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KARL MARBE
(1869-1953)
Die Gleichförmigkeit in der Welt
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"Welche Bedingungen wir nun im Sinne des populären Kausalgesetzes als Ursachen in Anspruch nehmen und welche nicht, das ist eine Frage, die sich durchaus nicht generell beantworten läßt. Daß wir von den tatsächlichen einzelnen unmittelbaren oder mittelbaren Bedingungen bald diese, bald jene als Ursachen besonders würdigen, hat sehr verschiedene Gründe, die je nach den Gesichtspunkten, unter denen wir die Sache betrachten, verschieden sind. Sicherlich kommen dabei ganz wesentlich Wertmaßstäbe, oder wie wir auch sagen können, Interessenmaßstäbe in Betracht."

"Diese Betrachtungen zeigen, daß die Unterscheidung der Ursachen in Haupt- und Nebenursachen, in eigentliche und weniger wichtige Ursachen nicht durch objektive Merkmale der Bedingungen, sondern durch die Stellungnahme des Subjekts zu diesen Bedingungen begründet sind."

"Wir dürfen sagen, daß das praktische Leben in den meisten Gebieten unmöglich gemacht oder doch erschwert würde, wenn wir uns hier in exakter Weise um die unmittelbaren Bedingungen der Tatsachen kümmern wollten. Die Köchin betrachtet genügende Wärme als hinreichende Bedingung der Verdampfung des Wassers, der Gärtner betrachtet die Aussaat von gesundem Samen,  gutes  Wetter und  guten Boden  als genügende Bedingungen des Wachstums seiner Pflanzen und jedermann betrachtet das Fallenlassen eines Gegenstandes als hinreichende Bedingung dafür, daß er tatsächlich falle. Und sie alle haben mit ihren Ansichten  praktisch gesprochen  ganz recht."



Erstes Kapitel
Über einige Kausalsätze

Alle Tatsachen (Phänomene, Erscheinungen, Zustände, Vorgänge), mit denen sich die Naturwissenschaften und die wissenschaftliche Psychologie sowie die Kulturwissenschaften und alle positiven Wissenschaften überhaupt außer der Mathematik beschäftigen, verlaufen in der Zeit. Nur von diesen in der Zeit verlaufenden Erscheinungen ist in diesem Buch die Rede.

Die Erfahrung lehrt, daß alle diese Erscheinungen in ihrem Eintritt und Verlauf von anderen Phänomenen abhängig sind. Wenn wir z. B. eine Kugel aus der Hand zur Erde fallen lassen, so ist der Umstand, ob und wie sie fällt, vom Öffnen unserer Hand, von der Tatsache der Schwerkraft und von anderen Faktoren, wie dem Luftwiderstand, abhängig. Alle diese Faktoren, von denen der Eintritt und Verlauf einer bestimmten Tatsache unmittelbar abhängig ist, nennen wir die unmittelbaren Bedingungen dieser Tatsache.

Wir können nun die unmittelbaren Bedingungen in solche einteilen, die mit dem Phänomen, das sie bedingen, gleichzeitig sind und in solche, die diesem Phänomen unmittelbar vorausgehen. In unserem Beispiel ist das Öffnen der Hand eine dem Fallen der Kugel vorausgehende, die Schwerkraft dagegen eine gleichzeitige unmittelbare Bedingung.

Wir behaupten indessen keineswegs, daß die unmittelbaren Bedingungen aller Phänomene gleichzeitige und vorausgehende sind. Nach der in der wissenschaftlichen Psychologie verbreiteten Auffassung des psychophysischen Parallelismus sind die geistigen Prozesse als Begleitvorgänge gewisser körperlicher Prozesse aufzufassen, so zwar, daß beim Menschen bestimmten Gehirnprozessen bestimmte Bewußtseinsvorgänge entsprechen. Im Sinne dieser Theorie sind die unmittelbaren Bedingungen der Erlebnisse oder Bewußtseinsvorgänge ausschließlich gleichzeitige Bedingungen. Auch wird unsere allgemeine Unterscheidung von gleichzeitigen und vorausgehenden unmittelbaren Bedingungen nicht durch die Auffassung berührt, daß es für die kleinsten Zeitelemente einer Naturerscheinung keine streng gleichzeitigen, sondern nur vorausgehende Bedingungen gebe. Wenn wir die Zeit, innerhalb welcher ein Phänomen verläuft, mit  t  bezeichnen, so dürfen wir sagen, daß sich unsere Betrachtungen nicht nur auf Phänomene beziehen, für die  t  unendlich klein ist, sondern auch auf solche, für die  t  eine beträchtliche Größe besitzt; wir nennen aber die Bedingung eines Phänomens von der Dauer  t  eine gleichzeitige, sofern sie irgendwann während der Zeit  t  auftritt. Wenn es alos auch Phänomene mit unendlich kleinem t-Wert geben sollte, für die gleichzeitige Bedingungen nicht existieren, so gibt es für uns doch auch Phänomene mit größerem t-Wert und gleichzeitigen Bedingungen. Eine Einteilung der unmittelbaren Bedingungen überhaupt in gleichzeitige und vorausgehende ist daher einwandfrei. Den unmittelbaren Bedingungen der Erscheinungen stellen wir die mittelbaren gegenüber und wir verstehen unter mittelbaren Bedingungen die näheren oder entfernteren Bedingungen der unmittelbaren. In unserem Beispie war das Öffnen der Hand, in welcher sich die Kugel befand, eine unmittelbare Bedingung des Falles der Kugel. Daß aber die Kugel vorher von der Hand erfaßt wurde, daß die Hand in eine gewisse Höhe gehoben wurde und vieles andere gehört zu den mittelbaren Bedingungen des Falles der Kugel.

Eines der allgemeinsten Ergebnisse der Naturwissenschaft und eine Auffassung, mit der auch der wissenschaftliche Psychologe täglich operiert, ist nun der Satz: Alle Naturerscheinungen sind bestimmte Funktionen von bestimmten unmittelbaren Bedingungen. Dieser Satz besagt, daß der Umstand, ob ein bestimmtes Phänomen eintritt und wie es verläuft, von anderen gleichzeitigen und unmittelbar vorausgehenden Phänomenen abhängt.

Ein anderes fundamentales Ergebnis der Naturwissenschaften ist der im oben genannten Gesetz freilich implizit enthaltene Satz: Gleiche unmittelbare Bedingungen führen zu gleichen Erscheinungen.

Aufgrund dieser Erfahrungssätze sind wir in der Lage, die Zukunft innerhalb gewisser Grenzen im voraus bestimmen zu können: wir wissen z. B., daß Wasser nicht nur gestern verdampfte, als wir es genügend erwärmten, sondern daß auch morgen ein Gefäß mit Wasser, das wir der Hitze aussetzen, seines flüssigen Inhaltes verlustig gehen wird. Auch alle Wunder der Technik sind menschliche Leistungen, die in gewissem Sinne auf jenen Sätzen beruhen.

Wir können die Sätze: Alle Erscheinungen sind in ihrem Eintritt und Ablauf von anderen Erscheinungen abhängig; gleichen unmittelbaren Bedingungen enstprechen gleiche Phänomene - als naturwissenschaftliche Funktionssätze oder, wenn wir wollen, auch als die korrigierten Kausalsätze bezeichnen. Erst die Naturwissenschaft hat die Gültigkeit dieser Sätze einwandfrei festgestellt. Die Tatsachen, die ihnen zugrunde liegen, sind freilich seit den ältesten Zeiten mehr oder weniger klar geahnt worden. So wurde bekanntlich schon von den vorsokratischen Philosophen, insbesondere den Atomisten, die Ansicht vom durchgängigen gesetzmäßigen Verlauf der Naturerscheinungen vertreten. Auch die alten Sätze, die wir als populäre Kausalsätze den naturwissenschaftlichen Funktionssätzen gegenüberstellen werden, können in gewissem Sinne als Vorahnung der letzteren aufgefaßt werden.

Diesen populären Kausalsätzen können wir folgende Form geben: Alles was ist und geschieht, ist die notwendige Wirkung einer Ursache. Gleichen Ursachen entsprechen gleiche Wirkungen. Wir alle operieren im gewöhnlichen Leben tagaus tagein mit diesen Sätzen und wir betrachten in ihrem Sinn freilich in anthropomorphischer Weise den Eintritt und Ablauf aller Zustände und Vorgänge irgendwie "bewirkt", wie auch wir selbst durch unsere Willenshandlungen mancherlei Erfolge zu bewirken scheinen. Während in dessen tatsächlich der Eintritt und der Ablauf aller Vorgänge im Sinne der korrigierten Kausalsätze von einer Reihe unmittelbarer und von unendlich vielen mittelbaren Bedingungen abhängig ist, so ziehen wir im Leben meist nur eine oder doch nur einen Teil der mittelbar oder unmittelbar vorausgehenden Bedingungen in Betracht, die wir dann (im Sinne der populären Kausalsätze) als die Ursache der Wirkung bezeichnen, wobei uns die Ursache gern als eine Kraft, analog der sogenannten "Willenskraft", erscheint. In diesem Sinne sagen wir dann auch: die Ursache geht der Wirkung voraus, ein Satz, der freilich neben entgegenstehenden Behauptungen (z. B.: Ursache und Wirkung sind gleichzeitig; Ursache ist die Gesamtheit der Bedingungen eines Erfolges) auch in der Geschichte der Philosophie eine große Rolle spielt. (1)

Es wurde soeben angedeutet, daß wir unter Ursache nicht nur eine, sondern öfter auch eine Mehrheit von Bedingungen verstehen. Wir gebrauchen also das Wort  Ursache  auch für einen ganzen Komplex von Bedingungen oder einen Bedingungskomplex.

Oft bezeichnen wir nun als Ursache auch lediglich ein gemeinsames Merkmal einer Mehrheit solcher Bedingungen. Das geschieht auch dann, wenn wir eine größere Anzahl von im einzelnen  unbekannten  Bedingungen als Ursache in Anspruch nehmen. Wenn wir etwa sagen, daß die bedeutenden Leistungen eines Menschen durch seine Genialität verursacht werden, oder wenn wir meinen, daß der Untergang des römischen Weltreiches durch die Verringerung der umlaufenden Goldmenge in der Kaiserzeit verursacht worden sei, so betrachten wir die Genialität und den abnehmenden Umlauf von Barmitteln als Merkmale gewisser im einzlnen teilweise unbekannter in der Zeit verlaufender Bedingungen. Und diese Merkmale nennen wir dann Ursachen. Schließlich muß noch betont werden, daß wir Ursachen im Sinne von gemeinsamen Merkmalen von Bedingungen auch selbst wieder als Bedingungen bezeichnen, so z. B. wenn wir sagen: die Abnahme der Goldmenge in der Kaiserzeit ist eine Bedingung des Untergangs des römischen Reiches.

Wir können daher zusammenfassend sagen: Unter Bedingungen verstehen wir erstens einzelne in der Zeit verlaufende oder in der Zeit "wirkende" unmittelbare oder mittelbare Bedingungen oder Komplexe solcher Bedingungen; zweitens nennen wir Bedingungen oder Komplexe solcher Bedingungen; zweitens nennen wir Bedingungen oft Merkmale solcher Gruppen von Bedingungen. Bedingungen der ersten Art sollen künftig Bedingungen im ersten Sinn, Bedingungen der zweiten Art sollen Bedingungen im zweiten Sinn heißen.

Die Bedingungen von beiderlei Art können wir  kausale  Bedingungen nennen. Nicht alle Bedingungen, von denen man im Leben und in der Wissenschaft redet, sind kausale Bedingungen, wie allgemein bekannt ist und später, gegen Ende des fünften Kapitels, noch näher zu erörtern sein wird. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels und an den meisten Stellen dieses Buches werden wir unter Bedingungen kausale Bedingungen verstehen.

Welche Bedingungen wir nun im Sinne des populären Kausalgesetzes als Ursachen in Anspruch nehmen und welche nicht, das ist eine Frage, die sich durchaus nicht generell beantworten läßt. Daß wir von den tatsächlichen einzelnen unmittelbaren oder mittelbaren Bedingungen sowie auch von den Bedingungen im zweiten Sinne des Wortes bald diese, bald jene als Ursachen besonders würdigen, hat sehr verschiedene Gründe, die je nach den Gesichtspunkten, unter denen wir die Sache betrachten, verschieden sind. Sicherlich kommen dabei ganz wesentlich Wertmaßstäbe, oder wie wir auch sagen können, Interessenmaßstäbe in Betracht. Wir wollen annehmen, ein Eisenbahnzug fährt so in die Station ein, daß es den Insassen des letzten Wagens unmöglich ist, vom Wagen oder Trittbrett direkt auf den Bahnsteig zu gelangen, sondern daß sie genötigt sind, mit einem gewaltigen Schritt vom Trittbrett auf den Boden zu steigen, auf dessen Höhe die Eisenbahnschienen liegen; wir wollen ferner annehmen, es sei Winter und der Boden sei mit Glatteis bedeckt. Ein Herr von siebzig Jahren kommt beim Aussteigen zu Fall und bricht sich ein Bein. Was ist die Ursache des Beinbruchs? Der eine wird sagen, daß die Ungeschicklichkeit des Herrn seinen Unglücksfall verschuldet habe und er wird sich vielleicht darauf berufen, daß derselbe Herr schon früher infolge offenbarer Ungeschicklichkeit mehrere Unfälle gehabt hat. Der andere wird den Unglücksfall dem Glatteis, ein anderer dem Alter des Herrn zuschreiben. Der Herr selbst wird vielleicht als einzige Ursache seines Unglücks den Umstand betrachten, daß der Zug so einfuhr, daß es ihm unmöglich war, direkt vom Trittbrett auf den Bahnsteig zu gelangen. Jeder aber wird zu seiner Stellungnahme durch Gründe bewogen, die sicherlich ganz außerhalb wissenschaftlicher Betrachtung liegen und die wesentlich durch das Interessengebiet des einzelnen beeinflußt sein können. Wer in einem solchen Fall z. B. eine Unfallrente erstrebt, wird nicht nur den Behörden, sondern auch sich selbst gegenüber nicht leicht die Ursächlichkeit eigener Ungeschicklichkeit oder gar eigenen Verschuldens besonders lebhaft betonen. Und da fast niemand gerne alt ist, so wird ein alter Herr, dem ein solcher Unfall passiert, auch in der Regel nicht sein Alter als "Hauptursache der Katastrophe ansehen.

Diese Betrachtungen dürften auch zeigen, daß die Unterscheidung der Ursachen in Haupt- und Nebenursachen, in eigentliche und weniger wichtige Ursachen sowie die Aufstellung des Begriffes der vera causa (2) nicht durch objektive Merkmale der Bedingungen, sondern durch die Stellungnahme des Subjekts zu diesen Bedingungen, sondern durch die Stellungnahme des Subjekts zu diesen Bedingungen begründet sind. Auf dem Gebiet einer objektiven Ursachenforschung gibt es daher ansich keine Rangunterschiede der Ursachen und keine  vera causa.  Freilich ist eine Klassifizierung der Ursachen im angedeuteten Sinn dem praktischen Leben eigentümlich und daher auch in der auf dem Boden des Lebens erwachsenen  Rechtswissenschaft  (3) und in der auf dem Standpunkt des gewöhnlichen Lebens stehenden Geschichtsbetrachtung üblich. Auch in anderen Wissenschaften ist es gebräuchlich und für die Verständigung zweckmäßig, Bedingungen, insbesondere vorausgehende, die jeweils von besonderem Interesse sind, als Ursachen aus dem allgemeinen Kreis der Bedingungen hervorzuheben.

Die populären Kausalsätze haben mit ihren anthropomorphistischen Begriffen des Wirkens und der wirksamen und daher kraftbegabten Ursachen die Hülle des populären Denken noch nicht abgestreift, sie stehen aber, ebenso wie der Satz, daß die Ursache der Wirkung stets vorausgeht, dem praktischen Leben weit näher als die korrigierten Kausalsätze. Diese populären Kausalsätze, die im praktischen Leben sowie in der auf das praktische Leben bezüglichen und aus ihm hervorgegangenen Rechtswissenschaft Anwendung finden die von vielen Philosophen noch heute als die eigentlichen Kausalsätze in Anspruch genommen werden, sind einer sehr unvollkommener Ersatz der korrigierten Kausalsätze, aber freilich der im praktischen Leben und in der Jurisprudenz zurzeit und vielleicht immer allein mögliche Ersatz. Die einzelnen unmittelbaren Bedingungen bestimmter Tatsachen des praktischen Lebens sind uns vielfach deshalb unbekannt, weil diese Tatsachen und ihre Bedingungen häufig viel verwickelter sind, als die Tatsachen der Naturwissenschaften und insbesondere als die Tatsachen der Physik und Chemie, zweier Gebiete, in denen die Anwendung der naturwissenschaftlichen Funktionssätze dem Sinn nach ganz besonders häufig ist. In der Regel erweist sich übrigens die Kenntnis aller und die genaue Kenntnis einzelner unmittelbarer Bedingungen der Tatsachen im praktischen Leben auch gar nicht nötig, weil (zumal mit Rücksicht auf die Konstanz mancher Bedingungen) vielfach die Kenntnis einzelner in weitem Umfang variierbarer unmittelbarer oder mittelbarer Bedingungen genügt, um die "Wirkungen" dieser Bedingungen soweit vorauszusehen, als es praktisch von Bedeutung ist. Ja, wir dürfen sagen, daß das praktische Leben in den meisten Gebieten unmöglich gemacht oder doch erschwert würde, wenn wir uns hier in exakter Weise um die unmittelbaren Bedingungen der Tatsachen kümmern wollten. Die Köchin betrachtet genügende Wärme als hinreichende Bedingung der Verdampfung des Wassers, der Gärtner betrachtet die Aussaat von gesundem Samen, "gutes" Wetter und "guten Boden" als genügende Bedingungen des Wachstums seiner Pflanzen und jedermann betrachtet das Fallenlassen eines Gegenstandes als hinreichende Bedingung dafür, daß er tatsächlich falle. Und sie alle haben mit ihren Ansichten praktisch gesprochen ganz recht.

Übrigens ist auch zu bedenken, daß, wiewohl die korrigierten Kausalsätze als zu den allgemeinsten Ergebnissen der Naturwissenschaft gehörig bezeichnet werden dürfen, auch nicht einmal alle Naturwissenschaften die unmittelbaren Bedingungen der von ihnen behandelten Phänomene genau und restlos festzustellen in der Lage sind. Je komplizierter die Phänomene sind, welche die Naturwissenschaften untersuchen, desto weniger sind sie imstande, die unmittelbaren Bedingungen dieser Phänomene zu erfassen. Und daß die Feststellung der unmittelbaren Bedingungen in der Physik und Chemie und besonders in der theoretischen Physik am besten gelingt, liegt wesentlich daran, daß die von diesen Wissenschaften untersuchten Phänomene und ihre Bedingungen relativ einfache Phänomene sind. Freilich hängt die Möglichkeit des genauen Studiums der unmittelbaren Bedingungen der Phänomene in einem Wissensgebiet auch von anderen Faktoren, wie von der Möglichkeit der Anwendung eines Experiments ab. Jedenfalls sind die populären Kausalsätze, die noch bis vor kurzem ausschließlich in der Naturwissenschaft das Feld beherrschten, den meisten Naturforschern auch heute immer noch geläufiger, als die korrigierten.

Wenn, wie wir sehen, der unvollkommene Ausdruck der populären Kausalsätze im praktischen Leben nicht durch die naturwissenschaftlichen Funktionssätze ersetzt werden kann, und wenn dieser Ersatz auch vielfach gar nicht wünschenswert ist, so brauchen wir uns nicht darüber zu verwundern, daß in den Geschichtswissenschaften nicht die korrigierten, sondern die populären Kausalsätze dominieren. Denn der Historiker hat es wie der Mensch des praktischen Lebens nicht mit einfachen, sondern mit sehr komplizierten Erscheinungen zu tun, für welche die Gesamtheit der unmittelbaren Bedingungen genau und restlos darzulegen einfach unmöglich ist. Ja, man darf sagen, daß der Historiker vielfach noch viel kompliziertere Phänomene untersucht, als sie uns im praktischen Leben geläufig sind. Die Ursachen des Zusammenbruchs des römischen Reiches, der französischen Revolution sind so kompliziert, daß sie selbst, wenn die historischen Quellen nicht (was sie doch immer sind) lückenhaft wären, sich nicht auf ihre unmittelbaren Bedingungen zurückführen lassen, ganz abgesehen davon, daß ein solcher Versuch noch anderen unüberwindbaren Schwierigkeiten begegnen würde. Diese weiteren Schwierigkeiten liegen zum Teil darin, daß Begriffe wie "der Untergang des römischen Reiches" in verschiedener Beziehung und auch besonders zeitlich gar nicht scharf abgrenzbar sind. Wann fängt dieser Untergang an, wann hört er auf? Wer will, ohne nicht dem Schein der Lächerlichkeit zu verfallen, diese Fragen so exakt lösen, wie man die Frage beantworten kann, wann eine Kugel zu fallen anfängt und wann sie zu fallen aufhört. Aber auch gesetzt den Fall, dies wäre möglich! Welche historischen Einsichten sollte es uns eigentlich gewähren, wenn wir die vorausgehenden unmittelbaren Bedingungen der französischen Revolution kennen würden im Sinne der vorausgehenden unmittelbaren Bedingungen des Falles einer Kugel? Was die Historiker über die Ursachen der gewaltigen Ereignisse, die man französische Revolution nennt, zu berichten wissen, ist ein Ausschnitt aus den unmittelbaren und mittelbaren Bedingungen der Revolution. Und gerade die mittelbaren, also die näheren und entfernteren Bedingungen der unmittelbaren Bedingungen dieser Revolution interessieren uns besonders. Sie aber im einzelnen zu überschauen, wäre noch unmöglicher, als die genaue Kenntnis der unmittelbaren Bedingungen.

Andererseits aber sollte man sich klar machen, daß die Erklärung von komplizierten Vorgängen aus einer oder einer beschränkten Anzahl von vorausgehenden Bedingungen niemals eine erschöpfende Erklärung sein kann und daß daher auch die Aufzeigung der Bedingungen in der in den Geschichtswissenschaften üblichen Weise (wenn sie auch einer notwendigen Resignation entspricht) doch niemals eine so restlose sein kann, wie etwa die Zurückführung eines experimentell hervorgerufenen Vorgangs auf seine unmittelbaren Bedingungen. Und man sollte sich auch jederzeit darüber klar sein, daß die Wirksamkeit von einer oder von ein paar Bedingungen die Wirksamkeit anderer Bedingungen nicht ausschließt.

Es kann nicht meine Aufgabe sein, im Rahmen dieses Buchs den Unterschied zwischen dem naturwissenschaftlichen Kausalbegriff unserer Tage und dem des Lebens und der Geschichtswissenschaft einigermaßen erschöpfend darzulegen. Das wenige aber, worüber wir eben sprachen, dürfte uns zeigen, daß die Funktionssätze im praktischen Leben, in der Jurisprudenz und in der Geschichtswissenschaft keine wesentliche Stelle einnehmen und daß die populären Kausalsätze, die nur einzelne oder wenige mittelbare und unmittelbare Bedingungen als Ursachen in Betracht ziehen, sich nicht so leicht aus dem Leben, der Rechtswissenschaft und den Geschichtswissenschaften verdrängen lassen werden und daß sie vielleicht auch in einem Teil der übrigen Wissenschaften immer bedeutungsvoll bleiben werden. Die Versuche von MACH (4), PETZOLDT (5), AVENARIUS (6) und anderen, den Kausalbegriff durch den Funktionsbegriff zu ersetzen, erscheinen demnach nicht besonders aussichtsreich.

Wiewohl unsere bisherigen Mitteilungen es bereits enthalten, so sei doch ausdrücklich betont, daß wir, auch wenn wir von den populären Kausalsätzen handeln und wenn wir einer üblichen Terminologie folgend gelegentlich von wirkenden Bedingungen und dergleichen sprechen, verstehen wir doch unter Ursachen und Bedingungen immer in der Zeit verlaufende Bedingungen und Merkmale solcher Bedingungen, wobei wir aber die Worte Ursache und Bedingung niemals im Sinne einer Kraft gebrauchen. Zu den vier höchsten Prinzipien der Metaphysik des ARISTOTELES gehört bekanntlich auch die Ursache. Sie wirkt ebenso wie der Zweck auf den Stoff, um ihn im Sinne einer Form zu gestalten. Bei ARISTOTELES und vielen späteren Philosophen erscheint aber die Ursache vielfach nicht nur als ein in der Zeit verlaufendes Phänomen, sondern auch als eine Kraft ähnlich der Lebenskraft. Ein aufgraund von Einzelerfahrungen erwachsener Begriff ist hier dem Stagiriten [ = Aristoteles - wp] zu einer kraftbegabten Realität erwachsen. Wiewohl das Verfahren, aus Begriffen außerbegriffliche Realitäten zu schaffen, schon in der voraristotelischen Philosophie, besonders in der Ideenlehre PLATONs und bei PARMENIDES heimisch war und wiewohl es bis auf die Gegenwart auch von unbedeutenderen Philosophen als ARISTOTELES, besonders von FICHTE, noch mehr von SCHELLING und HEGEL und ihren Nachfolgern mit allergrößter Virtuosität gehandhabt wird, so scheint es mir doch für philosophische Untersuchungen wie die vorliegenden, die den Zusammenhang mit der positiven Wissenschaft unserer Zeit zu wahren bestrebt sind, nicht weiter in Betracht zu kommen.

Die naturwissenschaftlichen Funktionssätze sind nun, wie wir schon sagten, Erfahrungssätze. Sie waren dem Altertum unbekannt und sind erst anhand der Naturwissenschaft der Neuzeit gewonnen worden. Sie sind zurzeit gewissermaßen die einzigen Kausalsätze der theoretischen Physik, wo lange Zit die populären Kausalsätze dominierten, die indessen neuerdings durch KIRCHHOFF (7) und andere aus dieser Wissenschaft gänzlich vertrieben wurden.

Wenn man nun etwa unter dem Kausalgesetz die naturwissenschaftlichen Funktionssätze versteht, so darf man sagen: das Kausalgesetz ist nicht a priori, sofern man unter Erkenntnissen a priori mit KANT solche versteht, die unabhängig von der Erfahrung zustande kommen. Die Frage nach der Apriorität der populären Kausalsätze ist bei der oben angedeuteten Vieldeutigkeit des Begriffs der Ursache innerhalb dieses Gesetzes überhaupt keine klare und eindeutige Frage. Versteht man indessen unter Kausalität lediglich die Auffassung, daß die Erscheinungen an gewisse Bedingungen geknüpft sind, so liegt die Sache ganz anders. Hier wird man zunächst festzustellen haben, welche speziellen Auffassungen man eigentlich auf ihren apriorischen Charakter prüfen will.

Jedem von uns sind unmittelbar nur eine Erlebnisse oder Bewußtseinsvorgänge gegeben. Gewisse Bewußtseinsvorgänge, nämlich die Sinneswahrnehmungen, betrachten wir nun als bedingt durch andere außerhalb des Bewußtseins liegende Gegenstände. Wir betrachten, wie wir dies auch ausdrücken können, die Sinneswahrnehmungen als Zeichen für außerhalb des Bewußtseins liegende, d. h. für transzendente Gegenstände und aufgrund unserer Sinneswahrnehmungen konstruieren wir uns die sogenannte Körperwelt, die wir schließlich als dasjenige betrachten, von dem unsere Sinneswahrnehmungen abhängen. Diese Annahme von Körpern als Ursachen der Sinneswahrnehmungen ist keine Hypothese, die einzelne machen, von der aber andere absehen, sie ist vielmehr eine ganz allgemeine Annahme. Sie findet sich auch bei allen, auch den primitivsten Völkern und ist allenthalben schon dem kindlichen Weltbild eigentümlich. Diese Annahme ist auch keineswegs nur eine überall vorhandene Gewohnheit, sondern vielmehr eine Annahme, die jedermann zunächst ganz einwandfrei und selbstverständlich erscheint, wenn auch idealistische Philosophen und Philosophen der Immanenz uns nachträglich zeigen wollen, daß diese Annahme überflüssig oder gar ungehörig sei.

So liegt es nahe, die kausale oder besser die konditionale Verknüpfung zwischen Sinneswahrnehmungen und Körpern als eine apriorische, d. h. als eine nicht durch die Erfahrung gewonnene Auffassung anzusehen.

Eine ganz andere Frage ist wieder die, ob wir für alle in der Zeit verlaufenden Erscheinungen, also für alle geistigen und körperlichen Vorgänge infolge apriorischer Tatsachen die Bedingtheit durch andere Phänomene in Anspruch nehmen. Diese Frage wird unter dem Einfluß von KANT in der Regel in einem positiven Sinn beantwortet, wiewohl die schon von ARISTOTELES statuierte "erste Ursache" im Sinne eines kosmologischen Gottesbeweises zeigen dürfte, daß die Beantwortung dieser Frage bei weitem nicht so einfach ist, als man oft annimmt. Trotz der durch SCHOPENHAUER und andere bekannten Einwände gegen diese "erste Ursache" sollte man doch bedenken, daß die christlichen und insbesondere die katholischen Auffassungen der Gottheit dem Satz von der universellen Bedingtheit aller Tatsachen durch andere ins Gesicht schlagen und daß es doch kaum berechtigt ist, eine Auffassung als apriorisch bedingt anzusehen, die von Millionen von Menschen, wenn auch mit Unrecht, gar nicht geteilt wird. Auch der Standpunkt der Indeterminiertheit der individuellen Willenshandlungen, der ja immer noch auch von Gelehrten vertreten wird und der sogar der naiven Auffassung des praktischen Lebens eigentümlich ist, sollte uns zeigen, daß die Frage nach der Apriorität des sogenannten Kausalbedürfnisses nicht so generell beantwortet werden kann, wie es vielfach geschieht.

Doch wir können im Rahmen dieses Buches die Frage des Umfangs der Apriorität der Kausalbegriffe nicht nach allen Richtungen hin aufwerfen und wir können dieses interessante, meiner Meinung nach bisher ungelöste und nur durch Zerlegung in sehr viele Einzelprobleme lösbare Problem hier noch viel weniger lösen. Auch auf die wichtige Frage nach dem Verhältnis der naturwissenschaftlichen Funktionssätze zum mathematischen Begriff der Funktion und zum Satz vom Grunde und auf tausend andere einschlägige Fragen können wir hier nicht eingehen. Wir müssen uns vielmehr, nachdem wir nun über die naturwissenschaftlichen Funktionssätze und die populären Kausalsätze gehandelt haben, darauf beschränken, noch einige andere Kausalsätze und zwar solche von beschränkter Gültigkeit zu behandeln.

Die korrigierten Kausalsätze, so sahen wir, gelten für alle in der Zeit verlaufenden Tatsachen. Die populären Kausalsätze sind, so sahen wir ferner, ein unvollkommenes, wenn auch in sehr vielen Gebieten unvermeidliches Surrugat der naturwissenschaftlichen Funktionssätze. Sie haben ferner wegen der Vieldeutigkeit des Wortes Ursache einen sehr unbestimmten Charakter. Aus der Vieldeutigkeit des Wortes Ursache innerhalb der populären Kausalsätze erklärt es sich nun, daß eine Reihe weiterer einander scheinbar völlig widersprechender Kausalsätze aufgestellt wurden. "Kleine Ursachen, große Wirkungen" heißt ein bekanntes Sprichwort, während nach einem alten philosophischen Satz "causa est potior causato" [Die Ursache ist mehr als die Wirkung. - wp] die Ursache niemals kleiner sein kann als die Wirkung und während der Satz  causa aequat effectum  [Ursache gleich Wirkung - wp], von dem J. R. MAYER (8) bei der Ableitung seines Satzes von der Erhaltung der Kraft ausging, gar besagt, daß Ursache und Wirkung gleichwertig seien. Abgesehen davon, daß alle diese drei Sätze mehr oder weniger eine Wertung von Erscheinungen bedeuten, wie sie den naturwissenschaftlichen Funktionssätzen fern liegt, bezeichnet in jedem von ihnen der Ausdruck Ursache oder  causa  etwas ganz anderes. Jeder Sätze ist daher nur beschränkt, d. h. im Hinblick auf einen bestimmten Ursachenbegriff gültig. Versteht man unter Ursachen einzelne oder mehrere unmittelbare oder mittelbare Bedingungen, so lassen sich sicherlich viele Fälle ausfindig machen, die als Unterlage für das Sprichwort "Kleine Ursachen, große Wirkungen" dienen können und wieder andere, die den Satz "causa est potior causato" nahelegen, während der alte Satz "causa aequat effectum" im Gesetz der Erhaltung der Energie eine Stütze findet, wofern man lediglich die Umwandlung bestimmter Energieform in andere in Betracht zieht.

Für die Ausführungen dieses Buches wichtiger als die drei eben erwähnten beschränkt gültigen Kausalsätze sind andere beschränkt gültige, die nun noch ausführlicher besprochen werden sollen.

Den einen können wir im Hinblick auf die populären Kausalsätze so formulieren: Ähnliche Ursachen haben ähnliche Wirkungen. Unter Vermeidung des vieldeutigen Begriffes der Ursache können wir ihm die Formen geben: Unter ähnlichen unmittelbaren Bedingungen geschieht Ähnliches; unter ähnlichen unmittelbaren Bedingungen findet Ähnliches statt. Alle diese Sätze wollen wir auch kurz als die Ähnlichkeitssätze bezeichnen. Der Ausdruck ähnlich ist bekanntlich auch wiederum vieldeutig. Wir sprechen von Ähnlichkeit in der Geometrie und nennen z. B. zwei Dreiecke ähnlich, die verschieden große Seiten, aber genau gleiche Winkel haben, die aber für das Auge ganz gleich oder nahezu gleich erscheinen. Wir reden auch von ähnlichen Farben und finden z. B. zwei Farbentöne, zwischen denen im Sinne der Psychophysik nur wenige eben merkliche Unterschiede liegen, wie z. B. zwei rote Töne des Spektrums ähnlicher als etwa einen roten und einen grünen Ton. Für die Zwecke unserer Untersuchungen dürfen wir als ähnlich einfach zwei Gegenstände bezeichnen, die in einzelnen Teilen oder einzelnen Beziehungen übereinstimmen oder doch nur wenig verschieden sind. Für uns sind daher nicht nur die in unseren bisherigen Beispielen erwähnten Gegenstände ähnlich, sondern es sind für uns z. B. auch die Zahlen 10 und 11 ähnlicher als die Zahlen 1 und 11, da sie in quantitativer Beziehung besser miteinander übereinstimmen als die Zahlen 1 und 11. Auch die Terminologie im Sinne unseres letzten Beispiels ist übrigens durch die Auffassung des gewöhnlichen Lebens gedeckt, wo man ja auch die Resultate zweier Rechnungsaufgaben als ähnlicher ansieht, wenn sie gleich 10 und 11 als wenn sie gleich 1 und 11 sind. Statt des Wortes ähnlich gebrauchen wir auch das Wort "gleichförmig".

Daß nun der Satz "Unter ähnlichen unmittelbaren Bedingungen findet ähnliches statt" und demnach auch die populäreren mit dem Ausdruck Ursache und Wirkung operierenden Formen dieses Satzes innerhalb weiter Grenzen gültig sind, darüber kann kein Zweifel bestehen. Das gewöhnliche Leben arbeitet dann auch fortwährend mit der Richtigkeit dieser Sätze. Es rechnet immer bei gleichförmigen Ursachen auf gleichförmige Wirkungen. Der Landwirt erwarten, daß der in den Boden gelegte Samen in den verschiedenen Jahren aufgeht, obgleich er weiß, daß weder die Samenkörner, noch das Erdreich, noch die atmosphäreischen Verhältnisse in allen Jahren genau dieselben sind. Nur wenn die Bedingungen allzusehr von den üblichen abweichen, wenn z. B. die jungen Pflanzen infolge allzu großer Kälte erfrieren, so rechnet er nicht mit dem Gedeihen des Samens. Der Geschäftsmann schließt aus ähnlichen Konjunkturen auf ähnliche Geschäftsgänge usw. Auch in der Wissenschaft findet der Satz: "Gleichförmige Ursachen haben gleichförmige Wirkungen" Anerkennung. Der Nationalökonom weiß, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse im Laufe der historischen Entwicklung stets wechseln, er hat aber trotzdem die Überzeugung, daß die Sätze der theoretischen Nationalökonomie für die verschiedensten wirtschaftlichen Konstellationen eine gewisse jeweils ähnliche Bedeutung besitzen und die Historiker aller Gebiete rechnen damit, daß ähnliche Ereignisse unter im übrigen genügend ähnlichen Verhältnissen auch ähnliche Wirkungen erzielen. Auch wird durch die Gültigkeit der Ähnlichkeitssätze in weitem Umfang das naturwissenschaftliche und psychologische Experimentieren in der tatsächlich üblichen Weise überhaupt erst möglich. Der Experimentator sucht bekanntlich bestimmte Bedingungen herzustellen, unter denen er seine Objekte studiert. Würde nun nicht im weitesten Umfang unter ähnlichen unmittelbaren Bedingungen ähnliches stattfinden, würde also generell jede geringste Modifikation der beabsichtigten Versuchsbedingungen gänzlich andere Ergebnisse zutage fördern, so wäre jedes Experimentieren in der uns geläufigen Weise unmöglich. Auch wenn wir aus einer beschränkten Anzahl von experimentellen Feststellungen den Verlauf einer kontinuierlichen Kurve ableiten, sind wir zu diesem Verfahren nur unter der Voraussetzung berechtigt, daß ähnliche Ursachen auch ähnliche Wirkungen erzielen. Schließlich ist der Satz: Natura non facit saltus [die Natur macht keine Sprünge - wp] (9) auch ein Ausdruck der Tatsache, daß, wenn sich die unmittelbaren Bedingungen stetig ändern, sich auch die von ihnen abhängigen Erscheinungen stetig ändern und daß daher gleichförmige Bedingungen auch gleichförmige Ergebnisse erzielen.

Bei aller Bedeutung der Ähnlichkeitssätze kann aber ihre beschränkte Gültigkeit nicht nachdrücklich genug betont werden. Vor allem ist hier der in der Physik und Chemie bekannten sogenannten Umkehrpunkte zu gedenken. Zu den unmittelbaren Bedingungen der Ausdehnung des Wassers gehört die Temperatur. Das Volumen des Wassers nimmt bekanntlich ab, wenn seine Temperatur von 0° bis circa 4° steigt. Wächst die Temperatur über 4°, so kehrt sich das Verhältnis um, insofern sich jetzt das Volumen des Wassers wieder vergrößert. Wer also im Sinne unserer Ähnlichkeitssätze annehmen wollte, daß z. B. bei steigender Temperatur innerhalb 0° bis 4° eine ähnliche Vergrößerung der Ausdehnung stattfände wie bei steigender Temperatur innerhalb 4° bis 8°, würde weit fehlgreifen. Auch ist überhaupt das Merkmal der Ähnlichkeit oder Gleichförmigkeit, das wir, wie erwähnt, zwei Phänomenen beilegen, die in einzelnen Teilen oder Beziehungen miteinander übereinstimmen, ein so vages und unbestimmtes, daß schon deshalb die Anwendung der Ähnlichkeitssätze häufig auf Schwierigkeiten stoßen dürfte. Insbesondere ist zu bedenken, daß schließlich alle Phänoeme im Sinne unseres Ähnlichkeitsbegriffes mehr oder weniger ähnlich oder gleichförmig sind, daß aber die Ähnlichkeitssätze darüber nichts enthalten, wie groß die Ähnlichkeit von Bedingungen wenigstens sein muß, damit sie ihrerseits zu ähnlichen Erscheinungen führen. Trotzdem aber haben, wie unsere obigen Ausführungen zeigen, die Ähnlichkeitssätze eine weittragende praktische Bedeutung.

Ebenso wichtig wie die Ähnlichkeitssätze sind die gleichfalls nur beschränkt gültigen Sätze: Gleiche Erscheinungen resultieren aus gleichen unmittelbaren Bedingungen. Gleiche Wirkungen haben gleiche Ursachen. Daß diese Sätze nicht allgemein gültig sind, weiß jeder Anfänger auf dem Gebiet der Naturwissenschaft oder Philosohie. Man sagt ja auch allgemein, daß zwar jede Ursache nur eine bestimmte Wirkung, daß aber jede Wirkung sehr verschiedene Ursachen haben könne. Aber nichtsdestoweniger schließen wir oft aus gleichen Phänomenen auf gleiche Ursachen. Gewiß wissen wir, daß diese Schlüsse nicht stringent sind. Aber wir machen sie trotzdem häufig, wenn wir auch oft genötigt sind, sie infolge neuer Erkenntnisse zu modifizieren oder zu verwerfen.

Wir können Sätze wie die eben behandelten (gleiche Phänomene resultieren aus gleichen unmittelbaren Bedingungen; gleiche Wirkungen haben gleiche Ursachen) als umgekehrte Kausalsätze bezeichnen. Wie nun diese umgekehrten Kausalsätze, so haben auch die umgekehrten Ähnlichkeitssätze (ähnliche Erscheinungen resultieren aus ähnlichen unmittelbaren Bedingungen: ähnliche Wirkungen haben ähnliche Ursachen) eine beschränkte Gültigkeit. Da schon die Gültigkeit der Ähnlichkeitssätze beschränkter ist als die Gültigkeit der korrigierten und der populären Kausalsätze, so werden wir wohl vermuten dürfen, daß die Gültigkeit der umgekehrten Ähnlichkeitssätze noch beschränkter ist. Aber auch die umgekehrten Ähnlichkeitssätze finden im populären und wissenschaftlichen Denken vielfache Anwendung.

Wir werden nun im folgenden Kapitel eine Reihe ganz trivialer sowie auch wissenschaftlicher Tatsachen aufzeigen, die wenigstens für eine vorläufige Betrachtung leicht begreiflich erscheinen, wenn wir sie als Ergebnisse der Ähnlichkeitssätze auffassen.

Im Interesse der Übersicht fassen wir die wichtigsten Kausalsätze, von denen im vorliegenden Kapitel die Rede war, nochmals kurz zusammen. Es sind folgende:
    1. Alle Erscheinungen sind in ihrem Eintritt und Ablauf von bestimmten unmittelbaren Bedingungen abhängig. Gleichen unmittelbaren Bedingungen enstprechen gleiche Erscheinungen. (Naturwissenschaftliche Funktionssätze oder korrigierte Kausalsätze.)

    2. Alles was ist und geschieht, ist die notwendige Wirkung einer Ursache. Gleichen Ursachen entsprechen gleiche Wirkungen. (Populäre Kausalsätze)

    3. Kleine Ursachen, große Wirkungen. Causa est potior causato. Causa aequat effectum. (Drei Beispiele für einander widersprechende Kausalsätze, in denen der Begriff der Ursache indessen jeweils verschieden ist.)

    4. Unter ähnlichen (gleichförmigen) Bedingungen findet Ähnliches statt. Ähnliche Ursachen haben ähnliche Wirkungen. (Ähnlichkeitssätze von beschränkter Gültigkeit.)

    5. Gleiche Phänomene resultieren aus gleichen unmittelbaren Bedingungen. Gleiche Wirkungen haben gleiche Ursachen. (Umgekehrte Kausalsätze von beschränkter Gültigkeit)

    6. Ähnliche (gleichförmige) Erscheinungen resultieren aus ähnlichen unmittelbaren Bedingungen. Ähnliche Wirkungen haben ähnliche Ursachen. (Umgekehrte Ähnlichkeitssätze von beschränkter Gültigkeit.)

Zweites Kapitel
Die Gleichförmigkeit in Natur und Kultur (10)
Schon die ganz laienhafte Betrachtung der Körperwelt zeigt uns eine große auffällige Ähnlichkeit oder Gleichförmigkeit der einzelnen Körper. Die Bäume eines forstwirtschaftlich angelegten Nadelwaldes weisen unter sich eine große Übereinstimmung auf und alle Bäume überhaupt, ja fast alle Pflanzen zeigen eine gewisse auch für den Laien unverkennbare Gleichförmigkeit. Dasselbe gilt von den Menschen einerseits, den Pferden andererseits und allen Tieren überhaupt. Unzählige andere Beispiele für diese jedem Laien offenbare Gleichförmigkeit der Körper innerhalb eines Zeitabschnittes ließen sich anführen: die verschiedensten Städte, die Berge und Täler, die Flüsse, die Meere usw. Wir wollen die skizzierte Gleichförmigkeit der Dinge, sofern sie eine Gleichförmigkeit von Körpern an verschiedenen Orten ist, als die lokale Gleichförmigkeit der Körper bezeichnen.

Wie mit der lokalen, verhält es sich auch mit der temporalen Gleichförmigkeit der Körperwelt, wenn wir unter dieser die Gleichförmigkeit zu verschiedenen Zeiten verstehen. Innerhalb aller Jahrhunderte, von denen die Geschichte zu berichten weiß, gab es in unseren Breiten einen Sommer und einen Winter und die Sonne geht heute in ähnlicher Weise auf wie gestern. Die Kunstwerke der Alten zeigen uns, daß die Menschen schon früher ähnlich aussahen wie heute usw. Nicht nur innerhalb ein und desselben Zeitabschnittes, sondern auch innerhalb verschiedener Zeiten zeigt die Körperwelt also eine auch für den Laien unverkennbare Gleichförmigkeit.

Wenn wir vom Standpunkt des Laien unsere Bewußtseinsvorgänge und die Bewußtseinsvorgänge unserer Mitmenschen in Betracht ziehen, so ergibt sich auch in diesem Gebiet eine gewisse unverkennbare Gleichförmigkeit. Alle Menschen rechnen mit dieser Gleichförmigkeit. Wir wissen, daß gewisse Handlungsweisen alle unsere Mitmenschen verletzen und daß andere sie erfreuen. Die Berührung glühenden Eisens verursacht uns allen Schmerz. Und wenn es auch Fälle hervorragender Gedächtnisse und ein gewisses äußerst gutes pathologisches Gedächtnis und andererseits wieder sehr gedächtnisschwache Personen gibt, so weisen die Gedächtnisleistungen aller Menschen doch übereinstimmende Züge auf. Wir rechnen damit, daß, wenn wir jemand heute mit größtem Nachdruck eine Bitte vortragen, er morgen, wenn wir ihn daran erinnern, von unseren Ausführungen wenigstens etwas behalten hat. Die meisten Menschen aber haben eine unbedeutende, ganz nebenbei von uns gemachte Bemerkung nach zehn Jahren vergessen. Die Gleichförmigkeit der Bewußtseinsvorgänge bei verschiedenen Menschen, von der wir bisher sprachen, wollen wir kurz als lokale Gleichförmigkeit des Geisteslebens bezeichnen. Wir betrachten hierbei die geistigen Vorgänge als mit gewissen Körpern (Leibern) verbunden, die lokal getrennt sind und von der Gleichförmigkeit der Erlebnisse, sofern sie mit den lokal getrennten Leibern verbunden sind, haben wir bisher gehandelt.

Ebenso wie mit der lokalen Gleichförmigkeit des Geisteslebens verhält es sich mit der temporalen. Jeder Laie weiß z. B., daß seine Väter und Großväger innerhalb gewisser Grenzen ähnlich dachten und fühlten wie er usw.

Während nun eine gewisse Gleichförmigkeit der Welt auch für den Laien offen zutage liegt, führt die Wissenschaft auf Gleichförmigkeiten, die dem Laien verborgen sind.

Der Chemiker kennt das periodische System der Elemente und weiß, daß sich die verschiedenen Elemente in Gruppen ordnen lassen, deren Glieder überraschend ähnliche Verhaltensweisen zeigen. Der Astronom weiß, daß die Bewegungen der Gestirne viel größere Gleichförmigkeiten aufweisen, als dies dem Ungebildeten der Fall zu sein scheint. Der botanische und zoologische Systematiker kennt viele Übereinstimmungen zwischen den Individuen, die dem Laien verborgen sind. Er stellt die Rose und die Erdbeere, die dem Laien himmelweit auseinander zu liegen scheinen, aufgrund tatsächlicher Übereinstimmungen in dieselbe Familie der Rosaceen. Er bringt den Löwen und die Robben (Seehund, Walroß) aufgrund anatomischer Übereinstimmungen in ein und dieselbe Ordnung. Auch weisen entwicklungsgeschichtlich weit auseinander liegende Individuen oft überraschende Ähnlichkeit auf. Bei Pflanzen ganz verschiedener Familien findet z. B., sofern sie an trockenen Standorten wachsen, Sukkulenz [Flüssigkeitsansammlung - wp] statt, d. h. Ausbildung bestimmter Teile der Pflanzen zu Wasserreservoiren. Bei Tiefseetieren verschiedener Klassen finden sich eigentümliche röhrenförmige Augen, sogenannte Teleskopaugen, die für das Sehen in unmittelbarste Nähe zweckmäßig sind und bei den verschiedensten Tiefseetieren (Fischen, Zephalopoden, Krebsen) kommen Leuchtorgane vor.

Unter Konvergenzerscheinungen versteht man in der Zoologie nach OSKAR SCHMIDT übereinstimmende Anpassungen an gleiche Verhältnisse bei genealogisch nicht zusammenhängenden Tierformen. (11) Die erwähnte Tatsache der Teleskopaugen ist eine Konvergenzerscheinung, daß sie bei Tiefseetieren verschiedener Klassen infolge der Anpassung an die Erfordernisse der Umgebung, nämlich das Sehen in unmittelbarste Nähe, auftritt. Aus analogen Gründen gehört die Entstehung von Leuchtorganen bei den verschiedensten Tierformen zu den Konvergenzerscheinungen. Wenn wir den Begriff der Konvergenzerscheinungen auf das Pflanzenreich übertragen, so müssen wir auch die Sukkulenz den Konvergenzerscheinungen unterordnen. Andere Konvergenzerscheinungen sind z. B. die weiße Farbe der arktischen Fauna und die Tatsache, daß die auf dem Wasser schwimmenden Pflanzen, im Gegensatz zu den übrigen Pflanzen, nur auf den oberen Blattseiten Spaltöffnungen entwickeln. Alle Konvergenzerscheinungen sind in unserem Sinne Gleichförmigkeiten.

Auch die Kulturgeschichte führt auf eigentümliche Gleichförmigkeiten. Die Kulturen der verschiedensten Völker zeigen bekanntlich alle ähnliche Erscheinungen. Wir können auch vielfach übereinstimmende Züge in religiösen Ansichten verschiedener Völker nachweisen, die historisch nicht voneinander abhängig sind. Auch literarische Erscheinungen zeigten oft verwandten Charakter, ohne daß Abhängigkeitsverhältnisse zwischen ihnen bestünden. So findet sich z. B. die schon von den Pythagoreern angedeutete, ursprünglich orientalische Lehre (12) der ewigen Wiederkehr des Gleichen fast gleichzeitig und in ähnlicher Weise bei NIETZSCHE, BLANQI und LeBON. (13) Oft werden ähnliche Entdeckungen und Erfindungen unabhängig voneinander publiziert. Auch auf dem Gebiet der Kunst finden sich solche Gleichförmigkeiten. Schon in den Bandverzierungen der neolithischen Zeit, d. h. der jüngeren Steinzeit, finden sich Ansätze zum Mäanderschema (14) und das Rokoko und die Spätgotik entwickeln unabhängig voneinander einen Zierstil, der das Konstruktive gegenüber dem rein Schmückenden zurücktreten läßt. So zeigt sich auch auf dem Gebiet der Kultur eine große Gleichförmigkeit.

Von höchstem Interesse ist auch die Tatsache, daß die erwähnten Gleichförmigkeiten der Zoologie und Botanik auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft ein vollständiges Analogon finden. Es ist eine dem Sprachforscher wohlbekannte Tatsache, daß verschiedene Sprachen trotz ihrer starken Differenzierung spontan, d. h. voneinander unabhängig, gleiche Änderungen aufweisen. Das gilt von allen Sprachen, die überhaupt miteinander verwandt sind. So wird zum Beispiel  a  zu  e  im Ionisch-Attischen und Englischen und  ki  zur  tschi, tsi  und dgl. z. B. im Romanischen, Slavischen und Neugriechischen;  au  wir zu  o  im Lateinischen, Althochdeutschen, in deutschen Dialekten und im Hebräischen. Die Form des Genitivs wird durch  von  ersetzt im Romanischen, Holländischen, Englischen, in der deutschen Umgangssprache und in neugriechischen Dialekten. Im Romanischen, Englischen und Neugriechischen wird der Komparativ durch  mehr  ausgedrückt. Das Perfekt wir durch  haben  ausgedrückt im Neugriechischen, Albanischen, Romanischen und Germanischen. Verschiedene Sprachen weisen genau entsprechende Analogiebildungen auf. (15) Die Verwendung von  wo  als Relativpartikel anstatt  welcher  findet sich im Neugriechischen und in deutschen Dialekten. Die afrikanischen Sprachen zeigen Entwicklungsgesetze, die auch in Kultursprachen gelten. (16)

Alle die von uns erwähnten und tausend andere analoge Gleichförmigkeiten lassen sich leicht begreifen, wenn man sich der Sätze "Ähnliche, gleichförmige Erscheinungen resultieren aus ähnlichen unmittelbaren Bedingungen; ähnliche Wirkungen haben ähnliche Ursachen" erinnert.

Wenn Pflanzen ganz verschiedener Familien an trockenen Standorten Sukkulenz aufweisen, so liegt das daran, daß diese Pflanzen gleichförmigen Bedingungen unterworfen sind, welche die Sukkulenz herbeiführen. Wenn bei der arktischen Fauna die weiße Farbe vorwiegt, so ist das eine Folge der arktischen Bedingungen. Und wenn man die Konvergenzerscheinungen allgemein als übereinstimmende Anpassungen an gleiche Verhältnisse betrachten darf, so kann man sie ebensogtu als Wirkungen gleichförmiger Bedingungen betrachten. Wenn die Kinder allenthalben einander und den Eltern gleichen, wenn die Pflanzen alle eine gewisse Gleichförmigkeit aufweisen, so liegt das wiederum lediglich an der Gleichförmigkeit der Bedingungen ihres Daseins und ihres Lebens, an der Ähnlichkeit der Eizellen, des Samens, der äußeren Bedingungen usw. Auch die großen Übereinstimmungen im Bewußtseinsleben der verschiedensten Menschen verdanken ihren Ursprung gleichförmigen Bedingungen. Auch voneinander unabhängige ähnliche Kulturerscheinungen wie z. B. ähnliche religiöse Ansichten, literarische Leistungen, Erfindungen und Entdeckungen verdanken ihre Gleichförmigkeit der Gleichförmigkeit ihrer Bedingungen. Dasselbe gilt von den erwähnten Tatsachen der Sprachwissenschaft, die eine offenbare Analogie mit den Konvergenzerscheinungen aufweisen.

Schließlich verdankt die große Gleichförmigkeit der Natur und Kultur ihr Dasein der Gleichförmigkeit der Natur und Kultur ihr Dasein der Gleichförmigkeit der Bedingungen der Natur- und Kulturgegenstände. Daß freilich eine Erklärung der Gleichförmigkeit durch den allgmeinen Hinweis auf die Gleichförmigkeit ihrer Bedingungen nicht erschöpfend ist, braucht wohl nicht besonders betont zu werden.

Die hier geschilderte Gleichförmigkeit der Gegenstände, die eine sehr wesentliche Grundlage für unsere logische Begriffsbildung, die Induktion und das logische Denken überhaupt, darstellt, ist zugleich eine Grundvoraussetzung der Statistik. Alle Gegenstände, die zum Umfang einer statistisch prüfbaren Masse gehören, sind unter sich ähnliche Gegenstände. Mag sich die Statistik auf Geburten und Todesfälle, auf Eheschließungen und Ehescheidungen, auf Kaufverträge oder irgendwelche andere Handelsbeziehungen, auf biologische Erscheinungen, auf Krankheiten oder auf Ergebnisse der Glücksspiele oder auf Beobachtungsfehler beziehen, immer sind die Gegenstände der statistischen Untersuchung gleichförmige Natur- oder Kulturgegenstände.

In den folgenden Kapiteln sollen nun die bisher mitgeteilten Tatsachen der Gleichförmigkeit in verschiedener Richtung ergänzt werden. Bemerkt sei hier nur noch, daß auch die rhythmischen physiologischen Erscheinungen wie Atmung und Herzschlag, die damit zusammenhängenden rhythmischen Formen der Arbeit (17), die rhythmischen Gebilde in der Kunst und in der Sprache, die rhythmischen Lebensvorgänge bei den Pflanzen (18) sowie der Wechsel von Tag und Nacht als Belege der Gleichförmigkeit in Anspruch genommen werden dürfen. Auch der Krieg fördert eine ungeheure Menge von interessanten Gleichförmigkeiten und zwar von solchen des Handelns und Denkens zutage. Doch soll von den Gleichförmigkeiten des Krieges in diesem Buch nicht die Rede sein. Vielleicht finde ich später einmal Gelegenheit, denselben näherzutreten.

Schließlich sei noch erwähnt, daß unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der Gleichförmigkeit des Geschehens infolge gleichförmiger Bedingungen die monophyletische [gemeinsame Stammform mit allen Untergruppen - wp] Entstehung der Lebewesen wenig glaubhaft erscheint. Unter diesem Begriff faßt man bekanntlich Ansichten wie die, daß die Menschen von einem Paar abstammen oder daß sich alle Lebewesen aus einer einzigen Zelle entwickelt haben, zusammen. Jedenfalls hat die polyphyletische [keine gemeinsame Stammform - wp] Auffassung, nach welcher die Lebensprozesse an verschiedenen Orten unabhängig voneinander entstanden sind, angesichts des gleichförmigen Charakters des Geschehens in der Welt die größere Wahrscheinlichkeit für sich.
LITERATUR - Karl Marbe, Die Gleichförmigkeit in der Welt - Untersuchungen zur Philosophie und positiven Wissenschaft, München 1916
    Anmerkungen
    1) Zur Geschichte des philosophischen Kausalproblems von CARTESIUS an vgl. E. KOENIG, Die Entwicklung des Kausalproblems, Bd. 1, Leipzig 1888, Bd. 2, Leipzig 1890. Die Geschichte des philosophischen Kausalproblems von den Griechen bis zur kritischen Philosophie behandelt A. LANG, Das Kausalproblem, Erster Teil, Köln 1904, Vgl. auch J. W. A. Hickson, der Kausalbegriff in der neueren Philosophie und in den Naturwissenschaften von Hume bis Robert Mayer, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Jhg. 24, 1900, Seite 447f und Jhg. 25, 1901, Seite 19f, Seite 145f, Seite 265f, Seite 441f.
    2) Ein ganz anderer Begriff der vera causa als der im obigen Text findet sich bei NEWTON, Philosophiae naturalis phaenomenis explicandis sufficiant, London 1687, Seite 402. Über diesen Begriff der vera causa handelt F. HILLEBRAND, Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften (Philosophisch-historische Klasse), Bd. 134, Wien 1896. VI. Abhandlung, Seite 1f. Die Arbeit HILLEBRANDs "Zur Lehre von der Hypothesenbildung" erschien auch separat Wien 1896. Im Sinne unserer Lehre von der Kausalität müssen wir, wenn wir den Ausdruck "wahre Ursache" in der Weise wie NEWTON gebrauchen, sagen: Jede Erscheinung hat eine Mehrheit von unmittelbaren wahren Ursachen und eine große (genau genommen unendliche) Anzahl von mittelbaren wahren Ursachen. Im vorliegenden Buch wird der Begriff der vera causa im Sinne NEWTONs nicht verwendet. Auf den im obigen Text erwähnten Begriff kommen wir später zurück.
    3) Zum Kausalbegriff in der Rechtswissenschaft vgl. K. MARBE, Grundzüge der forensischen Psychologie, München 1913, Seite 99f
    4) ERNST MACH, "Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen", 6. Auflage, Jena 1911, Seite 73f, sowie "Erkenntnis und Irrtum", Leipzig 1905, Seite 272f
    5) JOSEPH PETZOLDT, Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung, Bd. I, Leipzig 1900, Seite 24f
    6) RICHARD AVENARIUS, "Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes", Leipzig 1876, Seite 45f, sowie "Kritik der reinen Erfahrung", 2. Auflage, Bd. I, Leipzig 1907, Seite 26, 29f und Band 2, Leipzig 1908, Seite 119f
    7) G. KIRCHHOFF, Vorlesungen über Mechanik, 4. Auflage, herausgegeben von W. WIEN (Vorlesungen über mathematische Physik, Bd. 1), Leipzig 1897, Seite Vf, Vorrede.
    8) Über den Kausalbegriff bei J. R. MAYER vgl. "Die Mechanik der Wärme" in den Gesammelten Schriften und ferner: Kleinere Schriften und Briefe von ROBERT MAYER. Beides Stuttgart 1892. Herausgegeben von J. J. WEYRAUCH.
    9) Dieser alte Satz findet sich in der obigen Form bei LINNÉ, Philosophia botanica, Nr. 77, 1751, Seite 27
    10) Für dieses Kapitel ist mein Aufsatz in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie, Jhg. 36, 1912, Seite 69f, verwertet worden.
    11) Vgl. A. WEISMANN, Vorträge über Deszendenztheorie, Bd. 2, 2. Auflage, Jena 1904, Seite 271
    12) Vgl. dazu ALOIS RIEHL, Friedrich Nietzsche, 5. Auflage, Stuttgart o. J., Seite 135
    13) Über NIETZSCHE, BLANQUI und LeBON vgl. H. LICHTENBERGER, Die Philosophie Friedrich Nietzsches. Eingeleitet und übersetzt von ELISABETH FÖRSTER-NIETZSCHE. Dresden und Leipzig, 1899, Seite 204f
    14) K. WOERMANN, Geschichte der Kunst aller Zeiten und Völker, Bd. 1, Leipzig und Wien 1900, Seite 24
    15) Beispiele in der Schrift von 'A. THUMB und K. MARBE, Experimentelle Untersuchungen über die psychologischen Grundlagen der sprachlichen Analogiebildung, Leipzig 1901.
    16) Vgl. C. MEINHOF, Die moderne Sprachforschung in Afrika, Berlin 1910, Seite 51f
    17) K. BÜCHER, Arbeit und Rhythmus, 4. Auflage, Leipzig 1909. - M. K. SMITH, Philosophische Studien, Bd. 16, 1900, Seite 71 und 197f. - D. AWRAMOFF, Philosophische Studien, Bd. 18, 1903, Seite 515f
    18) Über die rhythmischen Lebensvorgänge bei den Pflanzen vgl. das Sammelreferat von H. KNIEP, Verhandlungen der Physikalisch-medizinischen Gesellschaft zu Würzburg, Bd. 44, Heft 2, 1915, Seite 107f