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RUDOLF EISLER
Apperzeption

"Alle Apperzeption ist ein Willensvorgang, bei dem nicht der Gegenstand selbst, sondern seine Wahrnehmung gewollt wird."

"Wir fassen ein Objekt auf, heißt, daß wir zu einem bestimmten Handlungstypus übergehen."

Apperzeption (apperceptio von ad-percipere) heißt jetzt die Klarwerdung bzw. Klarmachung eines Vorstellungsinhalts durch aufmerksames Erleben desselben. Die Wirkung des Apperzipierens besteht in der größeren Bestimmtheit, Bewußtheit des Vorstellungsinhalts und in der Einreihung desselben in den Zusammenhang des Ichbewußtseins. Die passive Apperzeption ist eine Triebhandlung, geht von einer gefühlsbetonten Vorstellung als Motiv der Aufmerksamkeitseinstellung aus. Die aktive Apperzeption ist eine Willkür- oder eine Wahlhandlung, in ihr bekundet sich die Einheit, Totalität und Aktivität des Ich. Die aktive Apperzeption liegt allem Denken, aller produktiven Phantasietätigkeit und allen äußeren Willenshandlungen zugrunde; sie selbst ist schon eine (innere) Willenshandlung, die den Verlauf der Vorstellung hemmt, dirigiert, ordnet. Bevor noch der Begriff der Apperzeption gebildet ist, betont man verschiedenerseits die Funktion der Aufmerksamkeit für das Bemerken, bewußte Erfassen, Bevorzugen eines Inhaltes. So schon AUGUSTINUS, DUNS SCOTUS, DESCARTES.

Begründet wird die Lehre von der Apperzeption von LEIBNIZ. Unter Apperzeption versteht er zunächst die bewußte im Unterschied von der unbewußten (unterbewußten) Vorstellung (der »petite perception«), die durch Zuwachs oder Addition zu einer bewußten werden kann. Die Apperzeption ist eine "perceptio melior, cum attentione et memoria coniuncta" [eine bessere Wahrnehmung mit Aufmerksamkeit und Gedächtnis verbunden - wp]. Apperzeptionen haben nur die höheren, geistigen Monaden. Zugleich ist die Apperzeption Erfassung des inneren, seelischen Zustandes im Subjekte. Da aber die Reflexion auf das Ichbewußtsein zurückführt, so bedeutet Apperzeption die Erhebung einer Vorstellung ins Selbstbewußtsein, ist sie das Bewußtsein eines Inhaltes zugleich mit dem Bewußtsein, daß dieser Inhalt in meinem Bewußtsein ist. Die Apperzeption unterscheidet sich von der "verworrenen" Vorstellung durch ihre Klarheit. Sofern wir apperzipieren, sind wir aktiv. CHRISTIAN WOLFF bringt gleichfalls die Apperzeption zum Selbstbewußtsein in Beziehung. TETENS stellt das Apperzipieren als aktive Bewußtseinstätigkeit als "neue hinzukommende Aktion der Seele" der Perzeption gegenüber.

KANT gebraucht den Ausdruck "empirische Apperzeption" gleichbedeutend mit dem des "inneren Sinnes". Sie ist "das Bewußtsein seiner selbst, nach den Bestimmungen unseres Zustandes bei der inneren Wahrnehmung". Von diesem "wandelbaren" Ichbewußtsein (Kr. d. r. V. Seite 121) unterscheidet er die "transzendentale Apperzeption" als reine, konstante, synthetische, aktive Ichheit. JACOB versteht unter Apperzeption die Auffassung und Zusammenfassung von Vorstellungsinhalten zu einem Ganzen. Einen neuen Begriff der Apperzeption führt HERBART ein. Apperzeption ist nach ihm die Aufnahme und Bearbeitung von Vorstellungen durch eine Reihe anderer, neuer durch alte, manchmal auch alter durch neue Vorstellungen. Die stärkeren Vorstellungen sind die apperzipierenden, die schwächeren die apperzipierten; diese verschmelzen mit jenen. Neue Vorstellungen werden apperzipiert, an- oder zugeeignet, indem "ältere gleichartige Vorstellungen erwachen, mit jenen verschmelzen und sie in ihre Verbindungen einführen" (Psychologie als Wissenschaft II, § 126). "Anstatt daß die apperzipierten Vorstellungen sich nach ihren eigenen Gesetzen zu heben und zu senken im Begriff sind, werden sie in ihren Bewegungen durch die mächtigeren Massen unterbrochen, welche das ihnen Entgegengesetzte zurücktreiben, obschon es steigen mochte, und das ihnen Gleichartige, wenngleich es sinken sollte, anhalten und mit sich verschmelzen" (Lehrbuch zur Psychologie, Seite 32 f). Durch die Aufnahme neuer Vorstellungen seitens eines gefestigten Bestandes alter Vorstellungen, sog. "Vorstellungsmassen", geschieht die Bereicherung unseres Seelenlebens, die Deutung und Erkennung des Unbekannten. VOLKMANN definiert ebenfalls die Apperzeption als "Verschmelzung einer neuen isolierten Vorstellungsmasse mit einer älteren, ihr an Umfang und innerer Ausgeglichenheit überlegenen« (Lehrbuch der Psychologie II, Seite 190). STEINTHAL nennt die apperzipierenden Vorstellungen apriorische, die apperzipierten aposteriorische; er unterscheidet eine identifizierende, subsumierende, harmonisierende, disharmonisierende Apperzeption. (Einleitung in die Psychologie) Nach LAZARUS ist die Apperzeption die Reaktion der "vom Inhalt bereits erfüllten, durch die früheren Prozesse seiner Erzeugung ausgebildeten Seele" (Leben der Seele II, Seite 42). Jede wirkliche Perzeption ist schon Apperzeption. Nach LIPPS wird ein Inhalt apperzipiert, "wenn er solche in der Seele vorhandenen Assoziationen wachruft, die ihn mit einem vorher vorhandenen Inhalte in gesetzmäßige Beziehung setzen" (Grundriss der Seelenkunden, Seite 407). Wir apperzipieren, indem wir "Inhalte uns aneignen, d.h. sie zu unserem Selbstgefühl in Beziehung bringen oder in das System unseres Selbstbewußtseins einordnen" (Seite 409). Es gibt eine logische, ästhetische, praktische Apperzeption. STOUT definiert die Apperzeption als den Prozess, vermittelst dessen ein vorhandener geistiger Vorrat um ein neues Element vermehrt wird (Analytische Psychologie II). Ähnlich JODL (Lehrbuch der Psychologie, Seite 443). WILHELM JERUSALEM versteht unter Apperzeption "die Formung und Aneignung einer Vorstellung infolge der durch die Aufmerksamkeit aktuell gewordenen Vorstellungsdispositionen" (Lehrbuch der Psychologie, Seite 87). Die Apperzeption gibt dem Vorstellungsverlauf "die Richtung und einen gewissen Abschluß". Die am leichtesten erregbaren apperzipierenden Vorstellungsgruppen sind die "herrschende Apperzeptionsmasse". "Fundamentale" Apperzeption ist die "Apperzeptionsweise..., durch welche alle Vorgänge der Umgebung als Willensäußerungen selbständiger Objekte gedeutet werden". Sie liegt der Urteilsfunktion und den Kategorien zugrunde. MÜNSTERBERG: "Wir fassen ein Objekt auf, heißt, daß wir zu einem bestimmten Handlungstypus übergehen." In den motorischen Zentren bestehen molekulare Dispositionen, vermöge deren der Reiz eine komplexere Wirkung auslösen kann, als seiner isolierten Einwirkung entsprechen würde (Prinzipien der Psychologie, Seite 551). Nach HUSSERL ist Apperzeption "der Überschuß, der im Erlebnis selbst, in seinem deskriptiven Inhalt gegenüber dem rohen Dasein der Empfindung besteht" (Logische Untersuchungen II, Seite 363). Als Willensvorgang wird die Apperzeption von WUNDT bestimmt, zugleich als bewußtseinssteigernder, hemmender, ordnender Akt. Apperzeption nennt WUNDT "den einzelnen Vorgang, durch den irgend ein psychischer Inhalt zu klarer Auffassung gebracht wird", im Unterschiede von der bloßen Perzeption (Grundzüge der Psychologie, Seite 249). "Die Inhalte, denen die Aufmerksamkeit zugewandt ist, bezeichnen wir, nach Analogie des äußeren optischen Blickpunktes, als den Blickpunkt des Bewußtseins oder den inneren Blickpunkt, die Gesamtheit der in einem gegebenen Moment vorhandenen Inhalte dagegen als das Blickfeld des Bewußtseins oder das innere Blickfeld". Nur ein sehr kleiner Teil unserer Vorstellungen wird jederzeit, mit verschiedener Klarheit, apperzipiert. In zwei Formen tritt die Apperzeption auf. "Erstens: Der neue Inhalt drängt sieh plötzlich und ohne vorbereitende Gefühlswirkung der Aufmerksamkeit auf; wir bezeichnen diesen Verlaufstypus als den der unvorbereiteten oder der passiven Apperzeption." Sie ist durch ein Gefühl des Erleidens charakterisiert, das aber rasch in ein Tätigkeitsgefühl übergeht (Seite 259). "Zweitens: Der neue Inhalt wird durch Gefühlswirkungen... vorbereitet, und es ist infolgedessen schon vor seinem Eintritt die Aufmerksamkeit auf ihn gespannt; wir bezeichnen diesen Verlaufstypus als den der vorbereiteten oder der aktiven Apperzeption". Ein Gefühl der Erwartung geht hier, verbunden mit Spannungsempfindungen, der Auffassung des Inhalts voran, das durch ein Gefühl der Erfüllung und dann durch ein Tätigkeitsgefühl abgelöst wird (Seite 260). Alle Apperzeption ist ein Willensvorgang, bei dem »nicht der Gegenstand selbst, sondern seine Wahrnehmung gewollt wird« (Völkerpsychologie I.Bd. 2, Seite 241). Die passive Apperzeption ist, subjektiv, eine Triebhandlung, denn hier ist "der unvorbereitet sich aufdrängende psychische Inhalt offenbar das allein vorhandene Motiv der Apperzeption". Die aktive Apperzeption ist eine Willkürhandlung, die aus einer Mehrheit von Motiven, oft nach einem "Kampf" derselben, hervorgeht (Seite 261). Die Ausdrücke "aktiv" und "passiv" beziehen sich "nicht unmittelbar auf den Vorgang der Apperzeption selbst, der im wesentlichen überall der nämliche ist, sondern auf den gesamten Bewußtseinszustand" (Seite 261). Apperzeption und Aufmerksamkeit sind die objektive und die subjektive Seite eines Vorgangs. Die Apperzeption ist schon eine Bedingung der Assoziation; die aktive Apperzeption liegt aller geistigen Tätigkeit zugrunde. Die Funktionen der Apperzeption sind das Beziehen-Vergleichen, Analyse-Synthese. Die Apperzeption ist keine Tätigkeit, die außer im Zusammenhang mit Gefühlen und Empfindungen bei der Auffassung eines Inhalts existiert, kein "Seelenvermögen". Physiologisch ist sie ein Hemmungsprozess, durch den das Klarwerden anderer Eindrücke als der apperzipierten verhindert wird; nach WUNDT gibt es ein (vielleicht im Stirnhirn lokalisiertes) Apperzeptionszentrum, von dem senso-motorische Wirkungen ausgehen. Aber "nur insoweit jeder Apperzeptionsvorgang mit Veränderungen am Empfindungsinhalte verbunden ist, sind für ihn physiologische Parallelvorgänge anzunehmen" (Grundzüge der physiologischen Psychologie, Bd. II, Seiten 274, 276, 283 f und Philosophische Studien II, Seite 33f, X, 95). Apperzeption und Assoziation sind nicht voneinander unabhängige Vorgänge oder gar Äußerungen von "Seelenvermögen", sondern "zusammengehörige Faktoren des psychischen Geschehens" (Völkerpsychologie I/2, Seite 575). Unter Einheit der Apperzeption versteht WUNDT "die Tatsache, daß jeder in einem gegebenen Augenblick apperzipierte Inhalt des Bewußtseins ein einheitlicher ist, so daß er als eine einzige mehr oder minder zusammengesetzte Vorstellung aufgefaßt wird" (ebenda Seite 466).

Nachtrag
Nach BENNO ERDMANN wirkt die Apperzeptionsmasse unbewußt als "erregte Disposition" (Zur Theorie der Apperzeption, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie Bd. X, Seiten 307f, 310f, 391f). Nach LIPPS ist die Apperzeption "Heraushebung des apperzipierten Gegenstandes aus dem allgemeinen psychischen Lebenszusammenhang" (Leitfaden der Psychologie, Seite 63f. Das Apperzipierte ist das Beachtete (ebenda Seite 53f). Nach FRITZ MAUTHNER heißt Apperzipieren, "unter den möglichen Eindrücken der Wirklichkeitswelt nach seinem Interesse, das heißt nach dem bisherigen Bewußtseinsinhalt einen bestimmten Eindruck für die Richtung seiner Aufmerksamkeit auswählen" (Beiträge zu einer Kritik der Sprache I, Seite 512). Apperzeption ist "Bereicherung des Bewußtseinsinhalts um, einen neuen Eindruck" (ebenda Seite 519). Nach STOUT ist die Apperzeption "the process by which a mental system appropriates a new element, or otherwise receives a fresh determination" (Analytical Psychology II, Seite 112). Nach BALDWIN ist die Apperzeption "that activity of synthesis by which mental data of any kind ... are constructed into higher forms of relation and the perception of things which are related becomes the perception of relation of things" (Handbook of Psychology I, Kap 4, Seite 5). Durch die Apperzeption wird die Aufmerksamkeit auf ein Bild konzentriert. Nach FOUILLÉE ist die intellektuelle Apperzeption »la reconnaissance et la classification instantanée, avec rapport plus ou moins implicite au moi« [Anerkennung einer augenblicklichen, den Dingen eigenen, Klassifizierung - wp].

LITERATUR - Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Leipzig 1904




KIRCHNER / MICHAELIS
Apperzeption

Apperzeption (lat. u. franz. von ad und perceptio = das Innewerden) heißt im allgemeinen das aktive Denken im Gegensatz zu der passiven Perzeption, die spontane und bewußte Denktätigkeit im Gegensatz zu der rezeptiven sinnlichen Wahrnehmung. Im speziellen hat der Begriff der Apperzeption vielfach geschwankt. LEIBNIZ (1646-1716) verstand unter Apperzeption die Aufnahme einer Vorstellung in das Selbstbewußtsein, das über einen Zustand der Seele nachdenkende Bewußtsein. KANT (1724-1804) faßt die Apperzeption schlechthin als das Bewußtsein und schied die reine transscendentale oder ursprüngliche Apperzeption, das Selbstbewußtsein, das: "Ich denke", das alle Vorstellungen des einzelnen begleitet und in allem Wechsel des Bewußtseins ein und dasselbe ist, von der empirischen Apperzeption, dem Bewußtsein des Menschen von seinem jedesmaligen Zustande (Kr. d. r. V., 2. Auflage, Seite 132). HERBART (1776-1841) faßte die Apperzeption als die Aneignung und Verarbeitung neu aufzunehmender Vorstellungen durch ältere verbundene und ausgeglichene Vorstellungsmassen. STEINTHAL (1823-1899) und LAZARUS (1824-1903) bildeten den HERBARTschen Begriff weiter aus. STEINTHAL z. B. unterschied die identifizierende, subsumierende, harmonisierende und disharmonisierende Apperzeption. WUNDT versteht unter Apperzeption den Einzelvorgang, durch den ein psychischer Inhalt zu klarer Auffassung kommt, die Erfassung einer Vorstellung durch die Aufmerksamkeit. Er unterscheidet, bei Vergleichung des Bewußtseinsaktes mit einem inneren Sehen, Blickfeld und Blickpunkt des Bewußtseins. Die Apperzeption ist nach diesem Bilde der Eintritt einer Vorstellung in den Blickpunkt des Bewußtseins. Am verbreitetsten dürfte gegenwärtig noch immer der Begriff der Apperzeption sein, wie ihn HERBART, STEINTHAL und LAZARUS bestimmt haben. (Vgl. OTTO STAUDE, Philosophische Studien I, Seite 149f)
LITERATUR: Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl - Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe, Leipzig 1907