p-4ra-3K. HaslbrunnerH. KohnH. DohrnD. BraunschweigerG. Noth    
 
ERNST DÜRR
Die Lehre von
der Aufmerksamkeit

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"Gefühle und Akte des Beziehungsbewußtseins sind bei ihrem ersten Auftreten im Bewußtsein bereits  psychisch bedingt, und man kann die Art des seelischen Geschehens, die bei ihrer primären Entstehung vorliegt, im Gegensatz zur  Reproduktion vielleicht als  Produktion bezeichnen."

Vorwort

Veranlassung zur Entstehung dieser Monographie über die Aufmerksamkeit war ein Ferienkurs für Lehrer, der an der Universität Würzburg im Sommer 1906 abgehalten wurde und mir Gelegenheit gab, die Grundzüge der hier ausführlicher entwickelten Auffassung zum erstenmal vor einem durch psychologische Interessen ausgezeichneten Hörerkreis zu entwerfen. Die freundliche Aufnahme, die damals meinen Darlegungen zuteil wurde, hat mich in dem Glauben bestärkt, daß die wissenschaftliche Psychologie nicht notwendig eine so lebensfremde Disziplin bleiben müsse, wie manche glauben und daß eine gewisse praktische Fruchtbarkeit auch den Ergebnissen eindringender psychologischer Analyse zukommen könne. Seither habe ich durch meine Vorlesungen über Psychologie und Pädagogik an der Universität Bern reichlich Veranlassung gefunden, diese Überzeugung auf ihre Haltbarkeit zu prüfen. Ich glaube den Grund für die so vielfach vertretene Behauptung von der Unfruchtbarkeit der Psychologie darin gefunden zu haben, daß ein beträchtlicher Teil der psychologischen Literatur in nichts anderem besteht, als in Beschreibungen oder vielmehr in Benennungen einzelner gewaltsam isolierter Erscheinungen des Seelenlebens. Das Interesse für die Funktionszusammenhänge, das den erklärenden Wissenschaften einen so gewaltigen Vorzug vor den bloß beschreibenden verschafft, scheint vollständig erstorben zu sein bei einzelnen Vertretern der sogenannten psychologischen Phänomenologie. Man beschreibt im besten Fall Sukzessionen von Bewußtseinsinhalten so, als ob alles im Seelenleben Vorausgehende in gleicher Weise Bedingung des darauf Folgenden wäre. So macht man den Willen als Strebungsgefühl oder Aktivitätsbewußtsein zur Ursache der Willenshandlung, das Ich als Ichbewußtsein zur ausschlaggebenden Bedingung einer Wahl, die Aufmerksamkeit als eigenartigen Spannungszustand zur Veranlassung für die Klarheit und Deutlichkeit einer Vorstellung, Tendenzen im Sinn gefühlsartiger Bewußtseinsinhalte zu Triebfedern des ganzen geistigen Lebens. Wenn man von dieser Art Psychologie pädagogische Nutzanwendungen machen sollte, so müßten sie etwa lauten: Man gebe dem Kind Strebungsgefühle, Aktivitätsbewußtsein, Ichbewußtsein, Spannungszustände, um es zum Denken, Wollen und Handeln instand zu setzen. Die Unsinnigkeit dieser Konsequenz dürfte genügen, Zweifel an der Haltbarkeit ihrer Voraussetzung zu erwecken.

Es hat sich aber auch neben solchen Verirrungen eine gesündere Richtung psychologischer Forschung erhalten und fortentwickelt, die in gewissem Sinn eine Fortsetzung der englischen Assoziationspsychologie bildet. Vor allem in den Gedächnisuntersuchungen einer Reihe moderner Psychologen liegen bedeutsame Leistungen dieser auf die Feststellung psychischer Kausalzusammenhänge oder psychischer Funktionsbeziehungen gerichteten Arbeitsweise vor. Dabei leidet allerdings die sogenannte Assoziationspsychologie an der Einseitigkeit, daß sie den Reproduktionsprozeß als die einzige Form psychisch bedingten Geschehens behandelt. Die Abhängigkeit der Gefühlen von den Empfindungen, die Erzeugung des Bewußtseins von Gleichheit und Verschiedenheit, von Formen und Größen, kurz des Beziehungsbewußtseins durch Inhale, läßt sich niemals assoziativ erklären. Gefühle und Akte des Beziehungsbewußtseins müssen und können nicht erst unabhängig von anderen psychischen Geschehnissen einmal gegeben sein, um dann mit diesen eine assoziative Verbindung einzugehen und weiterhin durch sie reproduziert zu werden. Gefühle und Akte des Beziehungsbewußtseins sind bei ihrem ersten Auftreten im Bewußtsein bereits  psychisch bedingt,  und man kann die Art des seelischen Geschehens, die bei ihrer primären Entstehung vorliegt, im Gegensatz zur  Reproduktion  vielleicht als  Produktion  bezeichnen.

Im Folgenden soll nun der Versuch gemacht werden, unter Vermeidung der Einseitigkeit der Assoziationspsychologie bei strenger Wahreung ihres Forschungsprinzips eines der interessantesten psychologischen Themata systematisch zu bearbeiten und bei der Feststellung psychischer Funktionsbeziehungen auf die Bedeutung, die deren Kenntnis für die Beeinflußung des Seelenlebens besitzt, jeweils ausdrücklich hinzuweisen.

Ob und in wieweit bei dieser Behandlung des Problems neue Einsichten gewonnen werden, das zu beurteilen muß dem Leser überlassen bleiben. Aber auch wenn man den folgenden Darlegungen nur die Bedeutung einer zusammenfassenden Bearbeitung des aus vielen Spezialuntersuchungen übernommenen Stoffes zuerkennen sollte, würde ich meine Arbeit nicht für verloren halten, sofern der eine oder andere mit praktischen Interessen zur Psychologie kommende Leser dadurch Erleichterung des Überblicks über die Zentralprobleme dieser Wissenschaft und Klärung einiger praktisch, vor allem pädagogisch bedeutsamen Grundbegriffe gewinnen könnte.


1. Einleitende Bemerkungen

Psychologie und Pädagogik sind engverwandte Wissenschaften, die doch aus ganz verschiedenartigen Bedürfnissen erwachsen, lange Zeit ziemlich unabhängig nebeneinander hergingen. Besonders die wissenschaftliche Psychologie, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Anwendung experimenteller Methoden entwickelt hat und die spekulative Pädagogik wollten bis vor kurzem nicht viel voneinander wissen. Die Pädagogen betrachteten großenteils die elementaren Ergebnisse der psychologischen Analyse als das gerade Gegenteil dessen, was ihnen zu wissen not tue. Sie, die das Bedürfnis empfinden, aufzubauen, statt zu zerstören, durften den analytischen Psychologen vielfach mit einem gewissen Unmut das GOETHEsche Wort entgegenhalten:
    "Und habt Ihr die Teile in der Hand,
    fehlt leider nur das geist'ge Band."
Die Psychologen aber verachteten ihrerseits die rohe Empirie und die unsicheren Spekulationen der Pädagogen und wiesen jeden Anspruch auf praktische Nutzanwendung der "reinen" Wissenschaft energisch zurück. Dagegen ließ sich auch gar nichts einwenden, solange die experimentell psychologische Forschung noch in den ersten Anfängen ihrer Entwicklung begriffen war; denn nichts kann für den Ausbau einer jungen Wissenschaft schädlicher sein, als wenn allzufrüh von ihr verlangt wird, daß sie praktischen Zwecken dienen soll. Wo wären z. B. all die Erkenntnisse geblieben, die wir der Wissenschaft von der Elektrizität verdanken, wenn man die Beschäftigung mit den unscheinbaren Phänomenen der Anziehung von Papierschnitzelen durch eine geriebene Siegellackstange, der Anziehung und Abstoßung von Hollundermarkkügelchen usw. als unfruchtbare Spielerei verachtet hätte. Damals, als man sich aus rein theoretischem Interesse diesen Dingen zuzuwenden begann, dachte wohl niemand daran, welche Lasten dereinst dem Menschen von der Kraft würden abgenommen werden, die gegenüber Objekten von minimalstem Gewicht nur so mäßige Wirkungen erkennen ließ.

Aber die Pflege der Wissenschaft um der Wahrheit willen hat schließlich doch immer auch für das praktische Leben Früchte getragen und was von einer in den ersten Stadien der Entwicklung begriffenen Disziplin nicht verlangt werden darf, das ergibt sich im Zustand der beginnenden Reife ganz von selbst.

So scheint denn auch für die Psychologie gegenwärtig der Zeitpunkt gekommen zu sein, wo ihre Errungenschaften anfangen, mit den Bedürfnissen des Lebens in Wechselwirkung zu treten. Dies zeigt sich vor allem in den veränderten Beziehungen zwischen ihr und der Pädagogik. Die beiden Disziplinen, die so lange nichts voneinander wissen wollten, beginnen sich gegenwärtig zu nähern und zwar kommt die gegenseitige Annäherung in doppelter Weise zustande.

Auf der einen Seite hat sich in den letzten Jahren eine experimentell Pädagogik entwickelt, welche bestrebt ist, die Methoden der wissenschaftlichen Psychologie zur Lösung praktisch pädagogischer Fragen nutzbar zu machen. Dabei verzichtet man auf die allzu eindringende Analyse und begnügt sich mit der Feststellung experimentell nachweisbarer  Regelmäßigkeiten,  während man die Konstatierung der eigentlichen  Kausalzusammenhänge,  die zwischen den  Elementen  gefunden werden können, der Psychologie überläßt. Was das heißen will, kann man sich am Beispiel der sogenannten Aussageforschung klar machen, die in den letzten Jahren eine Anzahl Beiträge zur praktisch pädagogischen Psychologie geliefert hat. Den Ausgangspunkt für diese Arbeiten bildete die Beobachtung, daß die meisten Menschen, die Zeugen irgendeines Ereignisses waren, hinterher nur zu einer recht wenig zuverlässigen Berichterstattung imstande sind, besonders, wenn sich der Vorgang, über den Zeugnis abgelegt werden soll, verhältnimäßig schnell abspielte und durch seine aufregenden Charakter die Zeugen verwirrte. Dieser Tatbestand würde als Untersuchungsobjekt für die analytische Psychologie vor allem die Frage anregen: Worauf beruht die Unsicherheit solcher Zeugenaussagen? Man würde daraufhin etwas konstatieren, daß im großen Ganzen drei Prozesse verfälschend auf das Endresultat der Berichterstattung einwirken können, indem einerseits die Auffassung keine objektive zu sein braucht, indem andererseits das richtig Wahrgenommene in der Erinnerung verändert werden kann und indem endlich die sprachliche Darstellung des Erinnerten möglicherweise eine inadäquate ist.

Ganz anders verhält sich die pädagogische Aussagepsychologie gegenüber demselben Tatbestand. Sie hat nicht in erster Linie  analytische  Interessen, sondern sie fragt zunächst etwa: Wie groß ist die durchschnittliche Unsicherheit bestimmter Klassen von Zeugen in verschiedenen typischen Fällen? Und im Anschluß daran sucht sie die Frage zu beantworten: Durch welche Mittel läßt sich die Aussagetüchtigkeit von Personen bestimmten Alters und Geschlechts usw. verbessern? In der Beantwortung dieser Fragen verfährt die pädagogische Psychologie ganz nach dem Muster der experimentellen Wissenschaft: Sie stellt die Bedingungen für Zeugenaussagen im Laboratorium künstlich her, registriert die Leistungen einerseits der Zeugen, die sozusagen den natürlichen Stand der Aussagetüchtigkeit repräsentieren, andererseits derjenigen (an Alter, Intelligenz usw. den ersteren ungefähr gleichstehenden), deren Aussagefähigkeit durch verschiedene erzieherische Mittel beeinflußt worden ist und prüft, unter welchen Umständen die größten Differenzen in den Leistungen "erzogener" und "unerzogener" Zeugen hervortreten.

Aus diesem Beispiel dürfte mit genügender Deutlichkeit hervorgehen, wie die psychologische Forschung gegenwärtig den praktischen Bedürfnissen der Pädagogik mehr und mehr gerecht zu werden sucht. Aber die Annäherung zwischen Pädagogik und Psychologie vollzieht sich noch in anderer Weise, nämlich dadurch, daß nun auch das, was die letztere Wissenschaft zunächst in rein theoretischem Interesse erarbeitet hat, von der ersteren gewissermaßen assimiliert wird. In den Ergebnissen auch der analytisch psychologischen Forschung steckt viel mehr an pädagogisch Fruchtbringendem, als man auf den ersten Blick anzunehmen geneigt sein möchte. Man muß daher nur mit dem Interesse des Pädagogen die psychologische Literatur durchmustern, so wird man manche Erkenntnis gewinnen, die neues Licht auf die Vorgänge des Lehrens und Lernens wirft und die das eine oder andere Problem der Erziehung einer befriedigenden Lösung zuzuführen geeignet ist.

Im Folgenden soll nun der Versuch gemacht werden, ein Gebiet psychologischer Untersuchung, das bisher überhaupt noch keine die Ergebnisse der zahlreichen Spezialarbeiten genügend berücksichtigende und doch über eine bloße Kompilation hinausgehende zusammenfassende Darstellung gefunden hat, in dieser Weise zu durchdenken. Es soll die Lehre von der Aufmerksamkeit mit besonderer Berücksichtigung pädagogischer Interessen behandelt werden und zwar wollen wir, um eine vorläufige Einteilung des Stoffes zu gewinnen, zunächst in drei Abschnitten das Wesen, die Bedingungen und die Wirkungen der Aufmerksamkeit betrachten. Dabei verstehen wir unter der Bestimmung des Wesens nichts anderes, als die Angabe derjenigen Erscheinungen, die mit dem Wort "Aufmerksamkeit" bezeichnet werden sollen und die Einordnung derselben in das System der mit ihnen verwandten Phänomene. Was die Bedingungen und die Wirkungen der Aufmerksamkeit anlangt, so soll unter jenen alles das verstanden werden, was erfahrungsgemäß von Vorteil oder von Nachteil für das Zustandekommen des Aufmerksamkeitsprozesses ist und in rein empirischer Beobachtung festgestellt werden kann, unter diesen alles das, was sich ohne Zugrundelegung einer bestimmten Theorie als Folgeerscheinung des Aufmerksamkeitsvorganges konstatieren läßt. Dabei sei ausdrücklich bemerkt, daß die Abgrenzung der Aufmerksamkeit selbst gegen ihre Bedingungen und Wirkungen notwendig etwas Unbefriedigendes haben wird, weil es sich dabei nicht um die Zerlegung eines einfachen Kausalprozesses handelt, ja weil möglicherweise schließlich die Ansicht nicht von der Hand zu weisen ist, wonach die Aufmerksamkeit - so paradox es klingen mag - nur in ihren Wirkungen besteht.

Um die in den ersten drei Abschnitten nicht zu beseitigenden Schwierigkeiten und Unklarheiten zu lösen, soll sich ein vierter Abschnitt mit der Theorie der Aufmerksamkeit beschäftigen. Hier werden wir versuchen, ein kausales Verständnis für den Zusammenhang von Erscheinungen zu gewinnen, der in den vorausgehenden Kapiteln festgestellt worden ist.

Schließlich werden wir uns dann noch mit den Unterschieden im Verhalten der Aufmerksamkeit bei verschiedenen Individuen, mit den sogenannten Aufmerksamkeitstypen und mit besonderen pathologischen und normalen Erscheinungen auf dem Gebiet der Aufmerksamkeitserlebnisse beschäftigen.
LITERATUR - Ernst Dürr, Die Lehre von der Aufmerksamkeit, Leipzig 1907