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ERNST DÜRR
Die Lehre von der Aufmerksamkeit
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"Aber worin besteht denn nun der Unterschied derjenigen Erscheinungen des Gegenstandsbewußtseins, die wir Aufmerksamkeitserlebnisse nennen und der Vorgänge unaufmerksamer Betrachtung irgendwelcher Objekte, wenn alle inhaltlichen Verschiedenheiten ausgeschlossen sind? Gibt es überhaupt noch etwas, worin sich psychische Prozesse unterscheiden können, wenn wir von Qualitäts- und Intensitätsdifferenzen absehen, von dem, was ein Gefühl anders erscheinen läßt als eine Vorstellung, eine Wahrnehmung anders, als eine Erinnerung und einen Gedanken?"

"Wir bleiben also dabei, die Aufmerksamkeit zu definieren als denjenigen Bewußtseinsgrad, den wir als Klarheit und Deutlichkeit des Erfassens von Gegenständen, als Lebhaftigkeit und Eindringlichkeit von Bewußtseinsinhalten oder in ähnlicher Weise umschreiben könne."


2. Das Wesen der Aufmerksamkeit

Was man mit dem Begriff "Aufmerksamkeit" meint, scheint wohl ohne besondere Untersuchung klar zu sein; denn wir gebrauchen dieses Wort im Alltagsleben nicht gerade selten und besonders in der Schule wird es an Häufigkeit der Anwendung vielleicht nur von seinem Gegenteil, dem Wort Unaufmerksamkeit übertroffen. Aber wenn wir genauer zusehen, so finden wir, daß hier wie anderswo der Sprachgebrauch nicht die zuverlässigste Quelle für wissenschaftliche Erkenntnisse bildet. Wir nennen  unaufmerksam  etwa einen Schüler, der beim Vortrag des Lehrers zum Fenster hinaussieht oder der, aufgerufen, nicht weiß, wovon eben die Rede war oder der beim Rechnen grobe Fehler macht. Das sind, wie man ohne weiteres erkennt, ganz verschiedene Fälle, in denen ein übereinstimmendes Verhalten, welches die Bezeichung mit einem und demselben Namen rechtfertigen könnte, sich kaum herausfinden lassen dürfte. Wer bereits mit den Ergebnissen der Psychologie vertraut ist, der merkt allerdings, daß ein gewißer gesunder Instinkt hier wie anderswo den Sprachgebrauch geleitet hat. Die genannten Beispiele stehen nämlich wirklich alle in einer gewissen Beziehung zu dem, was die Wissenschaft als das Wesen der Aufmerksamkeit betrachtet. Aber diese Beziehung ist keine solche, die uns berechtigen könnte, jene Verhaltungsweisen im strengen Sinne als Kriterien der Unaufmerksamkeit bzw. ihr Gegenteil als Kriterien der Aufmerksamkeit zu betrachten. Suchen wir uns das zu verdeutlichen! Was den zuerst genannten Fall anlangt, so besteht sicherlich ein bestimmter Zusammenhang zwischen dem, was die Psychologie "Aufmerksamkeitsrichtung" nennt und der "Blickrichtung". Das Auge ist nämlich so eingerichtet, daß eine bestimmte Stelle im Zentrum des Augenhintergrundes, der sogenannte gelbe Fleck, viel günstigere Bedingungen für die Entstehung von Gesichtswahrnehmungen enthält, als die übrigen Bezirke der Netzhaut. Durch besondere Muskeln wird infolgedessen das Auge so eingestellt, daß diejenigen Objekte, von denen sich besonders genaue Vorstellungen entstehen sollen, auf jener Stelle deutlichsten Sehens abbilden. Die übrigen im Gesichtsfeld befindlichen Gegenstände werden dann, wie man sagt, "indirekt" gesehen. Nun pflegen wir  in der Regel  unser Interesse den Dingen zuzuwenden, von denen wir besonders vollkommene Wahrnehmungsbilder erhalten und umgekehrt möglichst genaue Vorstellungen von alle dem zu erstreben, dem wir ein ausgezeichnetes Interesse entgegenbringen. Da wir außerdem infolge der sogenannten "Enge der Aufmerksamkeit" nicht allzuviel gleichzeitig beachten, d. h. aufmerksam betrachten können, so folgt, daß  mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit  behauptet werden kann, derjenige, der seinen Blick von irgendeinem Gegenstand abwendet, sei unaufmerksam in bezug auf diesen Gegenstand.

Aber man sieht zugleich, daß es sich hier keineswegs um irgendwelche Gewißheit der seelischen Diagnostik handeln kan; denn es gibt einerseits Fälle, wo wir uns gerade für das indirekt Gesehene interessieren. Man denke nur an all jene Gelegenheiten, wo wir zu beobachten wünschen, ohne unser beobachtendes Verhalten erkannt wissen zu wollen. Andererseits ist es auch nicht prinzipiell unmöglich, die Aufmerksamkeit zu teilen und außer dem direkt gesehenen Objekt noch anderes zu beachten. Ein wirkliches Kriterium der Aufmerksamkeit ist die Blickrichtung auf irgendeinen Gegenstand also sicherlich nicht.

Wie steht es nun mit dem zweiten der oben angeführten Fälle, wo Unaufmerksamkeit aufgrund mangelnder Orientiertheit über irgendwelche Inhalte der letztvergangenen Minuten konstatiert wird? Hier handelt es sich offenbar um die Annahme eines Zusammenhangs zwischen Aufmerksamkeit und Gedächtnis und wiederum ist zuzugeben, daß in gewisser Hinsicht ein solcher Zusammenhang tatsächlich besteht. Das mit Aufmerksamkeit Wahrgenommene wird besser im Gedächtnis festgehalten und taucht leichter in der Erinnerung wieder auf wie das Nichtbeachtete. Aber wenn infolgedessen die fehlende Erinnerung an einen der jüngsten Vergangenheit angehörenden Inhalt in der Praxis wohl meist als Beweis für ein unaufmerksames Verhalten diesem Inhalt gegenüber gelten darf, so muß doch abermals darauf hingewiesen werden, daß ein wissenschaftlich gültiges Kriterium der Aufmerksamkeit bzw. der Unaufmerksamkeit hier nicht vorliegt. Es ist sehr wohl möglich, daß auch Inhalte, die in dieser Sekunde mit Aufmerksamkeit erfaßt werden, in der nächsten dem Gedächtnis entschwunden sind. Man braucht nur einen sogenannten tachistoskopischen Versuch anzustellen, d. h. eine Anzahl von Objekten für sehr kurze Zeit sichtbar zu machen und dann eine Aussage über das Gesehene zu versuchen, so wird man sehen, wie viel von dem, was man mit konzentriertester Aufmerksamkeit erfaßt zu haben sich bewußt ist, in Bruchteilen einer Sekunden schon wieder vergessen wird. Und wie die aufmerksame Betrachtung gar keine Garantie dafür enthält, daß ihr Gegenstand wenigstens nach ganz kurzer Zeit noch dem Bewußtsein gegenwärtig ist, so braucht andererseits keineswegs das Nichtbeachtete dem Gedächtnis für immer verloren zu sein. Wohl jedem ist es schon einmal passiert, daß er, in Gedanken versunken durch eine Straße wandernd, plötzlich ein Plakat oder ein Firmenschild vor seinem geistigen Auge sah, von dem er nun wohl wußte, daß es sich kurz zuvor in seinem Gesichtsfeld befunden habe, obwohl es nicht beachtet worden war. Kurz, auch die "Erinnerbarkeit", wenn dieses Wort gestattet ist, gehört nicht zum Wesen der Aufmerksamkeitserlebnisse.

Betrachten wir endlich den dritten der erwähnten Fälle, wo die Entgleisung beim Rechnen als Zeichen der Unaufmerksamkeit angesehen wird. Hier stoßen wir auf die schwierige Frage, inwieweit die Richtung des Vorstellungs- und Gedankenverlaufs auf logisch wertvolle Ziele einen Zusammenhang mit der Aufmerksamkeit erkennen läßt. Es ist sicher, daß die sogenannte Determination des Denkens durch eine Aufgabe, also die logische Kontrolle, vielfach nur durch intensive Anspannung der Aufmerksamkeit möglich ist. Und wenn man mittels der psychologischen Analyse tiefer dringt, so ergibt sich ein gewisses Verständnis dieser Tatsache aus der Einsicht, daß die Aufmerksamkeit das Erfassen von Beziehungen erleichtert. Im Erfassen von Beziehungen besteht, wie wir später noch gründlicher zeigen werden, die Hauptleistung des Denkens. Wenn z. B. die Denkoperation analysiert wird, die im Kürzen eines Bruchs, etwa des Quotienten 20/60, sich vollzieht, so ergibt sich, daß vor allem das Erfassen der Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Zähler und Nenner, des übereinstimmenden Aufbaus derselben aus Zehnern, den Denkakt darstellt. Nun werden die kompliziertesten Beziehungen wohl nur durch Aufmerksamkeit entdeckt. Aber weder genügt die Aufmerksamkeit, um uns jede Beziehung auch wirklich ohne weiteres zu Bewußtsein zu bringen, noch darf ein Beziehungsbewußtsein ohne Aufmerksamkeit als ein Ding der Unmöglichkeit bezeichnet werden. Es ist ja bekannt, daß ein unbegabter Schüler trotz aller Aufmerksamkeit recht mangelhafte rechnerische Leistungen aufzuweisen hat, während der Begabte selbst bei abgelenkter Aufmerksamkeit einfache Rechenoperationen fehlerlos auszuführen vermag. Also auch das richtige Rechnen, allgemeiner das richtige Denken oder, wie wir statt dessen sagen dürfen, das Erfassen von Beziehungen charakterisiert nicht das Wesen der Aufmerksamkeit.

Aber nun wendet man vielleicht ein, der Tatbestand, der das Urteil "unaufmerksamer Schüler" rechtfertigte, sei im bisherigen nicht erschöpfend geschildert. Nicht die bloße Blickrichtung z. B. sondern der ganze Habitus des Unaufmerksamen lasse ihn als solchen erkennen. Die glatte Stirn, die nachlässige Haltung, der schweifende Blick, der Mangel jeglicher Spannung in der Gesichtsmuskulatur - das alles, sagt man, rufe einen Totaleindruck hervor, der charakteristisch sei für das Verhalten der Unaufmerksamkeit. Dieser Einwand ist in der Tat vollkommen berechtigt, sofern es sich um die Entscheidung der Frage handelt, ob der Lehrer Psychologie studiert haben müsse, um die Fähigkeit der Seelendiagnose in Fällen wie dem gegenwärtig in Rede stehenden zu besitzen. Das ist natürlich nicht nötig: Es gehört nur eine kleine Dosis praktischer Menschenkenntnis dazu, um einem Schüler aus den Gesichtszügen abzulesen, ob er aufmerksam ist oder nicht.

Aber ist damit ein Wissen um das Wesen der Aufmerksamkeit gegeben? Dürfen wir etwa den Satz formulieren, die Aufmerksamkeit sei ein Zustand, der sich in diesen ganz bestimmten körperlichen Ausdruckserscheinungen manifestiere? Es gibt in der Tat Psychologen, die hierauf ohne weiteres mit Ja antworten, die sogar vor der Behauptung nicht zurückschrecken, die Aufmerksamkeit sei ein motorisches Phänomen. (1) Diese Auffassung steht in vollkommenem Parallelismus zu jener berühmten Ansicht über das Wesen der Gefühle, die in dem paradoxen Satz prägnant zum Ausdruck kommt: Wir weinen nicht, weil wir traurig sind, sondern wir sind traurig, weil wir weinen. Ganz analog dieser nach den Psychologen JAMES und LANGE benannten Theorie vom Wesen der Gefühle könnte man die Anschauung etwa des französischen Psychologen RIBOT in die Worte kleiden: Wir führen nicht diese oder jene unserem Gesicht den charakteristischen Ausdruck der Spannung oder Überraschung verleihenden Muskelkontraktionen aus, weil wir aufmerksam sind, sondern wir sind aufmerksam, weil sich diese motorischen Prozesse in unserem Organismus abspielen. Aber es bedarf gar keine so paradoxen Formulierung, des genügt die Behauptung, die Ausdrucksbewegungen seien der wesentliche Bestandteil des (im übrigen mit ihnen nicht zusammenfallenden) Aufmerksamkeitsphänomens, um unsere Untersuchung über das Wesen der Aufmerksamkeit zum Abschluß zu bringen, wenn diese Behauptung nämlich zu Recht besteht.

Aber das ist, wie sich leicht zeigen läßt, nicht der Fall. Man braucht sich nur die Frage vorzulegen, ober der Hauptunterschied zwischen dem aufmerksamen und dem unaufmerksamen Schüler, der eine so weitgehende Verschiedenheit der Wertschätzung beider bedingt, etwa darin besteht, daß eine ein paar Spannungsempfindungen mehr in seinem Bewußtsein hat, als der andere. Und wer sich durch diese Überlegung noch nicht abbringen läßt vom Gedanken, die Aufmerksamkeit sei im Grunde ein motorisches Phänomen, der berücksichtige doch die Möglichkeit, die so oft verwirklicht ist, daß der dem Vortrag des Lehrers gegenüber unaufmerksame Schüler irgendeinem anderen Gegenstand in höchstem Maße seine Aufmerksamkeit zuwendet. Hinsichtlich des motorischen Verhalten ist zwischen diesem und dem "aufmerksamen" Schüler keinerlei Unterschied zu konstatieren. Aber welcher Lehrer würde den beiderseits vorliegenden Tatbestand wirklich für gleichartig halten?

Das Wesen der Aufmerksamkeit muß offenbar in einer viel engeren Beziehung zum Bewußtseinsprozeß, in welchem irgendein Gegenstand erfaßt wird, bestehen - in einer viel engeren Beziehung, als jemals zwischen den Empfindungen von Muskelkontraktionen und irgendwelchen gleichzeitig damit auftretenden Bewußtseinsinhalten ganz anderer Art zustande kommen kann. Die Aufmerksamkeit muß ein besonderer Charakter pädagogisch wünschenswerter Bewußtseinsphänomene sein, durch welchen der Wert dieser letzteren noch gesteigert wird. Das darf vielleicht unter Bezugnahme auf die Erfahrungen des Lehrers ohne weiteres behauptet werden.

Aber damit haben wir die abschließende Antwort auf unsere Frage nach dem Wesen der Aufmerksamkeit noch nicht gefunden. Besondere Charaktere psychischer Erscheinungen gibt es nicht wenige und viele derselben können als wertvoll betrachtet werden. Wir unterscheiden vor allem die Eigentümlichkeit solcher Bewußtseinsvorgänge, die wir als Gefühle bezeichnen und solcher, die wir Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken, zusammenfassend vielleicht die "theoretische Seite des Seelenlebens" oder "Gegenstandsbewußtsein" nennen. Dürfen wir nun etwa behaupten, das Wesen der Aufmerksamkeit bestehe in bestimmten Gefühlen oder in bestimmten Inhalten des Gegenstandsbewußtseins oder in einer Kombination aus beiden? Auch diese Art der Beantwortung unserer Frage gehört nicht in das Reich der Unmöglichkeit. Es hat in der Tat Psychologen gegeben, welche die Aufmerksamkeit als ein Gefühl betrachteten. Aber diese Auffassung darf gegenwärtig wohl als eine historische bezeichnet werden und braucht uns nicht weiter zu beschäftigen. Wir dürfen, ohne Widerspruch befürchten zu müssen, den Satz aufstellen, daß sich die Aufmerksamkeit in Unterschieden von Prozessen des  Gegenstandsbewußtseins  manifestiere und daß diese Unterschiede  nicht  diejenigen zweier Gruppen von Inhalten seien, von denen die eine als Grundlage der Aufmerksamkeitserlebnisse in Betracht käme, die andere nicht. Es gibt ja nicht nur einige Gegenstände, in deren Betrachtung wir aufmerksam sein können, während die übrigen stets ohne Aufmerksamkeit perzipiert würden, sondern die Aufmerksamkeit kann sich im Erfassen jedes Gegenstandes betätigen. Da nun der Gesamtheit der Objekte die Summe der  inhaltlichen  Verschiedenheiten innerhalb des Gegenstandsbewußtseins entspricht, so kann die Aufmerksamkeit nicht als Eigentümlichkeit bestimmter, der theoretischen Seite des Seelenlebens zugehöriger Bewußtseinsinhalte betrachtet werden. Man darf also nicht etwa sagen, die Aufmerksamkeit sei etwas, was den Wahrnehmungen im Unterschied von Erinnerungs- und Phantasievorstellungen oder von Gedanken zukomme. Noch weniger kann man daran denken, die Aufmerksamkeit für das Privilegium eines oder mehrerer Sinnesgebiete zu halten oder zu bestimmten Qualitäten und Intensitätsgraden in Beziehung zu setzen. So nahe vielleicht manchem die Annahme zu liegen scheint, wonach besonders intensive Sinneseindrücke eben das sind, was wir Aufmerksamkeitserlebnisse nennen, so wenig haltbar ist eine solche Behauptung. Wir werden zwar weiterhin sehen, daß höhere Intensitätsgrade der Empfindungen günstige  Bedingungen  für das Zustandekommen von Aufmerksamkeitserlebnissen bedeuten. Wir werden auch finden, daß als  Wirkung  der Aufmerksamkeit zuweilen eine Steigerung der Empfindungsintensität konstatiert werden kann. Aber das Wesen der Aufmerksamkeit können wir nicht in irgendwelchen Intensitätsstufen psychischer Prozesse erblicken. Ein beachteter Ton z. B.  muß  sich von einem unaufmerksam wahrgenommenen nicht durch größere Stärke der Empfindung unterscheiden. Es kann vielmehr ein intensiver Klang unbeachtet bleiben, während ein leiser Ton die Aufmerksamkeit erregt und die Intensitätssteigerung, die der letztere eben durch sein Beachtetwerden erfährt, braucht keineswegs so groß zu sein, daß er erstere daneben als der schwächere erscheint.

Aber worin besteht denn nun der Unterschied derjenigen Erscheinungen des Gegenstandsbewußtseins, die wir Aufmerksamkeitserlebnisse nennen und der Vorgänge unaufmerksamer Betrachtung irgendwelcher Objekte, wenn alle inhaltlichen Verschiedenheiten ausgeschlossen sind? Gibt es überhaupt noch etwas, worin sich psychische Prozesse unterscheiden können, wenn wir von Qualitäts- und Intensitätsdifferenzen absehen, von dem, was ein Gefühl anders erscheinen läßt als eine Vorstellung, eine Wahrnehmung anders, als eine Erinnerung und einen Gedanken? In Beantwortung dieser Frage konstatieren wir, daß das, was allen Bewußtseinsvorgängen gemeinsam ist, der Charakter der Bewußtheit oder wie wir diese gemeinsame Eigentümlichkeit sonst nennen wollen, keineswegs in allen Fällen  gleich  ist. Sogar inhaltlich gleiche psychische Prozesse können uns in verschiedener Weise bewußt sein, ebenso wie inhaltlich verschiedene Bewußtseinsvorgänge häufig in der Art ihrer Bewußtheit übereinstimmen. Mit Rücksicht auf diese Tatsache sprechen einzelne Psychologen (2) von Verschiedenheiten des Bewußtheitsgrades, die nichts zu tun haben mit den Unterschieden dessen, was den Inhalt unseres Bewußtseins bildet. Aber auch Psychologen, die mit dem Begriff des Bewußtheitsgrades nichts glauben anfangen zu können, müssen zugeben, daß Differenzen zwischen Bewußtseinsinhalten, die man als solche der "Klarheit und Deutlichkeit" bezeichnet, etwas ganz anderes sind, als Intensitäts- und Qualitätsunterschiede.

Bedenken wir nun, daß gerade die verschiedene Klarheit und Deutlichkeit der Gegenstände, die verschiedene Eindringlichkeit und Lebhaftigkeit der Inhalte charakteristisch sind für den Zustand der Aufmerksamkeit und der Unaufmerksamkeit, dann erscheint es nicht nur als notwendige Konsequenz unserer bisherigen Betrachtungen, sondern auch als eine durch den Hinweis auf Tatsachen gerechtfertigte Behauptung, wenn wir sagen, das Wesen der Aufmerksamkeit bestehe in einer besonderen Höhe des Bewußtseinsgrades, während "Unaufmerksamkeit" gleichbedeutend sei mit "niedrigem Bewußtseinsgrad." (3)

Dagegen beruft man sich nun vielleicht auf den Sprachgebrauch, mit dem diese Auffassung nicht so recht scheint in Einklang gebracht werden zu können. Wie soll z. B. die Aufforderung, die wir im Leben so oft aneinander richten, "aufzupassen", die Aufmerksamkeit "anzustrengen" usw. verstanden werden, wenn das Wesen der Aufmerksamkeit nur in der Klarheit, Deutlichkeit, Lebhaftigkeit und Eindringlichkeit des im Bewußtsein Erfaßten besteht? Im gewöhnlichen Sprachgebrauch wird doch offenbar die Aufmerksamkeit wie eine  Tätigkeit  behandelt, während sie nach unserer Definition als ein Zustand erscheint oder als abstrakte Seite eines Erlebnisses, das nur als konkretes Ganzes auf Wirklichkeit Anspruch machen kann.

Nun ist zunächst freilich daran festzuhalten, daß der allgemeine Sprachgebrauch nur dem Standpunkt der Vulgärpsychologie entspricht, daß also im Konfliktsfall nicht die wissenschaftliche Festsetzung, die zur herkömmlichen Auffassung in Gegensatz tritt, sondern vielmehr die letztere das Feld räumen muß. Aber es besteht doch eine gewisse Verpflichtung, nachzuweisen, warum irgendeine Annahme der Psychologie des "gesunden Menschenverstandes" von der Wissenschaft verworfen wird.

Dieser Nachweis läßt sich nun in bezug auf die vulgärpsychologische Betrachtung der Aufmerksamkeit als einer Tätigkeit unschwer erbringen. Man braucht nur zu betonen, daß der Begriff der Tätigkeit zu den anthropomorphistischen Begriffen gehört, die der nichtanalysierenden Betrachtung des Verhältnisses zwischen Mensch und Umwelt entstammen. So lange man nämlich nicht einsieht, daß jeder Organismus einen Komplex von Elementen darstellt, die untereinander und mit der Außenwelt in lebhafter Wechselwirkung stehen, daß also die verschiedenen Lebensäußerungen des Organismus Reaktionen unterschiedlicher Bestandteile sind, veranlaßt durch die mannigfachen Anregungen, die von anderen Teilen desselben Individuums oder von der Umgebung ausgehen, solange betrachtet man "das Subjekt" als die stets identische Ursache seiner Leistungen und bezeichnet die letzteren als  Tätigkeiten,  als spontane Produktionen im Unterschied von kausal bedingten  Geschehnissen.  Wenn dagegen die Wissenschaft alle Lebensäußerungen zu erklären, d. h. als Wirkungen bestimmter Ursachen darzustellen sucht, so darf sie nicht mit dem Begriff Tätigkeit operieren. (4)

Die Betrachtung der Aufmerksamkeit als einer Tätigkeit dürfen wir also wohl ablehnen, obwohl sie noch nicht bei allen Psychologen ganz konsequent vermieden wird. Aber ist damit auch der ganze Gegensatz zwischen der gewöhnlichen Auffassung und unserer Definition beseitigt? Es scheint doch, als ob man auch ohne Anwendung des Begriffs "Tätigkeit" eine Behauptung formulieren könnte, die mit unserer Bestimmung des Wesens der Aufmerksamkeit nicht übereinstimmt, dagegen der vulgärpsychologischen Betrachtungsweise ziemlich nahe kommt. Man braucht nur die Aufmerksamkeit als denjenigen Prozeß zu definieren, durch welchen die besondere Klarheit, Deutlichkeit, Lebhaftigkeit usw., kurz ein besonders hoher Bewußtseinsgrad im Erfassen irgendeines Gegenstandes herbeigeführt wird. In diesem Falle würde also die  Ursache  dessen, worin wir das Wesen der Aufmerksamkeit gesehen haben, als Aufmerksamkeit bezeichnet werden.

Ein vernünftiger Einwand gegen eine solche Festsetzung scheint sich angesichts der Willkürlichkeit der Definitionen nicht erheben zu lassen und den Vorzug der Zweckmäßigkeit hat diese Begriffsbestimmung bei ihrer Anlehnung an den Sprachgebrauch anscheinend vor allen anderen. Es gibt denn auch Psychologen, die so oder ähnlich denken und demgemäß die Aufmerksamkeit mit dem Vorgang des Erzeugens hoher Bewußtseinsgrade identifizieren.

Aber wenn wir uns nun einen Augenblick auf diesen Standpunkt stellen, dann erhebt sich sogleich die Frage: Welcher Art ist eigentlich der in Rede stehende Vorgang? Ist er etwas Bewußtes, wie Vorstellungen, Gedanken, Gefühle usw. oder etwas Unbewußtes, wie physiologische Prozesse oder wie die psychischen Vorgänge des Entstehens von Bewußtseinsinhalten, die neben dem Bewußt-Gewordenen ihrerseits nicht in besonderen psychischen Qualitäten von uns erfaßt werden? IN der Beantwortung dieser Frage scheinen die Antworten der hier in Betracht kommenden Psychologen auseinanderzugehen. Die einen, die mit WUNDT Aufmerksamkeit und Wille für identische halten und den Willen als Bewußtseinserscheinung bezeichnen, in welcher sich Vorstellungen und Gefühle durchschlingen, müssen natürlich auch den Aufmerksamkeitsvorgang im Sinne des den Bewußtseinsgrad irgendeines Erlebnisses steigernden Prozesses für etwas Bewußtes erklären. Aber sie geraten dabei in die größten Schwierigkeiten, wenn sie die Bewußtseinsqualitäten näher zu bestimmen versuchen, in denen die Aufmerksamkeit ihrer Meinung nach besteht. Spannungsempfindungen, Aktivitätsgefühle und ähnliches werden dann zur Beschreibung der Aufmerksamkeit herangezogen. Fragt man nun, ob diese Bewußtseinsphänomene wirklich die Ursache sein können für das Klar- und Deutlich-Werden einer Vorstellung, so denkt wohl niemand im Ernst an eine solche Annahme. Trotzdem wird die unhaltbare Position nicht aufgegeben. Deshalb ist es vielleicht nicht überflüssig, wenn wir betonen, daß Spannungsempfindungen, Aktivitätsgefühle und andere derartige Erlebnisse  Begleiterscheinungen  dessen sind, was wir als Wesen der Aufmerksamkeit bezeichnet haben. Sie verschwinden nicht, sie gehen nicht ein in den Prozeß des klaren, deutlichen, eindringlichen Erfassens eines Gegenstandes, sondern sie dauern daneben fort. Die Identifizierung dieser Begleiterscheinungen mit dem Wesen der Aufmerksamkeit erscheint schon deshalb als unzweckmäßig, weil sie recht verschiedenen Charakter aufweisen in verschiedenen Fällen, in denen wir gleichmäßig Aufmerksamkeitserlebnisse konstatieren. Aber wir brauchen uns hier mit der Widerlegung einer derartigen Auffassung gar nicht zu beschäftigen, da wir es gegenwärtig nur mit der Ansicht zu tun haben, wonach Aufmerksamkeit die  Ursache  einer Steigerung des Bewußtseinsgrades heißen soll. Ein in psychischen Qualitäten sich darstellender Bewußtseinsvorgang scheint als derartige Ursache nicht in Betracht zu kommen. (5)

Also müssen die Vertreter der gegenwärtig in Rede stehenden Auffassung den Begriff Aufmerksamkeit reservieren für unbewußte Prozesse. Dagegen ließe sich nun an und für sich nichts einwenden, wenn uns nur diejenigen physiologischen oder unbewußt psychischen Tatsachen bekannt wären, auf denen die Klarheit und Deutlichkeit des Erfassens von Gegenständen beruth. Das ist aber nicht oder nicht genügend der Fall. Infolgedessen bezeichnet das Wort Aufmerksamkeit, wenn es in dem fraglichen Sinn gebraucht wird, entweder etwas Unbekanntes (6) oder etwas hypothetisch Angenommenes. Demgegenüber ziehen wir es doch vor, die gegebenen psychologischen Begriffe zunächst zur Bezeichnung feststehender psychologischer Tatsachen zu verwenden und dann nötigenfalls für das diesen Tatsachen zugrunde Liegende besondere, nicht dem psychologischen Wortschatz entnommene Namen zu suchen. Wir bleiben also dabei, die Aufmerksamkeit zu definieren als denjenigen Bewußtseinsgrad, den wir als Klarheit und Deutlichkeit des Erfassens von Gegenständen, als Lebhaftigkeit und Eindringlichkeit von Bewußtseinsinhalten oder in ähnlicher Weise umschreiben könne. (7) Was wir über die Ursache dieser Erscheinung zu wissen glauben, darüber wird die Theorie der Aufmerksamkeit Aufschluß geben. Jetzt aber wenden wir uns zunächst der Betrachtung dessen, was wir als "Bedingungen der Aufmerksamkeit" in unser Programm aufgenommen haben.
LITERATUR - Ernst Dürr, Die Lehre von der Aufmerksamkeit, Leipzig 1907
    Anmerkungen
    1) TH. RIBOT, Psychologie de l'attention, 9. Auflage, Paris 1906, Seite 38
    2) Vgl. W. WIRTH, Zur Theorie des Bewußtseinsumfangs und seiner Messung, Philosophische Studien Bd. XX, Leipzig 1902, Seite 493 und A. PFÄNDER, Einführung in die Psychologie, Leipzig, 1904, Seite 353
    3) Gegen diese Bestimmung kann der Einwand erhoben werden, daß eine derartig unbestimmte quantitaive Unterscheidung zwischen "besonders hohen" und "niedrigen" Bewußtheitsgraden uns kaum berechtige, auf die ersteren zusammenfassend die Bezeichnung "Wesen der Aufmerksamkeit" anzuwenden. Vgl. KÜLPE, Grundriß der Psychologie, Leipzig, 1893, Seite 440. Dieser Einwand trifft aber nur denjenigen, der den unnützen Begriff Aufmerksamkeit geprägt hat oder denjenigen, der unter dem "Wesen der Aufmerksamkeit" etwas anderes versteht als wir.
    4) Eine hiervon abweichende Ansicht vertritt neuerdings WILLIAM STERN in seinem erkenntnistheoretisch-metaphysischem Werk "Person und Sache."
    5) Vgl. OSWALD KÜLPE, Grundriß der Psychologie, Leipzig 1893, Seite 440
    6) Vgl. ALOIS HÖFLER, Psychologie, Wien 1897, Seite 265
    7) Über eine hier nicht weiter berührte Möglichkeit der Wesensbestimmung der Aufmerksamkeit vgl. A. F. SHAND, "An anylisis of attention", Mind N. S. III, 1894, Seite 449f