p-3cr-2von HartmannW. TatarkiewiczWG PetschkoW. DiltheyNorström    
 
M. NEMO
Logik des Alltags

"Der naive Realismus ist ein metaphysisches System, d.h. ein Komplex von Ansichten, der die Dinge-ansich zur Ursache unserer Empfindungen macht."

In der Alltagslogik, mit anderen Worten im  gesunden Menschenverstand,  werden Worte in der Regel ohne viel Nachdenken für die wirkliche Welt genommen. Jeder Mensch lernt die automatische Verwendung der Wörter bereits als Kind. Kinder setzen mit der größten Selbstverständlichkeit Wort und Sache gleich. Sie glauben, jedes Ding hat seinen  richtigen  Namen. Mit der allmählichen Gewöhnung an einen derartigen Gebrauch der Sprache erübrigen die Leute dann auch im späteren Leben für die möglicherweise konkreteren Bedeutungen der Dinge und ihre Zusammenhänge kaum noch Aufmerksamkeit und machen in ihrem Verstand nur noch weit gefassten Verallgemeinerungen Platz. Wer so denkt, unterscheidet nicht mehr zwischen einer hohen Abstraktionsstufe und solchen semantischen Ebenen, die sich auf die Befriedigung eines unmittelbaren Interesses beziehen. In einer solchen Welt ist alles gleich wichtig oder eben gleich unwichtig.

Es gibt kaum jemanden, der sich unter den herrschenden  Erziehungsbedingungen vom einmal erlernten Sprachgebrauch - und der damit verbundenen schlampigen Logik - wirksam zu emanzipieren vermag und die herrschenden Erziehungsmethoden tun ein Übriges dazu, um diesen Zustand in seiner logischen Bedeutungslosigkeit zu belassen. Die meisten Menschen bewegen sich mit ihren Gedanken im Reich der Hypothesen und Spekulationen und wähnen sich dabei - mit einem oft erstaunenswerten Selbstbewußtsein - in der Wirklichkeit. Die, je nach Gemütslage, heile oder angstvolle Welt dieser naiven Realisten muß als eine unreife Welt betrachtet werden, die auch im Erwachsenenalter im Grunde eine Kinderwelt bleibt. In Illusionen verfangen liebäugeln solche Leute mit einer idealen Welt-ansich oder verzweifeln an ihr.

Die  natürliche  Weltsicht gleicht der eines Tieres. Es kommt im Grunde nur auf die Befriedigung der materiellen Interessen an, so daß auch geistige Regungen danach beurteilt werden, ob sie das körperlich-seelische Befinden verbessern oder nicht. Unliebsame Gedanken werden einfach ignoriert, ohne daß sich an einem solchen Verhalten logische Widersprüche bemerkbar machen. Unter dem Begriff der Alltagswelt läßt sich eine Einstellung verstehen, die zwar grob, ungenau, vereinfacht bis entstellt ist, aber eben als praktisch bequem empfunden wird. Außerdem trägt das übliche Durcheinander von Expertenmeinungen einen erheblichen Teil dazu bei, daß die Sphäre des theoretisch-abstrakten und unglaubwürdig und irrelevant für das eigene Dasein erlebt wird.

In einem Lebenskreis, der ausschließlich von alltäglichen Gewohnheiten bestimmt ist, regiert die Selbstverständlichkeit.Das Selbstverständliche pflegt am wenigsten gedacht zu werden. Wird diese Fraglosigkeit plötzlich durch ein unvorhergesehens Ereignis erschüttert, tut sich nicht selten ein Abgrund von Unklarheiten auf, vor dem man nur noch kapitulieren kann.

Wer nur gelernt hat, praktisch zu denken, kann sich nur ein gewisses Maß an Nachdenklichkeit erlauben. Darüber hinaus wäre er nicht mehr handlungsfähig. Die alltägliche Konversation erschöpft sich deshalb in Gemeinplätzen sichert so eine Welt, in der sich seit ewigen Zeiten derselbe, unveränderbare Kreislauf wiederholt. Weil jeder im Grunde nur unpersönliche Meinungen von sich gibt und mehr oder weniger nachplappert, was er oder sie irgendwo gehört hat, ist es möglich, daß der größte Unfug geglaubt und als typische Erscheinung als gesellschaftlich bewährt erlebt wird. Die Sicherheit des materialistischen Verstandes ist die Sicherheit der Allgemeinheit der Vorstellungen. Gemeinplätze wie die Notwendigkeit der Nahrung oder Kleidung, das Bedürfnis nach Wohnung und sexueller Betätigung erhalten den Rang tiefgründiger Wahrheiten, die sich allein durch ihr massenhaftes Auftreten rechtfertigen. Allgemeinbegriffe und Pauschalisierungen immunisieren den eigenen Verstand gegen jeden gründlicheren Zweifel, denn wo keine größeren Unterschiede gemacht werden, kann man auch die menschliche Skepsis als sinnlosen Antrieb auffassen, der letztlich zur Resignation treibt und in die Depression führt. Konfliktlosigkeit wird allein dadurch erreicht, daß gewisse Unterschiede nicht mehr gemacht werden und niemand begreift mehr, daß ein solches Vorgehen keinen prüfbaren Grund mehr hat und allein auf Ignoranz beruht. In alltäglicher Befangenheit neigen solche Leute dazu, eine Wirklichkeit zu erfinden, die ihnen in den Kram paßt ohne zu bemerken, daß sie nach Lust und Laune unterschlagen, was ihnen unangenehm ist. In der Allgemeinheit ihrer Vorstellungen werden sie von der Sprache gesprochen und von ihrem Wissen gedacht.

Die Abbildtheorie des Denkens, wonach der menschliche Verstand in seinen logischen Formulierungen etwas Wirkliches repräsentiert, waren noch vor hundert Jahren unter vielen Wissenschaftlern verbreitet und sogar heutzutage möchte man glauben, daß der Absolutismus einer objektiven Weltsicht, in der das eigene Dafürhalten keinen logischen Wert hat, trotz Einstein weiterhin fröhliche Urstände feiert, wenn man die öffentlichen Verlautbarungen der sogenannten Leistungseliten dieser Welt hört. Überall wird eine rationale Welt vorgegaukelt, die sich prinzipiell in jeder Einzelheit berechnen läßt und fast ist man schon versucht zu glauben, daß die Wissenschaft die Welt vor Finanzkrisen und ähnlichem Unheil retten kann. Dies alles spielt sich auf dem geistigen Boden kollektiver Dummheit ab und ist nur möglich, weil die Masse der Bevölkerung nicht über den nötigen Verstand verfügt, grundlegende Unterscheidungen zwischen Wissen und Wollen vorzunehmen.

Wer sich nur ein wenig für die Ungereimtheiten seiner Zeit interessiert, wird bald feststellen, daß es zu allen Zeiten kritische Tendenzen gegeben hat, in der die herrschenden Ansichten in Frage gestellt wurden. Was heute auf dem Prüfstand steht, ist die die Vorstellung einer Welt, die für alle Individuen gleichermaßen und mit zwingender Logik als gültig anzusehen ist. Dieser Konflikt wurde um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert auf den verschiedensten Ebenen der Universitätsbetriebe zum Ausdruck gebracht, ist aber bis zum heutigen Tag nicht mit den erforderlichen Konsequenzen gelöst. Der Relativismus Einsteins ist dabei nur eine sehr bekannt gewordene Variable dieses Umbruchs, der sich in einem prinzipiellen Methodenstreit um die Möglichkeit wissenschaftlicher Wahrheit bis in das 21. Jahrhundert geschleppt hat, ohne dabei auch nur den geringsten Sinneswandel in der breiten Bevölkerung zu bewirken. Was sich feststellen läßt, ist lediglich eine zunehmende Beliebigkeit der Ansichten und immer mehr moralische Verkommenheit, die als Pragmatismus und teuflisches Konkurrenzdenken hoffähig geworden ist.

Die Ansichten der breiten Masse beruhen weiterhin auf überholten Denkmodellen, die keiner kritischen Prüfung standhalten und deshalb muß das öffentliche Geschrei um mehr Bildung, das nun schon viele Jahrzehnte anhält, eher als geschicktes Täuschungsmanöver verstanden werden, um die politische Macht glaubwürdig zu erhalten, als ein aufrichtiger Versuch, die geistige Verfassung der breiten Bevölkerung in ihrem Niveau zu heben. Im Grunde ist aus dem Kreis der finanziell und politisch Herrschenden niemand daran interessiert, das Denken der großen Masse ohne ideologische Vorbehalte aufzuklären, weil man befürchtet, daß das gesellschaftliche Gefüge fundamental in Frage gestellt wird. Damit haben diese Leute gar nicht so unrecht, denn sobald unter Bildung nicht nur die Produktion von Arbeitskräften für die Wirtschaft verstanden wird, sondern Ziele verfolgt werden, wie sie im Wertekatalog der Verfassung zur Sprache kommen, werden die üblichen Erklärungen und Legitimationen, mit denen jetzt noch willkürliche Privilegien durchgehen, nicht mehr so ohne weiteres akzeptiert werden.

Der naive Realismus der breiten Bevölkerung läßt sich mit etwas gewählteren Worten als eine Ideologie bezeichnen, die ihren logischen Grund in der Auffassung der klassischen griechischen Logik hat, so sie von Aristoteles übermittelt wurde.ARISTOTELES war überzeugt, daß die Wahrnehmung nur Qualitäten liefert. Für ihn konnte die Logik ein getreues Bild der Wirklichkeit geben, so daß die menschlichen Sinne eine Art inneres Bild entwerfen, das eine getreue Nachbildung der Wirklichkeit sein soll. Auf dieser Linie lag auch DESCARTES, dem die Möglichkeit beweisbaren Wissens über jeden Zweifel erhaben war.
"... dass ich jetzt hier bin, dass ich, mit meinem Winterrock angetan, am Kamin sitze, dass ich dieses Papier mit meinen Händen betaste und ähnliches; vollends dass die Hände selbst, dass überhaupt mein ganzer Körper da ist, wie könnte man mir das abstreiten? Ich müsste mich denn mit ich weiss nicht welchen Wahnsinnigen vergleichen..."(1)
Auch NEWTON faßte die sinnlich wahrnehmbaren Größen als materielle Körper auf, Farben waren ihm dem Licht anhaftende physikalische Eigenschaften. Im sogenannt gesunden Menschenverstand wird davon ausgegangen, daß sich alle Begriffe letzten Endes auf wirkliche Einzelwesen beziehen und zwar so, daß diese 1:1 abgebildet, repräsentiert, erklärt, bezeichnet, usw. werden. Der klassisch gebildete Alltagsmensch geht von der Anschauung aus, die ihm  natuerlich  ist: dem Bewusstsein der unmittelbaren Gegenwart des Objekts in der Wahrnehmung der Sinne. Wenn er ein Foto in der Hand hält, glaubt er an die Wirklichkeit der darauf abgebildeten Dinge. Dieses sinnliche Bewusstsein kennt keinen Unterschied zwischen Wahrnehmung und Gegenstand, es weiss nur vom Gegenstand und nicht von seiner Wahrnehmung. Sie glauben nur, was sie sehen.

Die Anschauung der Sinne ist bei diesen Leuten in der Regel nach aussen gerichtet und hat keinen Fokus auf die eigene seelische und geistige Innerlichkeit. Wahrnehmung und Ding werden identifiziert, ohne daß die geistigen Prozesse klar werden, die sich bei einem solchen Vorgang abspielen. Man hält unerschütterlich an der Überzeugung fest, daß alles, was der Sinnesapparat meldet, wirklichen Gegebenheiten einer außersubjektiven Welt entspricht. Im Grunde ihres Herzens glauben diese naiven Gemüter wahrscheinlich immer noch nicht, daß sich die Erde um die Sonne dreht, weil die unmittelbare Sinneserfahrung ja ein ganz anderes Zeugnis gibt.

Es wird also höchste Zeit, daß die Überzeugung von der objektiven Qualitaet der Sinnesempfindungen auf den Misthaufen der Geschichte wandert und zwar nicht nur im Verstand von einigen auserwählten Leistungsträgern, sondern auch im Bewußtsein aller anderen Erdenbürger. Es gibt nichts Sichtbares oder Fühlbares überhaupt, weil es kein Sehen oder Fühlen überhaupt gibt. Die Vorstellung irgendeiner Sache "ansich" ist ein Umstand, mit dem sich nur noch Psychiater beschäftigen sollten bei der Behandlung von kollektivem Wahnsinn.
"Unsere Sinne haben enge Wahrnehmungsgrenzen, so daß wir ständig Instrumente wie Mikroskope, Teleskope, Tachometer, Stethoskope und Seismographen benützen muessen, um die Vorgänge entdecken und aufzuzeichnen, die unsere Sinne nicht unmittelbar wahrnehmen können. Es ist deshalb absurd zu glauben, dass wir jemals etwas wahrnehmen,  wie es wirklich ist." (2)
Ein Ding ist weiter gar nichts, als eine konstante Summe von Empfindungen im jeweiligen Bewußtsein. Es gibt keine Farben und Töne, sondern nur Farbsehende und Tonhörende.  Was  gesehen wird, hängt davon ab,  wie  jemand sieht. Töne sind keine Luftschwingungen, sondern Produkte eines ganz spezifischen Sinnesapparates. Naive Realisten dagegen glauben, daß das Gras grün ist und es wird Zeit, daß sich ein Großteil der Menschheit vom anthropomorphen Größenwahn verabschiedet, nach dem ein grünes Blatt ansich und nicht nur für das Auge des Betrachters grün ist. Die Farbe ist keine Eigenschaft des Gegenstandes, sondern eine optische Deutung. Die Farbe  blau  z.B. läßt keine Beschreibung zu, dasselbe gilt von allen anderen Farben. Was für Farbe und Geschmack gilt, gilt auch von Ausdehnung und Festigkeit und es gilt auch von der Substanz: Alles existiert nur im wahrnehmenden Geist.
"Die Empfindungsqualitäten gehören als solche sicherlich allein dem Bewußtsein an, durchaus nicht dem Nervensystem. Wenn ich einen bitteren Geschmack empfinde oder einen lauten Ton höre, so sind nicht meine Nerven bitter oder laut."(3)

"Nicht die Körper zeugen Empfindungen, sondern Empfindungskomplexe bilden die Körper."(4)

"Hätten wir keinen anderen Sinn, als das Gehör, so würde alle Erfahrung in Tönen bestehen."(5)
Ein Mensch mit natürlichem Bewußtsein meint z.B. auch, den Schmerz unmittelbar da wahrzunehmen, wo er sich seinen eigenen Empfindungen gemäß bemerkbar macht, während sich der Vorgang nur im Gehirn abspielt. Auch das Sehen findet nicht im Auge statt, sondern im Gehirn. Der Sehakt ist im tiefsten Sinne mental. Die Wahrnehmung ist kein Sehen, sondern bereits ein unbewußtes Schließen. Was gewöhnlich Aussenwelt genannt wird, ist in Wahrheit das Ergebnis eines komplexen psychologischen Prozesses, in dem geurteilt wird, ohne daß dieser Vorgang explizit bewußt wird. Niemand sieht einen Hammer oder einen Baum. Gesehen werden einzelne Bestandteile wie der Stiel oder die Klaue, der Stamm oder die Äste. Die periphere Retina empfängt viel mehr Informationen, als ins Bewusstsein gelangen, was die meisten Leute aber nicht daran hindert zu glauben, einen Hammer oder einen Baum oder sonstwas zu sehen.  Vieles von dem, was in der medialen Diskussion als logische Notwendigkeit erscheint und als Sachzwang an die breite Masse "verkauft" wird, ist nur auf der Basis natürlicher Anschauungen möglich, in welcher der subjektive Anteil im Wahrnehmungsprozess prinzipiell ignoriert wird. Eine derartige Manipulation der öffentlichen Meinung und wäre nicht mehr vorstellbar, wenn einem Großteil der Bevölkerung klar wäre, daß so manche objektive Wahrheit viel mehr einer persönlichen Anschauung entspringt, als auf allgemeingültigen Tatsachen beruth.

Wahrnehmungen müssen in der Folgerichtigkeit der Vermittlung eines konzeptuellen Schemas betrachtet werden, die diesen vorgeordnet ist. Schon allein der Wahrnehmungsprozess ist ein Akt logischer Typisierung. Die einfachste Perzeption ist kategorial vorgeformt. Beobachtungen sind immer schon Interpretationen. Das einfachste Beobachten ist denkstilbedingt. In jeder Wahrnehmung wird mit einer nützlich-pragmatischen Perspektive operiert. Es gibt keine uninterpretierten Tatsachen, was nicht anderes heißt als: es gibt keine Tatsachen.

Die Wahrnehmung ist nichts wirkliches, sondern ein Produkt des verarbeitenden Verstandes und gleichzeitig in hohem Maß eine Funktion der sprachlichen Kategorien, die dem Wahrnehmenden zur Verfügung stehen. Mit natürlichem Verstand neigen die Leute dazu, Dinge zu beobachten, deren Namen sie ohne weiteres kennen und alles andere mehr oder weniger zu übersehen. In diesem Sinne produzieren Sprachgewohnheiten die Wahrnehmung. Und so sind auch die sogenannten Strukturen der Materie eher so etwas wie Spiegelungen  der Struktur des beobachtenden Bewußtseins.

Naturgesetze gelten immer nur in einem abgrenzten Bereich und fußen auf Voraussetzungen, die nicht ohne willkürliche Zwecksetzung auskommen. Was als  Wissen  behauptet wird, ist immer nur praktisch, d.h. es kommt lediglich darauf an, ein bestimmtes Bedürfnis zu befriedigen und deshalb sollte man in solchen Fällen auch nicht von Wahrheit oder Erkenntnis sprechen. Es ist ein kindlicher Realismus, der als  Wissen  erscheinen läßt, was nur geglaubt wird. Der ungebildete Mensch glaubt an die  Wirklichkeit  wie er an die  Politik,  die  Wissenschaft,  oder an oekonomische Verhältnisse glaubt. Dieser Glaube unterscheidet sich nicht wesentlich von einem religiösen Glauben an einen Gott.

Die üblichen Weltbilder setzen sich zusammen aus Objektivierungen, Rationalisierungen und Abstraktionen. Was als ganz konkret wahrgenommen geglaubt wird, ist bereits ein logisches und gedachtes Gebilde. Empfindungen werden dauernd instinktiv objektiviert. Auf diese Weise wird das, was urspruenglich Empfindung war, eine  Qualitaet  des Gegenstandes: der Gegenstand  ist  dann zum Beispiel rot oder sonstwas. Der naive Realismus ist ein metaphysisches System, d.h. ein Komplex von Ansichten, in dem die Dinge-ansich zur Ursache von Empfindungen gemacht werden.
"Gewöhnlich müssen wir etwas begreifen koennen, um seiner Existenz sicher zu sein. In der Richtung dieses  Begreifen-Wollens  liegt diese  Substanzialisierungstendenz  des objektiven Denkens, der zufolge wir alles, was existiert als Existieren einer  Substanz  denken müssen. Die  Substanz  ist aber keine Seins- sondern eine Denknotwendigkeit."(6)"

Das Rot scheint uns der Rose viel unmittelbarer eigen zu sein als ihr Duft; wir sagen daher aktiv: die Rose duftet, sie verbreitet Wohlgeruch, nicht sie  ist  Duft, wie wir sagen: sie ist rot." (7)
Der Wortrealismus ist deshalb eine Überschätzung der Logik, d.h. der Aberglaube an die Substanzialität der abstrakten Begriffe.
"Im täglichen Leben können wir gerade das Haften an solchen Abstraktionen, das Blindwerden bei Menschen beobachten, die auf das abstrakte Denken schelten, die wenig denken, aber immerfort ihre gewohnten Abstraktionen für die Wirklichkeit halten."(8)
Es kann leicht festgestellt werden, dass etwas nicht notwendigerweise zu jeder Zeit die immer gleichbleibenden Qualitäten haben muß.
"Dieser jetzt ausgewachsene Hund ähnelt z.B. kaum dem, was er vor vier Jahren war; dennoch betrachten wir ihn als  denselben  Hund. Von einem Tisch hat man die roten Farbe abgekratzt und ihn schwarz gestrichen; dennoch tragen wir kein Bedenken zu behaupten, dass es noch derselbe Tisch ist. Im Fall des Hundes sehen wir sehr wohl ein, wie wir zu dieser Überzeugung kommen. Die Menschen - das weiss ich von mir selbst, das fühle ich unmittelbar - versuchen ihre Identität trotz tiefgehender Veränderungen zu behalten. Ich erinnere mich noch ungefähr, wie ich mit zehn Jahren ausgesehen habe, und ich zögere nicht zu erklären, dass  ich  dieser kleine Junge war. Ich könnte eines Tages durch eine Krankheit oder einen Unfall vollkommen entstellt werden; aber ich werde immer ich bleiben. Mit anderen Worten: wenn ich glaube, dass der Hund derselbe ist, wie vor vier Jahren, so heisst das, dass ich überzeugt bin, er sei ein  Subjekt,  ungefähr wie ich selbst eines bin. Mit einem Tisch verhält es sich fast ebenso.

Bei flüchtigem Hinsehen erscheint uns der Gegenstand tatsächlich als derselbe, als identisch mit dem, was er früher war, und erst wenn wir ihn genauer betrachten, bemerken wir die kleinen Unterschiede, die entstanden sind: der Hund ist dicker geworden, die Politur des Tisches ist nicht mehr so frisch. Auf jeden Fall existiert die Überzeugung von der substanziellen Identität auch in Bezug auf die unbeseelten Gegenstände. Nur ist sie schwankend, denn in diesem Falle haben wir kein sicheres Kennzeichen mehr. Welche Änderungen kann ich zulassen, ohne dass ich aufhoeren muss zu erklären, dass der Tisch derselbe geblieben ist? Ich wäre sehr in Verlegenheit, wenn ich sie angeben sollte. Aber mehr oder weniger unbewusst teile ich die Qualitäten des Tisches in wesentlichere, z.B. die Farbe und die Tatsache, dass er auf Rollen läuft. Wenn ich bei der Untersuchung des Tisches finde, dass ein Kratzer, den ich früher auf der Platte bemerkt habe, nicht mehr vorhanden ist, so werden mir Zweifel über die Identität des Tisches kommen."(9)
Ein Tisch ist also nichts anderes, als ein Komplex derjenigen Sinnesempfindungen, die mit dem Wort Tisch verbunden werden. Werde alle Sinnesempfindungen weggenommen, so bleibt nichts übrig. Daß das, was ich sehe ein Tisch ist, kann niemals vollständig durch die Angabe seiner wahrnehmbaren Eigenschaften gerechtfertigt werden. Die Frage, was ein Tisch  in Wirklichkeit  ist, also "ansich" ist, hat gar keinen Sinn. Und so ist es mit allen physikalischen Begriffen auch. Die ganze umgebende Welt ist nichts anderes, als der Inbegriff der Erlebnisse, die jemand von ihr hat und kein Gegenstand eines beweisbar allgemeingültigen Wissens. Ohne ein Bewußtsein hat die Umwelt keine Bedeutung. HELMHOLTZ meint daher,
"dass es gar keinen Sinn haben kann von einer anderen Wahrheit unserer Vorstellungen zu sprechen, als von einer  praktischen. Unsere Vorstellungen von den Dingen  können gar nicht anders sein, als Symbole, natuerlich gegebene Zeichen fuer die Dinge, welche wir zur Regelung unserer Bewegungen und Handlungen benützen lernen. Wenn wir jene Symbole richtig lesen gelernt haben, so sind wir imstande, mit ihrer Hilfe unsere Handlungen so einzurichten, dass dieselben den gewünschten Erfolg haben, d.h. dass die erwarteten neuen Sinnesempfindungen eintreten. Eine andere Vergleichung zwischen den Vorstellungen und den Dingen gibt es nicht nur in der  Wirklichkeit nicht - darin sind sich alle Schulen einig - sondern eine andere Art der Vergleichung ist gar nicht  denkbar und hat gar keinen Sinn."(10)
Ein Gegenstand muß also als gruppierte Erscheinung, bzw. als die Summe kategorisierter Eigenschaften betrachtet werden, bei denen immer schon bestimmte Bedingungen wie Temperatur, Konsistenz etc. mitgedacht werden, ohne daß diese relative Abhängigkeit logisch zum Tragen kommt.
"Man nehme von dem Begriff des Körpers die Ausdehnung, die Festigkeit und die Gestalt weg und es wird nichts übrig bleiben."(11)
Die Frage zu stellen, ob der Zinnober wirklich rot sei, wie wir ihn sehen, oder ob dies nur eine sinnliche Täuschung sei, ist deshalb sinnlos. Die Empfindung von Rot ist die normale Reaktion normal gebildeter Augen für das von Zinnober reflektierte Licht. Ein Rotblinder wird den Zinnober schwarz oder dunkelgraugelb sehen; und auch dies ist die richtige Reaktion für sein besonders geartetes Auge. Er muss nur wissen, dass sein Auge eben anders geartet ist, als das anderer Menschen. Ansich ist eine Empfindung nicht richtiger und nicht falscher als die andere, wenn auch die Rotsehenden eine grosse Majoritaet für sich haben. Überhaupt existiert die rote Farbe des Zinnobers nur, insofern es Augen gibt, die denen der Majorität der Menschen ähnlich beschaffen sind. Genau mit demselben Rechte ist es eine Eigenschaft des Zinnobers, schwarz zu sein, nämlich für die Rotblinden.

Wenn von Körpereigenschaften gesprochen wird, die in Bezug auf andere Korper der Aussenwelt existieren, müssen auch diejenigen Körper genannt werden, in Bezug auf welche diese Eigenschaften vorhanden sind. Blei ist löslich in Salpetersäure, es ist nicht löslich in Schwefelsäure. Wer nur sagt: "Blei ist löslich", macht eine unvollständige Behauptung und müßte eigentlich sofort bemerken, daß es sich nicht um einen Ansich-Zustand handelt und es Bedingungen gibt, die diese Aussage relativieren. Wenn gesagt wird, Zinnober ist rot, so versteht es sich implizit von selbst, dass er lediglich für den gewöhnlichen menschlichen Sinnesapparat rot ist, und für die Augen aller Menschen, welche als gleich beschaffen angesehen werden . Wir glauben, das nicht erwähnen zu brauchen, und deshalb vergessen wir es auch wohl und koennen verleitet werden zu glauben, die Röte sei eine dem Zinnober oder dem von ihm reflektierten Licht (ganz unabhängig von unseren Sinnen) bestehende Eigenschaft. "Etwas anderes ist es, wenn wir behaupten, dass die Wellenlängen des vom Zinnober zurückgeworfenen Licht eine gewisse Länge haben. Das ist eine Aussage, die wir unabhängig von der besonderen Natur unseres Auges machen können, bei der es sich dann aber auch nur um Beziehungen zwischen der Substanz und den verschiedenen Ätherwellensystemen handelt.(12)

Der natürliche Ausgangspunkt ist die Empfindung. Das erste Denksystem, das gewöhnlich angenommen wird, besteht in einer möglichst geringen  Umformung dieser Empfindung zu Gedanken. Der Gedanke soll die Empfindung vermitteln, repräsentieren usw. Das sprachliche oder numerische Abstraktum ist dabei der Mittler. In diesem Sinne existiert kein unvermitteltes Wissen von der Wirklichkeit. So kann auch ein Naturgesetz niemals direkt wahrgenommen werden. Es gibt keine Gesetzmässigkeit des Wirklichen ohne ein Zeichensystem, d.h. ohne Sprache oder Zahlen. Alle Gesetze sind deshalb nur ein Bild der Wirklichkeit, sie drücken die natürliche Ordnung nicht besser aus, als ein Wort die Sache. Die eigentliche Qualität einer Empfindung bleibt immer ungeklärt, wie man es auch anstellen mag.
"Insofern die Qualität unserer Empfindungen uns von der Eigentümlichkeit der äusseren Einwirkung, durch welche sie erregt ist, eine Nachricht gibt, kann sie als  Zeichen derselben gelten, aber nicht als ein Abbild. Das Gleichheitszeichen erweckt bei der Darstellung von Vorgängen aber falsche Vorstellungen: ein Teller ist entzwei gebrochen; ich setze die Teile wieder zusammen; es fehlt keiner; nennen wir den Teller A und die Stuecke B, C und D; dann werden wir schreiben: A = B + C + D. Aber in Wahrheit scheint diese Gleichung zu besagen, dass zwischen den beiden Zustaenden des Tellers Gleichheit bestehe. Bei dem Versuch, den Teller zu benutzen, werde ich jedoch eine grosse Enttaeuschung erleben."(13)
Identität ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, und zwar nicht nur hinsichtlich des gesamten Bereiches der Tatsachen, auf die sie sich bezieht, d.h. des ganzen Universums, sondern auch bei der Erklärung jedes einzelnen Geschehens. Kein einziger Vorgang ist vollständig erklärbar, auch der unbedeutendste nicht. Jemand mag noch so sehr versuchen, einen Vorgang auf einen anderen zurückzuführen, ihn durch immere einfachere zu ersetzen; jede solche Zurückführung bedeutet immer einen Riss in der Identität. Bei jeder wird einen Stück davon aufgegeben, und schliesslich bleiben an den Endpunkten einer Erklärung zwei Rätsel, die allerdings nur verschiedene Aspekte von ein und demselben Rätsel sind: die Empfindung und die Bedeutung, die wir ihr zuschreiben. Um dieses doppelte Rätsel zu lösen, müßte eine Kausalität begriffen werden, so etwas wie eine Wechselwirkung der Substanzen; eine solche aber ist dem menschlichen Verstand unzugänglich und muß als irrationale Größe betrachtet werden. Es können lediglich Differenzen im Zustand festgestellt werden, ohne daß es dafür einen erkennbaren Grund gibt. Kein Mensch weiß,  warum  Wasser bei vier Grad Celsius seine grösste Dichte hat. Man kann auch nicht sagen, daß zwei Töne einem dritten gleich sind. Sie lassen sich nicht zusammenzählen.
Hindu-Mythos von Wolfgang Domaschka"Es besteht eine unerfüllte Aufgabe, die Ursachen irgendeiner Erscheinung aufzuzählen. Man muss die Aufgabe begrenzen und sich mit einer teilweisen Erfüllung zufrieden geben. Aus diesem Grunde gleichen wir alle, wenn wir von Ursachen sprechen den Kindern, die mit unmittelbaren Antworten auf ihre Fragen zufrieden sind; oder besser noch: jenem gläubigen Hindu, dem die Brahmanen erklären, dass die Erde auf dem Rücken eines Elefanten ruht, der seinerseits auf einer Schildkröte steht; diese aber sitzt auf einem Walfisch."(14)
Es wäre aber ein Irrtum zu glauben, der normale Menschenverstand wäre nur harmlos. Die allgemeine Denkungsart ist nicht nur naiv, sondern auch beschränkt. In den Simplifikationen des Alltags sind immer Verdrehungen und Verfälschungen enthalten, die nur allzuleicht zur Rechtfertigung von allen möglichen Übergriffen dienen."Der Bornierte verharrt in den Gewohnheiten des Bestehenden, für die er eine ihn befriedigende Rechtfertigung gefunden hat"(15) und dementsprechend verläuft das alltägliche Leben des Alltags auch sehr gern in einem Wust von Selbstverständlichkeiten, hinter denen sich in Wahrheit die größten Probleme verbergen. Menschen, die an derartige Selbstverständlichkeiten glauben, lassen sich hervorragend regieren und ausbeuten. Das Selbstverständliche wird nicht durch Kritik beeinträchtigt.
"Schließlich liegt das Geheimnis des weltgeschichtlichen Erfolges jener tautologischen Formeln und Zirkelschlüssen gerade in ihrer Leerheit, denn diese erlaubte es, ihnen jeden beliebigen weltanschaulichen Inhalt mit dem Anspruch auf Allgemeingueltigkeit zu unterlegen. Durch mehr als zwei Jahrtausende haben derartige Denkformen den verschiedensten Werten und Idealen, Zielen und Interessen gedient. Der griechische Weise und der römische Jurist, der katholische Scholastiker und der aufgeklärte Literat, der liberale Freihändler und der sozialistische Revolutionär haben jene altehrwürdige Begriffswelt benützen können, um ihre Lehren als  wahrhaft natürlich und  wahrhaft vernünftig hinzustellen und ihnen auf diese Weise den Anschein einer höheren Legitimation zu geben. Dazu kommt, daß sich solche Leerformeln für alle Arten institutioneller Menschenführung besonders eignen. Sie erwecken - zumal bei den Geführten - den Eindruck unerschütterlicher Stetigkeit der obersten Grundsätze, während sie die lenkenden Autoritäten bei ihren konkreten Entscheidungen in keiner Weise behindern."(16)
Jeder einigermaßen klar denkende Mensch sollte deshalb prinzipiell jedem gesprochenen oder geschriebenen Wort mißtrauen, das sich lediglich auf sinnliche Wahrnehmungen beruft. Die Erkenntnis beginnt nicht mit Wahrnehmungen oder Erfahrungen und schon gar nicht mit Abstraktionen, sondern mit Problemen. Alle Probleme ergeben sich aber nur in Bezug auf die Zwecke, die sich jemand setzt und deshalb besteht die große Kunst darin, sich die richtigen Dinge vorzunehmen und nicht so sehr, die Realität der gegebenen Verhältnisse zu beweisen.

Das Hauptproblem ist in der Regel, daß die tatsächlichen Probleme nicht erkannt werden, weil der Verstand in althergebrachten Erfahrungen gefangen ist und sich die meisten Leute vielzusehr an eine Weltsicht klammern, die sich auf Tatsachen bezieht, die jedem logischen Grund entbehren und weit mehr als geschickte Tarnung persönlicher Interessen dienen. Soll dem allgemeinen Aberglauben an die Illusion einer objektiv-rationalen Welt der Garaus gemacht werden, müssen grundlegende erkenntnistheoretische Grundsätze Eingang finden in den Lehrplänen aller Schulen. Im Grunde muß man damit schon im Kindergarten anfangen. Nur dann wird es möglich sein, den verschiedensten Auswüchsen natürlicher Macht, die sich immer mehr die moderne Technik zunutze machen, auf eine humane Art Einhalt zu gebieten. Wird diese Aufgabe nicht gesehen, droht ein Polizeistaat bisher noch nicht dagewesener Ausmaße, weil es dann Sicherheit durch rationale Verständigung nicht mehr geben wird.
LITERATUR - M.Nemo, Logik des Alltags, Geist der Revolte, Zeitschrift für systemsprengende Einsichten, Heft 3, Penzberg 1993
    Anmerkungen
    1) DESCARTES, Abhandlung ueber die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs, zitiert bei A. N. Whitehead, Prozess und Realitaet, FfM 1987, Seite 151
    2) S.I. HAYAKAWA, Sprache im Denken und Handeln, Darmstadt 1966, Seite 238
    3)
    MORITZ SCHLICK, Nachwort zu H. v. Helmholtz: Schriften zur Erkenntnistheorie, Berlin 1912, Seite 160
    4) ERNST MACH, Analyse der Empfindungen, Darmstadt 1991, Seite 23
    5) F.A. LANGE, Geschichte des Materialismus, Ffm 1975, Seite 478
    6) FERDINAND EBNER, Das Wort und die geistigen Realitaeten, Innsbruck 1921, Seite 60f
    7) ALOIS RIEHL, Zur Einfuehrung in die Philosophie der Gegenwart, Leipzig/Berlin 1921, Seite 51
    8) G.W.F. HEGEL, "Wer denkt abstrakt?" in Werke 17, Seite 400
    9) Vgl. EMILE MEYERSON, Identität und Wirklichkeit, Leipzig 1930, Seite 337f
    10) HERMANN von HELMHOLTZ, Physiologische Optik, Bd. 3, Seite 18
    11) GEORGE BERKELEY: Werke III, Ausgabe Frazer, London 1871, § 29
    12) Vgl. HERMANN von HELMHOLTZ, Physiologische Optik, Bd. 3, Seite 588
    13) Vgl. EMILE MEYERSON, Identitaet und Wirklichkeit, Leipzig 1930, Seite 295
    14) EMILE MEYERSON, Identitaet und Wirklichkeit, Leipzig 1930, Seite 37
    15) KARL JASPERS, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin/NY/Heidelberg 1990, Seite 183
    16) ERNST TOPITSCH, Soziologie des Existenzialismus in Merkur, 7.Jahrgang 1953, Heft 6, Seite 504