betrachtet. Außerdem hat der Stadt nie so viel an uns gelegen, daß man unsertwegen eine solche Hetzjagd in Szene gesetzt hätte wie in deinem Fall. Ein paar komische Käuze mit Versen im Kopf können niemand was anhaben, das wissen die in der Stadt genau, und wir wissen es auch; jedermann weiß es. Solange nicht die ganze Bevölkerung auf die Walz geht, Freiheitsbrief und Verfassung im Munde führend, solange ist alles in Ordnung. Um ab und zu einmal einzugreifen, dazu hatte man ja die Feuerwehr. Nein, die Stadt ficht uns nicht an. Und du siehst aus wie der verkörperte Zorn Gottes."

Sie zogen das Flußufer entlang nach Süden. Montag suchte die Gesichter der andern zu erforschen, die alten Gesichter, die er vom Feuerschein her in Erinnerung hatte, zerfurcht und müde. Was er in ihren Zügen suchte, war eine Aufgewecktheit, eine Entschlossenheit und Siegeszuversicht, von der kaum etwas zu bemerken war. Vielleicht hatte er erwartet, einen schimmernden Abglanz der Erkenntnisse zu sehen, die sie mit sich herumtrugen, Gesichter, von innen her erleuchtet wie Laternen, Aber alles Licht war vom Lagerfeuer gekommen, und die Männer sahen nicht anders aus als alle, die einen langen Weg hinter sich haben, eine lange Sucharbeit, und Zeuge waren, wie Gutes unterging, und nun in vorgerückter Stunde sich zusammenfinden, um das Ende des Festes abzuwarten und das Löschen der Lichter. Sie waren durchaus nicht sicher, daß das, was sie im Kopf mitführten, jede künftige Morgenröte in reinerem Licht erstrahlen lassen werde; nichts war sicher, als daß die Bücher hinter ihrer Stirn aufgehoben waren, daß die Bücher dort warteten, unaufgeschnitten, auf Käufer, die später einmal vorbeikommen mochten, die einen mit sauberen, andere mit schmutzigen Fingern.

Montag sah sich im Gehen ein Gesicht nach dem andern von der Seite her an.

"Beurteile ein Buch nicht nach dem Umschlag", sagte jemand.

Und alle lachten vor sich hin, während sie weiter flußabwärts zogen.

Ein Gellen in der Luft, und die Düsenflugzeuge aus der Stadt waren längst vorüber, ehe die Männer aufblickten. Montag sah zur Stadt zurück, weit oben am Fluß jetzt nur noch ein schwaches Glimmen.

"Meine Frau ist noch dort."

"Das tut mir aber leid", versicherte Granger. "Den Städten wird es in den nächsten Tagen nicht gut gehen."

"Es ist merkwürdig, ich vermisse sie nicht, es ist überhaupt merkwürdig, wie wenig Gefühl mir geblieben ist", bemerkte Montag. "Selbst wenn sie umkommt, fiel mir eben ein, werde ich ihr wohl nicht nachtrauern. Es ist nicht recht. Mit mir stimmt etwas nicht."

"Hör mal zu", sagte Granger, hakte sich bei ihm ein und ging neben ihm her, wobei er jeweils die Stauden zur Seite hielt, um ihn durchgehen zu lassen. "Als ich noch ein kleiner Junge war, starb mein Großvater, ein Bildhauer. Er war ein großer Menschenfreund gewesen. der viel Liebe an die Welt abzugeben hatte. Er hatte geholfen, mit den Elendsvierteln unserer Stadt aufzuräumen, er hatte Spielzeug für uns verfertigt und überhaupt im Laufe seines Lebens unendlich viel getan; immer mußten seine Hände etwas tun. Und als er starb, kam mir plötzlich zum Bewußtsein, daß ich nicht seinetwegen weinte, sondern all der Dinge wegen, die er getan hatte. Ich weinte, weil er sie nun nie mehr tat, nie mehr ein Stück Holz zurechtschnitzte oder uns bei der Aufzucht von Tauben half oder Geige spielte, so wie er es getan hatte oder uns Witze erzählte, so wie er. Er war wie ein Stück von uns, und als er starb, war all sein Tun wie abgeschnitten, und keiner war da, der für ihn hätte einspringen können. Er war unersetzlich, ein Mensch, der etwas bedeutet hatte. Ich habe es nie ganz verwunden. Noch jetzt denke ich oft, was für wunderbare Schnitzereien sind nie zustande gekommen, weil er starb. Wie viele Witzworte fehlen auf der Welt und wie viele Brieftauben, die nicht durch seine Hände gingen. Er gab der Welt Gestalt. Er hat auf sie eingewirkt. Die Welt ging unendlicher Wohltaten verlustig in jener Nacht, als er starb." Montag ging schweigend einher. "Millie, Millie", sagte er dann vor sich hin. "Millie."

"Wie?"

"Meine Frau, meine Frau. Die arme Millie. Ich weiß gar nichts mehr von ihr. Ich denke an ihre Hände, aber ich sehe sie nicht wie sie etwas tun. Sie hängen einfach leer herab, oder dann liegen sie in ihrem Schoß oder halten eine Zigarette, aber das ist alles."

Montag drehte sich um und schaute zurück.

Was hast du der Stadt gegeben, Montag?"

"Asche."

"Was haben die andern einander gegeben?"

"Nichts."

Selbander blieben sie stehen und schauten zurück. "Ein Mensch muß bei seinem Tod etwas dalassen, sagte mein Großvater. Ein Kind oder ein Buch oder ein Bild, ein Haus oder wenigstens eine Mauer, die er gebaut, oder ein Paar Schuhe, das er geschustert hat. Oder einen Garten, den er angelegt hat. Irgend etwas, das deine Hand anrührte, so daß deine Seele eine Bleibe hat, wenn du stirbst, und wenn die Leute den Baum oder die Blume, die du gepflanzt hast, anschauen, dann bist du da. Ganz gleich, was man tut, meinte er, solange man etwas von seinem eigenen Wesen in irgend etwas hineinsteckt. Darin liegt der Unterschied zwischen einem, der bloß den Rasen mäht, und einem wirklichen Gärtner. Der Rasenmäher könnte ebenso gut gar nicht dagewesen sein; der Gärtner wird ein Leben lang da sein."

Granger ließ ihn los. "Mein Großvater führte mir einst vor fünfzig Jahren ein paar V-2-Raketenfilme vor. Hast du je einen Atombombenpilz gesehen, aus einer Höhe von dreihundert Kilometern? Er ist nur ein Fliegenpunkt, ein Nichts. Mit der Wildnis ringsum.

Mein Großvater führte den V-2-Raketenfilm ein Dutzend Mal vor, in der Hoffnung, unsere Städte würden sich eines Tages entfalten und das grüne Land und die Wildnis mehr hereinlassen, um dem Menschen anschaulich zu machen, daß uns auf Erden nur wenig Raum zugeteilt ist, daß wir unser Leben inmitten dieser Wildnis fristen, die wieder einfordern kann, was sie uns abgetreten hat, die uns nur anzuhauchen oder das Meer zu schicken braucht, um uns zu bedeuten, wie klein wir sind. Wenn wir vergessen, wie nahe die Wildnis ist in der Nacht, sagte mein Großvater, dann wird sie eines Tages kommen und uns holen, weil wir keine Ahnung mehr haben, wie fürchterlich und wirklich sie sein kann. Siehst du?" Granger wandte sich ihm zu.

"Großvater ist seit Jahren tot, aber wenn man meine Schädeldecke abhöbe, bei Gott, in den Windungen meines Gehirns fände man deutlich die Rillen seines Daumenabdrucks. Er hat mich angerührt. Bildhauer war er, wie bereits bemerkt. "Was ich hasse", pflegte er zu sagen, "ist ein Römer namens Status Quo. Staunt euch die Augen aus dem Kopf", sagte er jeweils, "lebt, als hättet ihr nur noch zehn Sekunden zu leben. Seht euch die Welt an. Sie ist phantastischer als irgen ein fabrikmäßig hergestellter Traum. Verlangt keine Sicherheit, das hat es in unserer Tierwelt überhaupt nie gegeben. Und wenn es sie gäbe, gliche sie dem Faultier, das tagaus, tagein mit dem Kopf nach unten im Geäst hängt und sein Leben verschläft. Zum Teufel damit", sagte er, "schüttelt am Baum, daß das Faultier herunterpurzelt auf seinen breiten Hintern."

"Schau!" rief Montag.

Und in diesem Augenblick ging der Krieg an und zu Ende.

Später hätten die andern nicht sagen können, ob sie wirklich etwas gesehen hatten. Höchstens einen rasch aufzuckenden Schein am Himmel. Vielleicht waren dort die Bomben und die Düsenflugzeuge, fünfzehn Kilometer, zehn Kilometer, ein Kilometer hoch, den Bruchteil einer Sekunde, wie Körner, von einer gewaltigen Hand über den Himmel hingesät, und die Bomben fuhren mit furchtbarer Schnelle, und doch plötzlich verlangsamt, auf die dämmrige Stadt hinunter, die sie hinter sich gelassen hatten.

Eigentlich war die Verbombung schon geschehen, sobald die Flugzeuge ihr Ziel gesichtet und die Bomben ausgelöst hatten, bei einer Geschwindigkeit von siebentausend Stundenkilometern; rasch, wie der Schwung einer Sense, war der Krieg aus. War einmal aufs Knöpfchen gedrückt und die Bombenlast abgeworfen, sow ar auch schon alles vorbei. Volle drei Sekunden, eine Ewigkeit, ehe die Bomben einschlugen, waren die gegnerischen Flugzeuge einmal selber bereits wieder halb um die sichtbare Welt herum, wie Geschosse, an die ein Wilder wohl nicht glauben würde, da sie unsichtbar sind; und doch wird auf einmal das Herz zerschmettert, der Körper fällt auseinander, das Blut ist erstaunt, ins Freie zu gelangen; das Gehirn verschleudert seine paar kostbaren Erinnerungen und stirbt verständnislos.

Dies war nicht zu glauben. Es war lediglich eine Handbewegung. Montag sah eine mächtige Metallfaust über der fernen Stadt fuchteln und ahnte das Gellen der Düsenbomber, das hinterher kamm, wie um zu sagen: Zerfall, laß keinen Stein auf dem andern, stirb und verdirb!

In Gedanken, ohnmächtig die Hände emporreckend, hielt Montag die Bomben einen einzigen Augenblick am Himmel droben an. "Lauf!" schrie er Faber zu. Und zu Clarisse: "Lauf!" Zu Mildred: "Rette dich!" Clarrisse allerdings, fiel ihm ein, war schon tot. Und Faber war ja aus der Stadt heraus; irgendwo in der weiten Landschaft war der Fünf-Uhr-Bus unterwegs von einer Trümmerstätte zur anderen. Wenn auch die Vernichtung noch nicht stattgefunden hatte, noch in der Luft schwebte, war sie doch nach menschlichem Ermessen unabwendbar. Ehe noch der Bus auf der Landstraße fünfzig Meter weiter war, hatte sein Bestimmungsort keinen Sinn mehr, und sein Abgangsort war aus einer Weltstadt zu einem Schutthaufen geworden.

Und Mildred...

 Rette dich, lauf!

Er sah sie vor sich, in ihrem Hotelzimmer irgendwo, in der halben Sekunde, die noch verblieb, die Bomben ein Meter, einen halben Meter, ein paar Zentimeter von dem Gebäude entfernt. Gegen die großen schimmernden Wände, so bunt und so belebt, sah er sie geneigt, die Wände, auf denen die Familie zu ihr redete und redete und redete, die Wände, auf denen die Verwandtschaft plauderte und plapperte und ihren Namen nannte und ihr zulächelte und nichts sagte von der Bombe, die ein paar Zentimeter, jetzt noch ein Zentimeter, jetzt ein halber Zentimeter vom Dach den Hotels entfernt war. In die Wand versenkt sah er sie, als könnte ihr Schaubedürfnis dort den Grund ihrer Ruhlosigkeit finden. Gierig und gespannt in die Wand versenkt, als wollte Mildred sich in dieses wimmelnde Meer von Farben stürzen und in seinem grellen Glück untergehen.

Die erste Bombe schlug ein.

"Mildred!"

Vielleicht, wer konnte das je wissen, vielleicht waren es die großen Rundfunksender mit all ihrer ausgestrahlten Buntheit und Beredsamkeit, die als erste verstummten.

Während es ihn hinwarf, sah oder fühlte Montag, oder glaubte wenigsten zu sehen oder zu fühlen, wie die Wände sich vor Millies Nase verdunkelten, er hörte ihren Aufschrei, als sie in dem unendlichen kleinen Bruchteil an Zeit, ehe alles zu Ende war, ihr eigenes Gesicht widergespiegelt sah, und es war ein so verzweifelt leeres Gesicht, als einziges im ganzen Zimmer, ohne Zusammenhang mit irgend etwas, ausgehungert und von sich selber zehrend, daß sie es zuletzt als das ihre erkannte und rasch aufschaute zur Decke, als diese mit dem ganzen Bauwerk darüber auf sie herabgestürzt kam und sie in einer Masse von Stein, Stahl Gips und Holz mit den Leuten in den Schlägen untendran zusammenbrachte, alle eiligst unterwegs in den Keller hinunter, wo die Sprengwirkung sich ihrer bedenkenlos entledigte.

Ich weiß es wieder. Montag lag flach auf dem Boden.

Ich weiß es wieder. Chicago. Chicago, vor langen Jahren. Millie und ich. Da haben wir uns kennengelernt! Jetzt weiß ich es wieder. Chicago. Vor langen Jahren.

Der Luftdruck fegte über den Fluß und diesen entlang und legte die Männer um wie eine Reihe Dominosteine, schleuderte die Gischt empor und wirbelte den Staub auf und hinterließ in den Baumkronen ein Stöhnen, als der Wind nach Süden abstrich. Montag krallte sich am Boden an, preßte sich zusammen, die Augen fest geschlossen. Ein einziges Mal zwinkerte er. Und in diesem Augenzwinkern sah er die Stadt, statt der Bomben, in der Luft. Sie hatten den Platz gewechselt. Einen unwahrscheinlichen Augenblick lang stand die Stadt, neu erbaut und unkenntlich, höher als sie je hatte sein wollen, höher als der Mensch sie gebaut hatte, letzten Endes aus Klumpen von zertrümmertem Beton und Funken von zerissenem Stahl aufgeschichtet zu einem Fresko, das wie eine umgekehrte Lawine herabhing, kunterbunt und kraus durcheinander, mit einer Türe, wo ein Fenster hätte sein sollen, einem Dach an Stelle des Bodens, einer Vorderseite, wo die Rückseite hingehörte, und dann sackte die Stadt zur Seite und fiel tot zusammen. Das Todesröcheln kam erst später.

Montag lag da, die tränenden Augen verklebt, den Zement des Staubes im Mund, der jetzt zu war, und dachte atemlos: Ich weiß es wieder, ich weiß es wieder, und noch etwas anderes weiß ich auch wieder. Was war es nur? Doch, doch, ein Teil des Predigers Salomo und der Offenbarung. Ein Teil jenes Buches, ein Teil davon, rasch jetzt, rasch, ehe es vergeht, ehe der Schrecken verfliegt, ehe der Wind einschläft. Der Prediger Salomo. Also doch. Er sagte sich die Worte innerlich vor, dicht an die bebende Erde geschmiegt, er wiederholte den Text viele Male, und der Wortlaut war da, ohne daß er sich mühte, und nirgends kam etwas von Zanders Zahnpasta darin vor, es war nur der Prediger ganz allein, der da innerlich vor ihm stand und ihn anschaute...

"Na also", sagte eine Stimme.

Japsend wie Fische auf dem Trockenen lagen die Männer da. Sie klammerten sich an die Erde, wie Kinder sich an wohlvertraute Dinge klammern, einerlei, wie kalt oder tot, einerlei, was geschehen ist und noch geschehen wird. in den Dreck verkrallt, und alle schrien sie laut, um das Trommelfell vor dem Zerbersten zu bewahren, mit offenem Mund. Montag schrie mit, aufbegehrend gegen den Wind, der ihnen an den Lippen zerrte und Nasenbluten verursachte.

Dann sah Montag zu, wie der Staub sich setzte und eine große Stille sich auf ihre Welt herabsenkte. Er lag da und ihm war, als sehe er jedes einzelne Staubkorn und jeden Grashalm und höre jeden Laut, jedes Raunen jetzt auf der Welt. Stille senkte sich herab mit dem Staubgeriesel und all der Muße, die sie wohl brauchten, um sich umzusehen und die Wirklichkeit dieses Tages in ihre Sinne aufzunehmen.

Montag sah nach dem Fluß. Wir werden den Fluß hinauffahren. Er sah nach den alten Bahngleisen. Oder wir gehen dort entlang. Oder vielleicht gehen wir jetzt auf den Landstraße, und wir werden Zeit haben, uns die Dinge einzuverleiben. Und eines Tages, wenn sich inwendig alles gründlich gesetzt hat, geht es vielleicht aus den Händen oder aus dem Mund wieder hervor. Und eine Menge wird falsch sein, aber gerade genug davon wird richtig herauskommen. Heute ziehen wir einfach weiter, um zu sehen, wie die Welt aussieht. wie sie geht und steht. Alles will ich jetzt sehen. Wenn es in mich hineingeht, gehört zwar noch nichts davon zu mir selbst, aber nach einiger Zeit schließt sich inwendig alles zusammen, und dann gehört es zu mir selbst. Schau dir die Welt dort draußen an, du mein Gott, schau sie dir an dort draußen, vor deiner Nase, und die einzige Möglichkeit, überhaupt an sie heranzukommen, ist, sie dorthin zu tun, wo sie schließlich zu mir gehört, zu meinem eigenen Fleisch und Blut. Ich will sie mir aneignen, daß sie mir nie wieder entrinnt. Ich will sie mir einverleiben, mit einem Finger rühre ich bereits daran, das ist ein Anfang.

Der Wind legte sich.

Die andern blieben noch liegen, am morgendlichen Rand des Schlafes, nicht gewillt, sich schon zu erheben und den Alltagspflichten nachzugehen, dem Feuermachen und Nahrungsuchen, der tausendfachen Nötigung, einen Fuß vor den andern zu setzen und eine Hand über die andere. Sie lagen da und zwinkerten mit betäubten Lidern. Man konnte sie atmen hören, erst rasch, dann langsamer, dann langsam...

Montag richtete sich auf.

Weiter rührte er sich jedoch nicht. Die andern taten desgleichen. Am schwarzen Horizont schob sich ein dünner roter Streif hervor. Die Luft war kalt, etwas darin verhieß Regen.

Schweigend stand Granger auf, befühlte Arme und Beine, wobei er vor sich hinfluchte, ständig leise vor sich hinfluchte. Tränen tropften ihm vom Gesicht. Er schlurfte ans Ufer hin, um flußabwärts zu schauen.

"Alles flach", sagte er nach langer Zeit. "Die Stadt sieht aus wie ein Haufen Backpulver. Alles weg." Und wiederum nach langer Zeit: "Wie viele haben es wohl kommen sehen? Wie viele wurden wohl überrascht?"

Und in der ganzen weiten Welt, dachte Montag, wieviel ander Städte waren wohl tot? Und hier in unserm Land, wie viele? Hundert, tausend?

Jemand riß ein Streichholz an und hielt es an ein Stück trockenes Papier aus seiner Tasche und schob es unter etwas Gras und Laub, und nach einer Weile tat er dünne Zweige dazu, die feucht waren und sprühten, aber schließlich doch Feuer fingen, und das Feuer wurde größer in der Morgenfrühe, als die Sonne heraufkam und die Männer sich allmählich vom Anblick flußaufwärts trennten, vom Feuer angezogen, sprachlos und befangen, und die Sonne rötete ihnen das Genick, wie sie sich darüber bückten.

Granger wickelte etwas Speck aus einer Ölhaut. "Wir wollen etwas essen. Dann machen wir kehrt und gehen flußaufwärts. Man wird uns dort brauchen."

Jemand kramte eine kleine Bratpfanne hervor, der Speck kam hinein, und die Pfanne wurde über das Feuer gestellt. Bald begann der Speck zu brutzeln und zu hüpfen und erfüllte die Luft mit seinem Aroma. Schweigend sahen die Männer der feierlichen Handlung zu.

Granger blickte ins Feuer. "Phönix."

"Wie?"

"So ein alberner Vogel, ein sogenannter Phönix, den es früher mal gab: alle paar Jahrhunderte baute er sich einen Scheiterhaufen und verbrannte sich selber. Muß ein naher Verwandter des Menschen gewesen sein. Aber jedesmal, wenn er sich verbrannte, entsprang er neugeboren wieder aus der Asche. Es hat den Anschein, als machten wir es ebenso, immer wieder, nur in einem sind wir dem Phönix voraus. Wir wissen, was wir da eben für einen Stumpfsinn angestellt haben. Wir wissen alles, was wir seit tausend Jahren an Stumpfsinn angestellt haben, und solange wir das wissen und es uns immer wieder zu Gemüte führen, besteht die Hoffnung, daß wir eines Tages doch einmal aufhören, diese verdammten Scheiterhaufen zu errichten und mitten hinein zu springen. Im Laufe der Zeit sind es immer wieder ein paar Leute mehr, die sich erinnern."

Er nahm die Bratpfanne vom Feuer und ließ den Speck verkühlen, und dann aßen sie, langsam, bedächtig.

"Gehen wir flußaufwärts", sagte Granger. "Und haltet eines fest: Ihr seid nicht wichtig. Ihr seid überhaupt nichts. Vielleicht wird das, was wir mit uns herumschleppen, eines Tages jemand etwas nützen. Aber auch damals, als wir die Bücher noch zur Hand hatten, machten wir keinen Gebrauch von dem, was wir darin fanden. Wir fuhren fort, die Toten zu beleidigen. Wir fuhren fort, all den Bedauernswerten, die vor uns gestorben waren, ins Grab zu spucken. Im Verlauf der kommenden Woche werden wir eine Menge einsamer Menschen treffen, und den ganzen nächsten Monat und das ganze nächste Jahr. Und wenn man uns fragt, was wir eigentlich tun, könnt ihr sagen: "Wir erinnern uns." Damit werden wir uns auf die Dauer durchsetzen. Und eines Tages erinnert sich der Mensch an so viel, daß er den größten Bagger aller Zeiten herstellt und das größte Grab aller Zeiten aushebt und den Krieg hineinbefördert und das Ganze zuschüttet. Auf jetzt, zuerst gehen wir und bauen eine Spiegelfabrik und stellen ein Jahr lang nichts als Spiegel her, um uns ausgiebig darin zu betrachten."

Sie beendeten ihr Mahl und traten das Feuer aus. Ringsum wurde es heller, als habe man in einer rosaroten Ampel den Docht verlängert. Auf den Bäumen fanden sich die Vögel wieder ein, die vorher weggeflogen waren.

Montag setzte sich in Bewegung, und nach einer Weile bemerkte er, daß die andern hinterher kamen. Er war überrascht und trat beiseite, um Granger vorangehen zu lassen, aber dieser sah ihn an und bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, er möge weitergehen. Montag ging voran. Er betrachtete den Fluß und den Himmel und das rostige Geleise, das aufs Land hinausführt, wo die Bauernhöfe standen und die Scheunen voll Heu, das Geleise, auf dem schon eine Menge Leute gegangen waren auf ihrem Weg aus der Stadt heraus. Später, in einem Monat oder in sechs Monaten, auf jeden Fall aber, ehe noch ein Jahre herum war, wollte er wieder hier des Weges kommen, allein, und unerschrocken weiterwandern, bis er die Leute eingeholt hatte.

Doch jetzt hatten sie einen langen Vormittag zu marschieren, und wenn die Männer stumm blieben, kam es daher, weil es über alles nachzudenken und vieles im Kopf zu behalten galt. Vielleicht später, wenn die Sonne hoch am Himmel stand und sie erwärmt hatte, kam es dann dazu, daß sie anfingen zu sprechen, oder einfach zu sagen, woran sie sich erinnerten, um sicher zu sein, daß alles noch da war, daß alles gut aufgehoben war. Montag fühlte, wie Worte sich in ihm zu regen begannen, ein sachtes Brodeln. Und wenn dann die Reihe an ihn kam, was konnte er sagen, was konnte er an einem Tage wie diesem mitteilen, um den Marsch etwas zu erleichtern? Alles hat seine Zeit. Gewiß. Alles hat seine Stunde, brechen und bauen, schweigen und reden. Gewiß, alles das. Aber was sonst noch? Was sonst? Irgend etwas Bestimmtes...
    "Und auf beiden Seiten des Stromes stand ein Baum des Lebens, der trug zwölfmal Früchte und brachte seine Früchte alle Monate; und die Blätter des Baumes dienten zur Heilung der Völker."
Ja, dachte Montag, das will ich mir für die Mittagsstunde aufheben. Für die Mittagsstunde...

Wenn wir zur Stadt kommen.
LITERATUR - Ray Bradbury, Fahrenheit 451, Zürich 1955