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JOSEPHA KODIS
Zur Analyse des
Apperzeptionsbegriffs


"Leibniz äußert sich einige Male und das sehr ausdrücklich, daß die Perzeption nicht mechanisch, d. h. nicht mit Hilfe von Bewegungen und Figuren erklärt werden kann. Er verlangt die Annahme einer unteilbaren Substanz, welche mit Hilfe eines inneren Prinzips die psychischen Phänomene hervorbringt. Als entscheidend für diese Annahme gilt ihm die durch die innere Erfahrung bekannte Tatsache der Spontaneität der psychischen Zustände."

"Appetition heißt eine Tendenz von einer Perzeption zur anderen. Sie bildet ebenso wie die Perzeption die Grundeigenschaft der Monade und kommt infolgedessen sogar der Pflanzenseele zu. Leibniz scheint die Appetition sogar als etwas Ursprünglicheres als die Perzeption aufgefaßt zu haben."

"Der Wille ist kein ursprünglicher Zustand. Er entsteht vielmehr als Resultat des Konfliktes mehrerer Perzeptionen und Neigungen. Als eine Tendenz sich nach dem Guten zu richten und vom Bösen zu entfernen, resultiert der Wille unmittelbar aus der Apperzeption. Das gilt ebenso für die inneren Willensakte unseres Verstandes, wie für die äußeren, d. h. für die Bewegungen unseres Körpers. Man kann nur das wollen, was man als gut betrachtet: je mehr also die Fähigkeit des Verstandes entwickelt ist, desto besser ist der Wille: obwohl andererseits: je stärker die Kraft des Wollens, desto größer ist auch die Möglichkeit die Gedanken nach der Wahl zu bestimmen. So kommt es, daß der Wille nicht nur die Folge der früheren Zustände, sondern auch die Mutter der Zukunft ist."


Einleitung

Das Verhältnis der "Apperzeption" zum "Willen" ist eines von den Hauptproblemen der modernen Psychologie. Auch in der vorliegenden Arbeit bestand die ursprüngliche Absicht in der historischen Erforschung des Entwicklungsverlaufs des Apperzeptionsbegriffs und der Darstellung von dessen Beziehungen zum Begriff des "Willens". Bei der näheren Untersuchung des Gegenstandes ergab sich jedoch, daß die betreffende Frage nur ein Teilproblem ist, die Aufgabe mußte deshalb notwendigerweise erweitert werden. Es zeigte sich nämlich, daß unter der scheinbar einfachen Diskussion, welche über das Verhältnis der beiden "Seelenfunktionen" zueinander geführt wurde, sich der große Kampf verbarg, dessen Entscheidung die Psychologie entweder in die Reihe der Naturwissenschaften ziehen, oder aber ihr eine den letzteren entgegengesetzt und isolierte Stellung sichern muß. Unter den Begriffen von "Apperzeption" und "Willen" fanden alle die Ansichten eine Zuflucht, die sich gegen eine  mechanische Betrachtungsweise  "psychischer" Erscheinungen kehren. Schon die Hervorhebung des Begriffs der "Spontaneität" in der Apperzeptionstheorie bei LEIBNIZ ist als Gegensatz zu DESCARTES' mechanischer Auffassungsweise entstanden. Und der alte Zweifel dauert bis in unsere Tage und gibt sich in der Annahme eines "inneren Prinzips" kund und dem Begriff einer "psychischen Kausalität", die das Vorsichgehen "psychischer" Erscheinungen erklären sollen.

Wie ich in meiner Arbeit dargestellt zu haben glaube, ist der Begriff der "Apperzeption" ein äußerst schwankender gewesen. Die verschiedenen Autoren haben damit ziemlich abweichende Erscheinungen bezeichnet. Wie WUNDT richtig hervorgehoben hat, ist die Anwendung des  mechanischen  Prinzips auf den "objektiv-charakterisierten psychischen Tatbestand" die leichtere gewesen. So sehen wir auch die "psychische Mechanik" zuerst da auftreten, wo es sich um die Gesetze handelt, die das  Vorstellungsleben  beherrschen. Zwar ist es doch auf dem Weg der Spekulation HERBART und seinen Nachfolgern möglich gewesen, eine  mechanische  Apperzeptionstheorie zu bilden; doch muß bemerkt werden, daß die Vertreter dieser Lehre einen anderen Vorgang als "Apperzeption" beschrieben, als ihre Gegner, die besonders die  "subjektiv -charakterisierten psychischen Erscheinungen" im Auge hatten. Berücksichtigt man gerade alle die mit dem  Ich-Begriff  zusammenhängenden Momente, den "Willen" und die "Gefühle", so stößt  deren mechanische  Beschreibung auf ganz besondere Schwierigkeiten. Doch scheinen diese Schwierigkeiten, wie ich glaube, nur auf einem unüberwundenen Rationalismus zu beruhen, was ich im Besonderen in meiner historischen Darstellung überall nachzuweisen suche.


Die verschiedenen Bedeutungen, die dem Apperzeptionsbegriff gegeben wurden, und die ich hier festzustellen versuchte, schließen die Möglichkeit nicht aus, daß jeder von diesen Begriffen, so spekulativ umgebildet, wie er auch sein mag, doch immer auf eine empirische Tatsache zurückführbar sei. Deswegen habe ich meine Untersuchung über die historische Darstellung hinaus fortgesetzt, um anhand einer rein beschreibenden und empirischen Erkenntnistheorie, wie sie die "Kritik der reinen Erfahrung" von RICHARD AVENARIUS darstellt, die den verschiedenen Bedeutungen des Apperzeptionsbegriffes entsprechenden Erscheinungen aufzusuchen. So zerfällt meine Arbeit in zwei sehr ungleiche Teile; der eine ist  rein historisch;  der andere geht auf die Beschreibung der "psychischen Erscheinungen" selbst, welche den Theorien zur Grundlage dienten.


Erster Teil
I. Descartes

Bei DESCARTES finden wir noch keine Definition des Apperzeptionsbegriffs im eigentlichen Sinn des Wortes. Die Begriffe des Perzipierens und Apperzipierens benutzt er ohne irgendeine Andeutung ihres Unterschiedes. Da aber in seiner Lehre, trotz der im Ganzen wenig fortgeschrittenen Differenzierung der Begriffe sich schon die Keime der meistenn Probleme finden, die später zu großer Entwicklung in der Apperzeptionstheorie gelangten, und gewisse Ansichten von LEIBNIZ nur im Gegensatz zu DESCARTES klar begriffen werden können, so ist es angezeigt, die ganze Untersuchung mit DESCARTES zu beginnen. Die Momente, die auf mich in dieser Hinsicht bestimmend wirkten, sind: erstens, seine entscheide mechanische Methode der Untersuchung, die besonders im  Traité sur les passions de l'ame  klar zutage tritt, und zweitens, neben der eingehenden Behandlung des Verhältnisses der Perzeption zum Willen, die Zurückführung der Klarheit der Perzeptionen auf die Aufmerksamkeit. In letzterer Hinsicht (1) hat zwar DESCARTES im heiligen AUGUSTINUS und DUNS SCOTUS Vorgänger gehabt, die beiden den Übergang von unklaren zu klaren Perzeptionen in der Tätigkeit der Aufmerksamkeit sahen; da aber diese Begriffe erst durch DESCARTES zu besonderer Bedeutung für die moderne Psychologie erhoben wurden, so halte ich es nicht für notwendig, in meiner historischen Darlegung weiter zurückzugreifen.

Wie bekannt, betrachtete DESCARTES den Organismus als Maschine und faßte alle seine Funktionen unter dem mechanischen Gesichtspunkt als Bewegungen auf. Die Perzeptionen sind in ihrer Mannigfaltigkeit und Differenzierung von den körperlichen Vorgängen verursacht, genauer von den Bewegungen in der Zirbeldrüse, denn es gibt so viele Perzeptionen, wie es Bewegungsarten in der Zirbeldrüse gibt. Trotz der prinzipiellen Verschiedenheit im Wesen der Seele und des Körpers nimmt DESCARTES eine kausale Beziehung der körperlichen und seelischen Vorgänge an. Ebenso wie die körperlichen Bewegungen die Perzeption, lösen die Willensregungen die körperlichen Bewegungen aus. Der Kausalbegriff wird also von DESCARTES anders als in neuerer Zeit gefaßt, da hier neben der substanziellen Verschiedenheit von Körper und Seele und der Unmöglichkeit ihres Übergangs ineinander die Kausalität betont wird. Immerhin bleibt wichtig: die Beschreibung der seelischen Erscheinungen im Zusammenhang mit physiologischen Prozessen des Organismus und ihre Abhängigkeit von den Bewegungsarten des Körpers.


1. Das Wesen der Perzeption und des Willens
und ihr Verhältnis zueinander

Es gibt in uns nur zwei Arten von Gedanken (2). Die Perzeption des Verstandes und die Tätigkeit des Willens. Alle anderen psychischen Zustände lassen sich auf diese beiden zurückführen. (3)

Sie beteiligen sich am Akt des Urteilens und zwar in folgender Weise: Der Wille ist absolut notwendig, damit wir unsere Zustimmung bei einem Urteil geben (4); ehe wir aber etwas zugeben, müssen wir es zuerst apperzipiert haben; unsere Kenntnis des Apperzipierten braucht aber weder vollkommen noch vollständig zu sein, um den Willen bestimmen zu können. Als Folge davon ergibt sich, daß sich der Wille auf ein größeres Gebiet, als es dem Verstand möglich ist, erstrecken kann, nämlich ebenso auf das Erkannte, wie auf das Nichterkannte.

Der Wille verhält sich zur Perzeption, wie der Zustand der Aktivität zu dem der Passivität. Nach DESCARTES ist aber alles passiv, was in Bezug auf das Subjekt geschieht, welchem es zukommt, und aktiv, was in Bezug auf das Subjekt geschieht, welches es hervorruft. (5) So geschieht es, daß immer ein und derselbe Vorgang zugleich eine Aktion und Passion ist, je nach dem verschiedenen Subjekt, im Verhältnis zu welchem man ihn betrachtet. So ist es auch mit der Perzeption und dem Willen. Da wir erfahrungsgemäß wissen, daß alle unsere Willensarten direkt von unserer Seele kommen und nur von ihr abhängig zu sein scheinen, so heißen wir sie aktiv; die Perzeptionen dagegen sind nicht immer von der Seele abhängig, sondern auch von den Dingen, die sie vorstellen, daher nennen wir sie passiv. Weil wir jedoch absolut nicht etwas wollen können, was wir nicht zugleich apperzipierten, so ist der Akt des Wollens auch ein Akt der Perzeption. Der Wille und die Perzeption ist also im Grunde ein und dieselbe Sache ("la même chose" [dasselbe - wp] und nur entsprechend den verschiedenen Beziehungen, unter welchen wir sie betrachten, erscheinen sie uns als etwas verschiedenes. Wenn aber Wille und Perzeption im Grunde derselbe Vorgang sind, wie ist denn eine größere Tragweite des Willens als der Perzeption denkbar?

Der Wille kann nicht anders als durch Perzeption hervorgerufen werden; da aber die Perzeptionen in verschiedenem Grad klar und deutlich sein können, so ist es möglich, daß eine konfuse Perzeption, welche die Ursache des Willens bildet, dennoch unbemerkt bleiben kann. In einem solchen Fall erscheint der Wille von keinem Motiv geleitet und bleibt indifferent. (6) Die Stärke des Willens ist von der Zahl der Kenntnisse abhängig. [...] Bei einer klaren Kenntnis, daß eine Sache uns zukommen sollte, ist es uns unmöglich, den Lauf unseres Wünschens zu beherrschen, solange wir den betreffenden Gedanken festhalten.


2. Klarheit und Deutlichkeit

Klar ist eine Perzeption, die sich gegenwärtig und ausdrücklich in einem aufmerksamen Verstand äußert. (7)

Eine derartige Perzeption ist zu vergleichen mit einem klar gesehenen Gegenstand, der mit genügender Stärke die Augen affiziert, und wobei die letzteren ihn zu sehen disponiert sind. Die Klarheit ist eine notwendige Bedingung für die Deutlichkeit. Es kann nämlich keine Erkenntnis deutlich sein, ohne aus demselben Grund klar zu werden. Trotzdem ist aber die Deutlichkeit etwas Verschiedenes von der Klarheit. Eine deutliche Perzeption ist eine solche, welche so präzise und von allen anderen verschieden ist, daß sie nur das in sich enthält, was dem Beobachter ausdrücklich in ihr erscheint. Eine klare Perzeption kann unter Umständen undeutlich sein, infolge der Beimischung anderer Elemente, die früher in Gedanken vorhanden waren, so kann z. B. die Perzeption eines brennenden Schmerzes, ungeachtet ihrer größten Klarheit, undeutlich werden. Für die Klarheit sind nach DESCARTES zwei Momente bestimmend: einerseits wird eine genügende Stärke der Apperzeption gefordert, wie das im Vergleich mit dem gesehenen Gegenstand ausgesprochen war, und andererseits eine günstige Disposition des Verstandes. Es darf nicht übersehen werden, wie nahe sich diese Bestimmungen des Klarheitsbegriffs mit dem Begriff der Bewußtheit in der nachherigen Psychologie berühren.

Dagegen scheint sich bei DESCARTES die Deutlichkeit mehr auf das Verhältnis von Denken und Sein zu beziehen. (8) Jede Beimischung von anderen Ideen oder von in den Gedanken enthaltenen Gefühlen verundeutlich die Perzeption, fügt ihr Elemente zu, die in der Perzeption selbst, wenn man sie so, wie es notwendig ist, untersuchte, nicht nachzuweisen waren. Da die Perzeption aber, als ein passiver Zustand, von den Dingen, die sie vorstellt, bedingt, oder wie DESCARTES einer Perzeption, als Inbegriff ihrer Bestimmtheit und Verschiedenheit von allem anderen, von ihrem Zusammenfallen mit der Realität anzuhängen.


3. Die Perzeption des eigenen Selbst

Die Willenstätigkeit ist zweifacher Art: entweder ist es eine Aktion der Seele, welche in der Seele selbst endet, oder eine Aktion, die ihr Ende in unserem Körper hat, indem sie ihn zur Bewegung veranlaßt. Ebenso gibt es auch Perzeptionen zweifacher art: die einen haben den Körper, die anderen die Seele zu ihrem Gegenstand, zu denen auch die Perzeptionen des eigenen Selbst, als eines denkenden Wesens, gehört. Diese Perzeption ist nach DESCARTES klarer und deutlicher als die Perzeptionen der äußeren Dinge. Es ist eine intuitive Erkenntnis, die von keinen weiteren Prämissen abgeleitet werden kann. (9) Dem denkenden Weesen als solchem kommen Perzeption und Wille samt allen ihren Modifikationen zu. So ist nach DESCARTES die Perzeption unseres Selbst, als denkenden Wesens, nicht nur die klarste und deutlichste, sondern auch andererseits ein Grundwesen, dem die Perzeption und der Wille als Attribute zukommen.

Trotz der substanziellen Verschiedenheit ist die Seele mit der körperlichen Maschine in einer stetigen Beziehung. (10) Die Lebensgeister, die DESCARTES sich vorstellte in Gestalt der feinsten Blutbestandteile, wirken auf das Gehirn und durch dieses auf Nerven und Muskeln. Dieses Vorwärtseilen der Geister ist verursacht durch dreierlei Ursachen: Entweder durch die Seele oder durch den Körper, d. h. aber wieder entweder durch die Bewegungen, die in den Sinne durch den äußeren Körper hervorgerufen werden oder durch den Unterschied in der Natur der verschiedenen Geister selbst. Wenn die Perzeptionen durch den Körper verursacht sind, so können sie mit Hilfe der Nerven, oder auch ohne sie, wie das bei der Imagination der Fall ist, zustande kommen. Es kann aber auch Perzeptionen geben, die unabhängig vom Körper durch die Seele selbst verursacht werden. Diese beziehen sich auf Wollen, Imagination und andere Gedanken, die davon abhängen. (11) Was den Willen anbetrifft, so ist er immer durch die Seele selbst verursacht. (12)

So wird der ganze seelische Tatbestand in zwei Teile geschieden, von denen einer von den körperlichen Bewegungen abhängig ist, während der andere, der die Perzeptionen der seelischen Vorgänge und den Willen umfaßt, von ihnen unabhängig ist. Die Ursache dieser letzteren Erscheinungen liegt in der Seele selbst. Da aber jede Perzeption zugleich auch Willenstätigkeit ist, wie wir es früher gesehen haben, so ist in jedem seelischen Akt, wenn man einen Schluß aus DESCARTES' Voraussetzungen machen will, ein Teil vom Wesen der Seele selbst hervorgebracht, der andere, soweit wir ihn auf die äußeren Gegenstände bezogen denken, läßt sich als von diesen letzteren verursacht, auffassen. Doch ist dieses Verhältnis von Willen und Perzeption, die im Grunde dasselbe sein sollen, und wovon doch das eine von der Seele, das andere in vielen Fällen vom Körper hervorgebracht sein soll, einer der dunkelsten Punkte der Philosophie DESCARTES'. Jedenfalls ist die Methode der Betrachtung der seelischen Prozesse nach dieser Annahme nicht immer dieselbe. Ein Teil der Erscheinungen ist, als abhängig von körperlichen Bewegungen, einer mechanischen Untersuchungsmethode unterworfen, ein anderer, weil verursacht von der Seele, ist es nicht. Diese Scheidung der psychischen Erscheinungen ist eine von den Hauptstreitfragen, die bis heute in der Psychologie eine wichtige Rolle spielen. Doch das, was aus all demm nochmals besonders hervorzuheben sein dürfte, ist die Auffassung eines großen Teils der psychischen Erscheinungen als abhängig von den biologischen Vorgängen des Organismus, was gegenüber den meisten nachherigen rationalistischen Theorien eine so bedeutungsvolle Erscheinung darbietet.

Die Begriffe der Perzeption und des Willens sind von DESCARTES nicht näher definiert worden, was in Bezug auf den ersteren zu einer Zweideutigkeit führen mußte. So finden wir z. B. neben der Behauptung, daß es so viele Perzeptionen wie Bewegungsarten in der Zirbeldrüse gibt, eine andere, daß manche Perzeptionen nicht vom Körper, sondern von der Seele selbst verursacht sind. Wahrscheinlich ist hier die Perzeption zuerst im engeren Sinne als Wahrnehmung, dann aber im weiteren als ein passiv charakterisierter psychischer Zustand aufgefaßt worden. Die Perzeption des eigenen Selbst als denkenden Wesens ist auch in dieser weiteren Bedeutung des Wortes zu verstehen. Auch in Bezug auf die nachfolgende LEIBNIZ'sche Philosophie ist nicht zu vergessen, daß das eigene Selbst von DESCARTES als ein passiv charakterisierter Zustand aufgeführt wurde.


II. Leibniz

Während CARTESIUS den Organismus rein mechanisch erklärt haben wollte, äußert sich LEIBNIZ in seinem "Lettre á un ami sur le Cartésianisme" (13) in folgender Weise: "Obwohl ich darin übereinstimme, daß die Einzelheiten der Natur mechanisch zu erklären sind, sehe ich mich doch gezwungen, eine Urkraft anzunehmen um die festen Formen zu erklären." Damit die Atome begreiflich werden, sollen sie als Kräfte aufgefaßt werden analog zu Gefühl und Streben.

Diese Atome, ursprüngliche Kräfte, haben nicht bloß die Fähigkeit, eine Tätigkeit fortzusetzen, sondern besitzen auch eine eigene Aktivität (acitvité originale). Sie sind beherrscht durch ein Gesetz der Veränderung, und infolge dessen gehen sie beständig und spontan in alle Zustände über, die ihnen zukommen.

Diesen Voraussetzungen entsprechend gestaltet sich die ganze psychologische Theorie. LEIBNIZ äußert sich einige Male und das sehr ausdrücklich, daß die Perzeption nicht mechanisch, d. h. nicht mit Hilfe von Bewegungen und Figuren erklärt werden kann. (14) Er verlangt die Annahme einer unteilbaren Substanz, welche mit Hilfe eines inneren Prinzips die psychischen Phänomene hervorbringt. Als entscheidend für diese Annahme gilt ihm die durch die innere Erfahrung bekannte Tatsache der Spontaneität der psychischen Zustände. Es ist also von prinzipieller Wichtigkeit festzustellen, was LEIBNIZ unter dem Begriff der Spontaneität verstanden wissen wollte.


1. Der Begriff der Spontaneität

Es ist eine Tatsache der Erfahrung, daß die Seele innere und willkürliche Tätigkeiten hervorbringen kann. In der geschichtlichen Entwicklung der LEIBNIZ'schen Theorie mag diese Tatsache als Veranlassung zur Annahme des inneren Prinzips, der Appetition gelten.

Wenn man trotzdem annehmen wollte, daß die Spontaneität in ihrem Wesen mit dem Wollen identisch wäre, so wäre das doch nach LEIBNIZ durchaus unrichtig. Auf die Bemerkung von BAYLE, daß die Spontaneität der Seele aus Rücksicht auf die schmerzlichen Empfindungen und alle Perzeptionen, welche der Seele mißfallen, nicht angenommen werden könne, antwortet LEIBNIZ: Jede vorhergehende Perzeption hat einen Einfluß auf die nachfolgende und jeder gegenwärtige Zustand einer Substanz ist ein natürliche Folge des vorhergehenden. Dies alles geschieht einem Gesetz gemäß, welches in den Perzeptionen ebenso wie in den Bewegungen besteht.

Es ist also nach LEIBNIZ sowohl die Appetition als auch die Perzeption als spontane Tätigkeit zu betrachten. Hier ist im Gegensatz zu DESCARTES zweierlei zu beachten. Während Empfindungen, Gemütsbewegungen und sinnliche Begehrungen nach DESCARTES einer mechanischen Auffassung zugänglich sein sollen, anerkennt LEIBNIZ die seelische Tätigkeit überhaupt als nur einem inneren Prinzip unterworfen; infolgedessen wird aber andererseits eine einheitliche Betrachtungsweise aller seelischen Phänomene eingeführt. Der Wille und die Perzeption innerer Zustände werden nicht mehr als etwas Eigenartiges dem sinnlichen Begehren und den Empfindungen gegenübergestellt. Diese Aufhebung des methodologischen Dualismus ist von einer umso größeren Bedeutung, als durch die Betonung des Einflusses der vorhergehenden auf die nachkommenden Perzeptionen eine Gesetzmäßigkeit in ihrem Verlauf, obwohl auf einem ganz rationalistischen Boden, behauptet wird. Diese Auffassung verleiht also die Möglichkeit, unter einem Gesichtspunkt und mit derselben Methode den ganzen psychischen Bestand zu behandeln. Ein Gesetz, welches ebenso in der Ordnung der Perzeptionen wie auch in der der Bewegungen herrschen soll, deutet schon auf die Theorie des psychischen  Geschehens  hin, welche im Begriff der psychischen Entwicklung ihre weitere Ausbildung finden sollte.

Die menschliche Seele ist nach LEIBNIZ eine Art von "Automate spirituel." (15) Dieser Automatismus ist aber an die Spontaneität gebunden, da jede Tätigkeit der Substanz als eine solche schon spontan ist. Da aber nach LEIBNIZ die Atome ihrer Natur nach durchaus tätig sind, wäre eigentlich alles, was der Substanz zukommt, als aktiv aufzufassen. Trotzdem kann auch der Begriff der Aktivität in einem beschränkten Sinn benutzt werden. Man kann nämlich sagen, daß ein Wesen aktiv ist, soweit es vollkommen ist und passiv, soweit es sich von der Vollkommenheit entfernt. So kommt es, daß eine Monade, wenn sie deutliche Perzeptionen besitzt, aktiv genannt werden kann, während man sie im Zustand der undeutlichen Perzeptionen als passiv bezeichnen kann. (16) Da die Aktion ihr Abbild in der Bewegung hat, so kann man auch da sagen, daß ein Körper aktiv ist, wenn Spontaneität in seinen Veränderungen vorhanden ist und passiv, wenn er zu Bewegung veranlaßt, oder in einer solchen von einem anderen Körper gehemmt wird. (17)

Diese im engeren Sinn aufgefaßte Aktivität bezieht sich nicht nur auf die willkürlich hervorgerufenen Gedanken, sondern auch auf jede Art von Empfindungen, sofern sie deutliche Perzeptionen veranlassen und eine Möglichkeit der weiteren Entwicklung bieten. Während als DESCARTES den Unterschied zwischen Aktivität und Passivität als abhängig von verschiedenen Verhältnissen, unter welchen man ein und dasselbe Phänomen betrachtet, auffaßte, bezeichnet LEIBNIZ im weiteren Sinne des Wortes jeden Zustand der Substanz als aktiv, im engeren aber führt er ihn auf die verschiedenen Stufen der Entwicklung der Monade zurück. Nach dieser Betrachtungsweise wäre es also unmöglich, die Aktivität in den psychischen Phänomenen als den Willen und die Passivität als Perzeption zu bezeichnen, ohne nicht die Perzeption als die niedrigere, den Willen als die höhere Stufe der Entwicklung aufzufassen.

Hier liegt auch ein Gegensatz der LEIBNIZ'schen Theorie zu der von DESCARTES. Während bei diesem Aktivität und Wille im psychischen Leben in eins zusammenfließen, rückt bei LEIBNIZ der Begriff der Aktivität in das Gebiet der eigentlichen Metaphysik, während der Wille als ein rein psychologischer Begriff der weiteren Bearbeitung in diesem Sinne unterworfen wird. Alles, was in der Seele vorkommt, ist von ihr abhängig, spontan, aber es wäre zu viel, wenn behauptet würde, daß es on ihrem Willen abhängig sei (18); es ist sogar oft dem Verstand unbekannt. Dieses psychische Vorkommen geschieht mit Hilfe der Tätigkeit des inneren Prinzips, der Appetition. (19) Appetition heißt eine Tendenz von einer Perzeption zur anderen. Doch es ist nicht absolut notwendig, daß die Appetition dieselbe Perzeption erlangt, zu der sie tendiert, nichtsdestoweniger gelangt sie immer zu neuen Perzeptionen. Sie bildet ebenso wie die Perzeption die Grundeigenschaft der Monade und kommt infolgedessen sogar der Pflanzenseele zu. LEIBNIZ scheint die Appetition sogar als etwas Ursprünglicheres als die Perzeption aufgefaßt zu haben, da er Entelechien als primitive oder substanzielle Tendenzen bezeichnet, die erst dann zu Seelen werden, wenn sie von einer Perzeption begleitet sind.


2. Perzeption und Apperzeption

Perzeption definiert LEIBNIZ als einen inneren Zustand einer Monade, welcher die äußeren Gegenstände vorstellt. (20)

Eine Monade besitzt eine unendliche Menge von Perzeptionen, denn so wie ein Körper unmöglich ohne Bewegung sein kann, so ist auch die Substanz in einer fortwährenden Aktivität. Während wir also in jedem Augenblick Tausende von Perzeptionen haben, können wir sie trotzdem nicht alle bemerken, weil sie entweder zu zahlreich oder zu monoton oder zu klein sind. In ihrer Gesamtheit aber üben sie nichtsdestoweniger den größten Einfluß auf die Seele aus, bestimmen ihr Verhältnis zur äußeren Welt, bilden den Geschmack etc. Sie sind auch als eine kontinuierliche Funktion zu betrachten, da jede Perzeption nur durch eine andere Perzeption verursacht werden kann.

Nach der LEIBNIZ'schen Definition ist also die Perzeption ein inneren Zustand, dessen Inhalt die Vorstellung eines äußeren Gegenstandes bildet. Für das menschliche Individuum wäre demnach einfach als Inhalt einer Perzeption das anzunehmen, was er als Gegenstand bezeichnet. Indem wir aber auf den Begriff der Apperzeption übergehen, sehen wir, daß dessen Charakteristik gegenüber dem Begriff der Perzeption bei LEIBNIZ in dessen verschiedenen Werken ziemlich abweichend ist. Den Begriff der Apperzeption, den er zuerst in den  Nouveaux Essais  in die Psychologie einführte (21), definiert er in diesem Werk anders als in der Monadologie, wo seine ganze Lehre vollkommener ausgebildet ist. In den "Nouveaux Essais" heißt er den Akt der Apperzeption von zweifachem Ursprung. Entweder wird die Perzeption so stark, (22) daß sie sich von allen übrigen schwachen Perzeptionen unterscheidet, oder aber es summieren sich die kleinen Perzeptionen (23), die einzeln für uns unmerklich blieben, zu einer merklichen Perzeption, d. h. einer Apperzeption. Dies steht im Zusammenhang mit dem Begriff der Kontinuität, welchen LEIBNIZ in seiner Philosophie hervorhebt. Oft ist es nur ein ganz kleiner Zusatz, welcher aus einer Perzeption einen Apperzeption bildet. (24) So apperzipieren wir z. B. einen Lichteindruck, nachdem das Licht nur ein wenig vergrößert wurde, oder einen Lärm, wenn er nur einen kleinen Zuwachs erhält. Hier scheint also die Verschiedenheit der Apperzeption von der einfachen Perzeption nur auf einem quantitativen Unterschied zu beruhe. In der Monadologie aber wird die Apperzeption als die Bewußtheit oder reflexive Erkenntnis des inneren Zustandes der Perzeption definiert. Unter reflexiver Erkenntnis wird aber ein Akt des Denkens an das gemeint, was  Ich  heißt, und die Betrachtung, daß dieses oder jenes in uns vorgeht. [...]

Es ist also viel mehr gedacht, als ein einfacher  quantitativer  Unterschied. Zum objektiv charakterisierten Inhalt der Perzeption (Vorstellung eines Gegenstandes) kommen rein subjektiv charakterisierte Momente hinzu: wir erkennen, daß ein Gegenstand in unserem Inneren vorgestellt wird. Wir denken nicht mehr an das Objekt selbst, sondern an dessen Verhältnis zu den Zuständen unseres Ich.

LEIBNIZ gibt uns in den "Nouveaux essais" die Bedingungen für die Entstehung der Apperzeption an. Damit sie zustande kommt, muß nämlich ein "avertissement" [Hinweis - wp] stattfinden. Es ist die Tatsache bekannt, daß wir viele Perzeptionen erst dann apperzipieren, wenn jemand unsere Aufmerksamkeit auf sie lenkt. Die Apperzeption ist im allgemeinen abhängig von der Aufmerksamkeit und Ordnung (25). Die Aufmerksamkeit ist aber einerseits bedingt durch das Bedürfnis, andererseits durch das Gedächtnis. Was den ersten Punkt betrifft, so ist es nicht ganz klar, wie LEIBNIZ sich die Abhängigkeit vorgestellt hat, einmal sagt er, daß die Aufmerksamkeit eine Bedingung für die Apperzeption bildet, ein anderes Mal, daß wir diejenigen Gegenstände bemerken, die wir den anderen vorziehen und vom anderen unterscheiden. Es ist aber das Unterscheiden und Vorziehen anders als in einem Apperzeptionsakt schwer zu denken. Während also die Aufmerksamkeit zur Bedingung der Apperzeption gemacht wird, ist ein anderes Mal die Apperzeption die Bedingung der Aufmerksamkeit oder werden wenigstens beide als gleichzeitig gesetzt betrachtet.

Das Gedächtnis führt LEIBNIZ auf eine allgemeine Fähigkeit des Verstandes zurück, die im Aufbewahren der Kenntnisse, die durch den Sinn, die Reflexion oder durch angeborene Ideen vermittelt sind, besteht. Diese Fähigkeit nennt er "Retention" [Vorbehalt - wp] und teilt sie in zwei Arten. Die eine besteht im Festhalten der gegenwärtigen Idee, d. h. in der Kontemplation, die zweite aber in der Fähigkeit des Zurückkehrens zu einer früher gehabten Idee. (26) Jede Aufmerksamkeit bedarf des Gedächtnisses. Es scheint also, daß LEIBNIZ den Grund der Aufmerksamkeit hauptsächlich in dieser Fähigkeit des Zurückhaltens, der Retention, gesehen hat, während er dem Bedürfnis eine nur regelnde Rolle zuschreibt. Wie die Abhängigkeit von der Ordnung zu denken ist, darüber finden wir keine nähere Erklärung.


3. Wille

Der Wille ist kein ursprünglicher Zustand. Er entsteht vielmehr als Resultat des Konfliktes mehrerer Perzeptionen und Neigungen. Seinem Ursprung entsprechend ist der Wille nicht als in jedem Fall vollkommen anzusehen; den verschiedenen Umständen gemäß, unter welchen er erscheint, besitzt er verschiedene Grade der Vollkommenheit, so z. B. "Velléité" [Anwandlung - wp]ist eine Art von Willen ohne Macht, der Wunsch (Désir) eine  Unterart  der Velléité usw. Als zusammensetzende Bestandteile von diesen Perzeptionen und Inklinationen (Neigungen), welche den Willen bilden, sind die Impulse anzusehen, die immer von Lust oder Schmerz begleitet sind. (27) Das, was man "Indifférence d'équilibre" [interesseloses Gleichgewicht - wp] nennt, existiert nach LEIBNIZ überhaupt nicht; ebenso der Wille, wie auch seine elementaren Formen, Neigungen, sind nie indifferent. Der Unterschied ist nur der, daß bei den Neigungen, die veranlassenden Perzeptionen klein und unmerklich sind, so daß die Gefühle nicht zu einem deutlichen Schmerz anwachsen können, sondern einfach als Unruhe empfunden werden. Die Willensakte dagegen können apperzipiert und ihre veranlassenden Motive überlegt werden. Als eine Tendenz sich nach dem Guten zu richten und vom Bösen zu entfernen, resultiert der Wille unmittelbar aus der Apperzeption. Das gilt ebenso für die inneren Willensakte unseres Verstandes, wie für die äußeren, d. h. für die Bewegungen unseres Körpers. Man kann nur das wollen, was man als gut betrachtet: je mehr also die Fähigkeit des Verstandes entwickelt ist, desto besser ist der Wille: obwohl andererseits: je stärker die Kraft des Wollens, desto größer ist auch die Möglichkeit die Gedanken nach der Wahl zu bestimmen. (28) So kommt es, daß der Wille nicht nur die Folge der früheren Zustände, sondern auch die Mutter der Zukunft ist.

In welcher Weise wird der Wille von der Apperzeption bestimmt? Auf diese Frage antwortet LEIBNIZ, daß der Verstand ("Entendement" [geistiges Fassungsvermögen - wp]) den Willen in der Weise bestimmt, daß er ihm keine metaphysische Notwendigkeit verleiht, sondern ihm nur durch das Übergewicht der Perzeptionen und dessen Gründe bestimmt, so daß er ihn lenkt, ohne ihn zu zwingen, sogar dann, wenn der Wille sicher und unausweichlich ist.

Ob es die Apperzeption oder die Perzeption ist, die notwendig ist, um den Willen zu bestimmen, ist nicht vollkommen klar; (29) die oben angeführte Stelle lautete dahin, daß der Wille im Gegensatz zu den kleinen Appetitionen sich auf Taten bezieht, die apperzipiert und überlegt werden können. Schon aber auf der nächsten Seite sagt LEIBNIZ, daß wenn wir nicht immer die den Willen bestimmenden Motive kennen, es daher kommt, daß die Mehrzahl unserer Perzeptionn unmerklich und undeutlich ist. Es bleibt also nichts anderes übrig, als anzunehmen, daß die verschiedenen Grade der Vollkommenheit des Willens den verschiedenen Stufen der Deutlichkeit der Perzeptionen entsprechen. Andererseits aber sagt LEIBNIZ, daß es auch Appetitionen gibt, die apperzipiert werden können. (30) Diese Behauptung wird von ihm aber nicht weiter entwickelt.

Wir sehen also, daß LEIBNIZ den Willen in seiner vollkommenen Form als einen Wahlakt auffaßte. Die größte Schwierigkeit aber bietet das Verhältnis des Willens zu den Neigungen und Impulsen. Außer einer Angabe, in welcher die ersteren als die Komponenten des Willens neben den Perzeptionen, die letzteren als die zusammensetzenden Bestandteile sowohl der Neigungen wie der Perzeptionen beschrieben werden, finden wir bei LEIBNIZ überhaupt keine nähere Erklärung darüber, wie er dieses Verhältnis auffaßte. Die erste Frage, welche sich hier darbietet, ist die, ob diese Impulse nicht identisch mit den Tendenzen ("Appétitions") sind. In einigen Stellen benutzt LEIBNIZ in der Tat die Bezeichnung Tendenz für Wille und Neigungen. Andererseits aber spricht dagegen die Behauptung, daß Impulse die Bestandteile der Perzeptionen und Neigungen, die Tendenzen aber neben den Perzeptionen ursprüngliche Tätigkeiten der Seele bilden. Trotzdem scheint es aber, daß dieser Widerspruch vermittelt werden könnte durch die Annahme, daß LEIBNIZ den Ausdruck "Impulse" und "Neigungen" benutzte, um die psychologische Seite der Vorgänge, den Gefühlszustand, der in einem Subjekt entsteht, zu bezeichnen; während der Ausdruck  Appetition  oder Tendenz eine rein metaphysische Bedeutung hat. So drückt er sich auch in der Weise aus, daß es Anstrengungen gibt, die aus unmerklichen Perzeptionen resultieren und nicht bemerkt werden, und die er lieber Appetitionen, als Volitionen nennen möchte, weil der letzte Ausdruck gewöhnlich für die Zustände benutzt wird, die man apperzipieren kann.

Der Wille soll nach LEIBNIZ dem Intellekt korrespondieren in der Weise, wie in einer primitiven Seele die Appetition der Perzeption korrespondiert. Derartige Äußerungen scheinen uns zur Annahme zu berechtigen, daß, obwohl LEIBNIZ die vollkommen entwickelte Form des appetitiven Verhaltens, den Willen, von der Apperzeption abhängig gesehen hat, er doch das eigentümliche Element des Willens, die Anstrengung zur Tat, bis in die niedrigsten Stufen des seelischen Lebens zu einer ursprünglichen, neben der Perzeption bestehenden Eigenschaft der Seele machte. Während er aber die Entwicklung der Apperzeption aus der Perzeption ableitet, äußert er sich gar nicht über die selbständige Entwicklng des Willens aus der Tendenz. Im Gegenteil scheint er die verschiedenen Grade der Vollkommenheit des Willens als durch die fortschreitende Vervollkommnung der Perzeptionen bedingt aufzufassen.

Gegenüber DESCARTES' Theorie hat LEIBNIZ in seiner Lehre vom Willen zweierlei Tatsachen hervorgehoben. Einmal ist der Wille kein ursprünglicher Zustand, sondern die Appetition entwickelt sich infolge ihres Zusammenhangs mit der Perzeption zu immer zusammengesetzteren und höheren Formen, bis sie an einem Wahlakt gebunden in Form des Willens auftritt; zweitens betrachtet LEIBNIZ die Appetition (also die ursprünglichste und elementarste Form des appetitiven Verhaltens) als ein Veränderungs- und Übergangsprinzip innerhalb der Perzeptionen, während DESCARTES den Willen an die körperlichen Bewegungen gebunden hatte. Im Allgemeinen stellt LEIBNIZ' Theorie in den meisten und wichtigsten Punkten einen Gegensatz zur Lehre des DESCARTES dar. Die mechanistische Auffassung des Organismus hatte CARTESIUS zur Annahme einer Abhängigkeit wenigstens eines großen Teils seelischer Vorgänge von physiologischen Prozessen führen müssen. Nach LEIBNIZ aber ist im Wesen der Atome ein inneres Prinzip wirksam. Diese Annahme muß natürlich auf psychischem Gebiet den Mechanismus vollkommen aufheben. Das, was DESCARTES den Perzeptionen der seelischen Vorgänge und dem Willen zugeschrieben hatte, eine von der Seele selbst verursachte Wirksamkeit wird nach LEIBNIZ auf die ganze Psyche übertragen.

Die Unabhängigkeit der psychischen Vorgänge von den körperlichen Erscheinungenn kommt zum Ausdruck im Begriff der  Spontaneität.  Untereinander sind die psychischen Erscheinungen auf das bestimmteste verbunden, und ihr Verlauf ist durch Gesetze geregelt. Durch den Begriff der fortwährenden Tätigkeit und Gesetzmäßigkeit, die nach LEIBNIZ jeder Art von psychischen Erscheinungen zukommt, ist für die Apperzeptionstheorie ein wichtiges Moment gewonnen. Die psychischen Erscheinungen werden als zusammenhängende und entwicklungsfähige Prozesse angesehen. Nun geht aber dieser Entwicklungsvorgang spontan aus dem Wesen der Seele hervor. Die psychischen Prozesse werden losgetrennt von der Gesamtheit der biologischen Erscheinungen und ohne Beziehung zu ihnen, rein rationalistisch betrachtet.
LITERATUR Josepha Kodis - Zur Analyse des Apperzeptionsbegriffs, Berlin 1893
    Anmerkungen
    1) WILHELM KAHL, Die Lehre vom Primat des Willens bei Augustinus, Duns Scotus und Descartes
    2) DESCARTES, Les principles de la philosophie, zuerst herausgegeben in lateinischer Sprache, franz. Übersetzung von AIMÉ-MARTIN, Seite 295
    3) TWARDOWSKI behauptet (Idee und Perzeption. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung aus Descartes, Wien 1891), daß die Perzeption bei DESCARTES dasselbe wie Wahrnehmung bedeutet. Doch scheint es nur für den engeren Sinn, in dem DESCARTES dieses Wort gebraucht, zuzutreffen. Im weiteren Sinn kann es kaum einem Zweifel unterliegen, daß er den Namen  Perzeption  auf jeden passiv-charakterisierten Akt der Seele bezieht, da er ausdrücklich behauptet, daß alles in der Seele entweder zum Willen oder zur Perzeption gerechnet werden kann.
    4) DESCARTES, a. a. O. Seite 295
    5) DESCARTES, Über die Leidenschaften der Seele, Seite 429
    6) KAHL, a. a. O. machte darauf aufmerksam, daß DESCARTES in zwei Briefen von 1640 und 1644 etwas abweichende Meinungen in Bezug auf die Willensdifferenz geäußert hat.
    7) Vgl. DESCARTES, Prinzipien etc., Seite 297
    8) TWARDOWSKI (Idee und Perzeption) behauptet,  deutlich  werde nach DESCARTES jede klare Perzeption einfach durch ihre Abgrenzung gegen andere unklare Perzeptionen. Er scheint mir jedoch nicht berücksichtigt zu haben, daß DESCARTES die Perzeptionen von den Dingen, die sie vorstellen, abhängig betrachtete.
    9) Nach ÜBERWEG liegt hier der Keim der Kantischen Lehre von der transzendentalen Apperzeption.
    10) Vgl. DESCARTES, Leidenschaften der Seele, Seite 429
    11) Vgl. DESCARTES, Leidenschaften der Seele, Seite 433
    12) Vgl. DESCARTES, Leidenschaften der Seele, Seite 429
    13) Opera philosoph. Leibnitii 123. Ausgabe EDUARDUS ERDMANN
    14) Repl. aux Reflex. de Bayle, 1858, Mon. 706
    15) LEIBNIZ, Theodicée, Seite 517
    16) LEIBNIZ, Monadologie, Seite 709
    17) LEIBNIZ, Nouveau Essais, Seite 269
    18) LEIBNIZ, Theodicée, Seite 517
    19) LEIBNIZ, Monadologie, Seite 709
    20) Appetition und Perzeption sind zwei Unterarten der Aktivität.
    21) OTTO STAUDE, Der Begriff der Apperzeption in der neueren Psychologie, Philosophische Studien, Bd. 1, Leipzig 1883
    22) LEIBNIZ, Nouveau Essais, Seite 223
    23) LEIBNIZ, Nouveau Essais, Seite 233
    24) LEIBNIZ, Nouveau Essais, Seite 223
    25) LEIBNIZ, Nouveaux essais, Seite 212
    26) LEIBNIZ, Nouveaux essais, Seite 236
    27) LEIBNIZ, Nouveaux essais, Seite 260
    28) LEIBNIZ, Nouveaux essais, Seite 254
    29) LEIBNIZ, Nouveaux essais, Seite 252
    30) Es soll hier noch daran erinnert werden, daß diese Willenstheorie in den  Nouveaux Essais  dargelegt ist, wo der Unterschied zwischen Perzeption und Apperzeption auf die Merkbarkeit und Deutlichkeit zurückgeführt wird.