ra-2ra-1von KirchmannVolkeltOptimismusvon HartmannP. Villaume     
 
BERNHARD BELZER
Die Lust

"Ein guter Nervenarzt muß nicht nur die somatischen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden beherrschen, er muß vor allem auch ein geschickter Psychologe, ja bis zu einem gewissen Grad ein Philosoph sein. Denn hier gilt es eben nicht nur dem Patienten ein Heilserum einzuspritzen, wir müssen ihm auch täglich ein entsprechendes Quantum Optimismus injizieren, solange bis das Toxin des Pessimismus damit abgesättigt ist."

Einleitung

"Es gibt eine Tiefe der Einsicht, mit der sich die Lebenslust nicht mehr verträgt, weil der fröhliche Schein der Dinge diese Einsicht nicht mehr blendet. Tiefe und echte Menschenkenner bekommen leicht einen schwermütigen Zug, der nicht trauriger oder finsterer Art ist, denn diese Gemüter sind zu klar, um getrübt zu werden; aber sie können nicht anders, als die gewöhnliche Welt- und Lebenslust tief unter sich sehen als ein fremdes und verworrenes Treiben." So äußert sich KUNO FISCHER über SPINOZA, der wie Wenige die Welt in sich überwunden hatte, und von dem das bekannte Wort stammt: "Ich betrachte die menschlichen Handlungen ganz so, als ob es sich um Linien, Flächen, Körper handelt. Ich habe mich gewöhnt, die menschlichen Leidenschaften, wie Liebe, Haß, Zorn, Neid, Ehrgeiz und all die anderen Gemütsbewegungen nicht als Fehler der menschlichen Natur, sondern als deren Eigenschaften zu betrachten, die zum Wesen derselben ganz ebenso gehören, wie zur Natur der Luft Hitze, Kälte, Sturm, Donner und ähnliche Erscheinungen, die wohl unbequem, aber notwendig sind und bestimmte Ursachen haben."

Nur wenigen Sterblichen ist ein so weltüberlegener Gleichmut, eine so absolute Unerschütterlichkeit der Psyche eigen. Ja, ganz im Gegenteil befinden sich die Meisten in einer steten Abhängigkeit von den äußeren Geschehnissen, und der Helligkeitsgrad ihres Bewußtseins wird fast ausschließlich von deren Art bestimmt. Nur zu leicht senken sich da bei minderer Gunst des Schicksals die Schatten der Verstimmung über ein Gemüt, und unter dem lähmenden Hauch pessimistischer Anwandlungen kann ein Sichabwenden erfolgen von dieser Welt des Unvollkommenen, harter Wirklichkeiten. Immer dunkler werden dann die Grundlagen der Weltanschauung, und statt dem Leben Lichtstrahlen abzugewinnen, es in die Höhe zu bauen, ziehen sich Viele enttäuscht und glücklos in sich selbst zurück. Dabei gewahren sie nicht, daß sie, indem sie sich der Lust verschließen, sich selbst den Wind aus den Segeln nehmen und unaufhaltsam rückwärts getrieben werden, statt sich ihrer als eine fördernden Moments zu bedienen. Freilich, mehr oder weniger sind wir ja alle diesem Auf und Ab der Stimmung unterworfen, und in eines Jeden Brust wohnen Licht und Finsternis dicht nebeneinander. Aber der geistig Starke und Gereifte wird doch immer wieder versuchen, die Dinge für sich zum Besten zu kehren und allen Wechsel und Wandel draußen als einen Aufruf zur Entfaltung einer überlegenen Gesinnung zu betrachten. Denn welchem auch nur ein wenig einwärtsschauenden Menschen sollte es nicht schon aufgefallen sein, daß die Lust der Zustand ist,worin unser Geist zu einer höheren, das Leid, worin er zu einer geringeren Vollkommenheit übergeht? In Gegenwart der Lust ist alles verklärt, gehoben, beschleunigt; in ihrer Abwesenheit alles verfinstert, verlangsamt, herabgemindert - "würde sie sich von mir wenden, augenblick's verlör ich mich". (GOETHE)

Eigener Erfahrung auf diesem Gebiet des Seelenlebens keineswegs entbehrend, hatte ich umsomehr Gelegenheit, den hier berührten Fragen nachzugehen, als mich mein Weg eine Reihe von Jahren als Arzt in Nervenheilanstalten, ja auch in eine psychiatrische Klinik führte. Angesichts der viel ausgedehntern Amplitüde der Gemütsschwankungen bei Nervösen, war es hier möglich, bis zu den äußersten Polen menschlichen Fühlens vorzudringen, vor allem aber wurde ich zu ursächlichem Nachforschen nach dieser Richtung angeregt; ja, die Lust wurde für mich geradezu zum Problem.

So sei es mir denn gestattet, meine Erfahrungen und Beobachtungen über Lust und Unlust im Weiteren vorzutragen.


I. Medizinischer Teil

a) Wie können wir auf materiellem
Weg Lustgefühle erzeugen?

Ich habe soeben angedeutet, von welch hoher Bedeutung für unser ganzes Wollen und Handeln die Art oder Qualität des  Gefühls  ist, und zwar habe ich behauptet,  daß Lustgefühle etwas Förderndes, Vorwärtstreibendes, Unlustgefühle dagegen etwas Hemmendes, Schädigendes haben.  Auf der ganzen Strecke der  Depression  herrscht im gesamten Gebiet des Vorstellens, Wollens und Handelns  Hemmung, Asthenie [Kraftlosigkeit - wp],  Verzögerung, Verlangsamung,  in dem der  Exaltation  oder  Expansion,  Erregung, Beschleunigung der Willens- und Vorstellungsprozesse, sowie eine  Steigerung  der Körper- und Geisteskraft.

 Dieser  empirisch festgestellten, wie wissenschaftlich anerkannten  Tatsache können wir uns,  wie ich glaube,  bedienen, um unseren gesamten körperlichen, vor allem aber auch geistigen Haushalt zu fördern.  Zu zeigen, wie dies geschieht, soll im Folgenden meine Aufgabe sein. Dabei möchte ich mich auf zwei Wegen dem Objekt meiner Untersuchung nähern, dem  physischen  und dem  psychischen,  d. h. ich möchte zuerst zeigen, wie wir auf einem  materiellen  Weg ein Lustgefühl erzeugen können, um dann ein Gleiches auf  psychologischem  zu tun.

Beginnen wir also mit der Medizin und wählen in ihr einmal das Einfachste und Alltäglichste, das  Kopfweh.  Niemand wird, während ihn stärkere Kopfschmerzen plagen, besonders lustig sein. Die Gefühle, die bei ihm prävalieren [vorherrschen - wp] und seiner Stimmung das Gepräge geben, sind die der Unlust. Nehmen wir nun an, daß die Kopfschmerzen durch eine gestörte Magen-Darmtätigkeit bedingt waren, etwa ein Übermaß an Alkohol, oder durch verdorbene Speisen, nun, so werden, wenn wir eine den gegebenen Verhältnissen entsprechende Diät verordnen, nach kürzerer oder längerer Zeit die Kopfschmerzen verschwinden, mit ihnen aber auch die Unlustgefühle. Waren die Kopfschmerzen durch Blutarmut bedingt, so wird diese eine längere Darreichung von Eisen, verbunden mit einer entsprechenden Ernährung und äußeren hygienischen Faktoren, zum Schwinden bringen, wieder in anderen Fällen ein geeignetes Medikament, Salicylsäure, Koffein, Aspirin und dgl. In all diesen Fällen werden nach der Beseitigung der Kopfschmerzen sich auch wieder normale Gefühle einstellen, zumindst, wenn nicht sonstige Veranlassungen vorliegen, keine solchen ausgeprägter Unlust.

Tage, wenn nicht gar wochenlang durch  Zahnschmerzen  gefoltert, werden wir gewiß nicht jubilieren, und alle Arbeitslust, alle Lebensfreude sind uns vergällt. Das schönste Konzert, der fesselndste Vortrag machen in solchen Momenten auf uns keinen Eindruck; lustlos stehen wir allem gegenüber, was uns sonst innerlich erwärmt und erfreut. Welch ein Erlöser von Unlustgefühlen ist hier der Zahnarzt, der den rebellierenden Nerv tötet oder den Störenfried wohltemperierter Stimmung, den kariösen Zahn, mit seiner Zange extrahiert.

Ein  Panaritium,  ein Fingerwurm, wie es der Volksmund nennt, kann uns eine Serie von Tagen vergiften und vor allem den Schlaf ganzer Nächte rauben. Ein Klopfen und Brennen im befallenen Glied, das sehr vernehmlich auch an die Pforte des Sensoriums pocht und dort Angst und Pein in überreichem Maß hervorruft. Meist ist der Gang zur Poliklinik der Exodus aus Not und Schmerz, wo für den Gequälten durch eine ausgiebige Inzision [Einschnitt - wp] mit einem Schlag die Erlösung kommt.

Das überzeugendste Beispiel ist vielleicht die  Otitis media,  jener eitrige Katarrh der Paukenhöhle, der die hochgradigsten Schmerzen in Ohr und Kopf verursachen kann und den von ihm Betroffenen an den Rand der Verzweiflung bringt. Gelingt es, das Exsudat [entzündliche Absonderung - wp] durch antiphlogistische [entzündungshemmende - wp] Maßnahmen zur Resorption [Erneuerung - wp] zu bringen, oder, falls man damit nicht zum Ziel kommt, durch Paracentes [Durchstechen - wp] des Trommelfells zu beseitigen, so ist der Patient von Schmerz und Schlaflosigkeit mit einem Schlag befreit und kann so froh wie vorher seinem Tagewerk nachgehen.

Während es sich bei den eben angeführten Fällen um ein Befreitwerden von augenblicklichen Schmerzen und der durch sie hervorgerufenen Unlust handelt, findet sich ein dauerndes Vorwalten der letzteren bei chronischen Leiden, wie sie beispielsweise die allgemeinen  Dyskrasien  [ungesunde Vermischung - wp] darstellen. Ich nenne hier nur das  Vitium cordis,  den chronischen Herzfehler.' Betrachten wir uns einen mit einer  Mitralinsuffizienz  [Herzklappenfehler - wp] behafteten Menschen in einem Anfall von Dyspnoe [Atemnot - wp], so wird es ganz gewiß nicht Heiterkeit sein, die aus seinen Zügen spricht. Ja, bei hochgradiger Atemnot können wir eine Verzerrung seines Antlitzes feststellen, die uns an den qualvollen Gesichtsausdruck der Laokoongruppe erinnert. Geben wir einem solchen Patienten Digitalis [Fingerhutextrakt - wp], so bringen wir das unzweckmäßig sich abarbeitende Herz dazu, wieder gleichmäßigere und kräftigere Kontraktionen auszuführen; das Blut wird reichlicher und regelmäßiger durch die Organe und lebenswichtigen Nervenzentren getrieben, der Herzmuskel selbst wieder besser ernährt, und damit heitern sich auch die Gesichtszüge auf, was nur der sichtbare Ausdruck einer Aufhellung der Psyche ist.

Einen ähnlichen Erfolg hat in vielen Fällen eine Nauheimer Badekur. Werden beispielsweise durch eine chronische Myocarditis [Herzmuskelentzündung - wp] Atemnot, Ohmachtsgefühl, Beklemmung und allgemeine Schwäche durch lange zeit ausgelöst und wir schicken den Patienten nach Nauheim, so kann durch die dortigen kohlensauren Bäder sein Herzmuskel so gekräftigt werden, daß er auf lange Zeit hinaus von obigen Beschwerden frei bleibt.

Sehr empfindliche Stimmungs-Alterationen verursachen unter den allgemeinen Dyskrasien die  Stoffwechselkrankheiten.  Ich will unter diesen nur eine einzige hervorheben: die weit verbreitete  Gicht.  Ist bei ihr die Menge der gelösten Harnsäure, d. h. der Doppelverbindung des doppelkohlensauren Natrons mit phosphorsaurem Natron erheblich über die Norm gesteigert, so wird durch diese eine schmerzhafte Reizung und Empfindung hervorgerufen. Noch größere Schmerzen ruft das doppelkohlensaure Natron hervor, wenn es isoliert auftritt, und die bohrenden Schmerzen, die ein Gichtanfall in den betreffenden Teilen verursacht, lösen natürlich ähnliche Mißstimmungen aus, wie wir sie nun schon des öfteren geschildert haben.

Nur ihrer besonders eklatanten psychischen Wirkungen wegen erwähne ich hier noch die sogenannte  Oxalurie  [Stoffwechselstörung - wp]. Nach CANTANI soll die habituelle Zufuhr reichlicher Kohlehydrade und zuckerhaltiger Nahrungsmittel mit abnormer Ausscheidung von oxalsaurem Kalk und gleichzeitigen leichten und schwereren Krankheitserscheinungen einhergehen, wobei letztere zum Schwinden gebracht werden können, wenn wir dem Patienten eine ausschließliche Fleischdiät verordnen. In den mittleren Graden dieser Erkrankung handelt es sich um psychische Erregungszustände, die sich bei einer Zunahme des Leidens bis zu einer psychischen Depression und Selbstmordversuchen neben einhergehenden schweren körperlichen Symptomen steigern können.

In ganz außerordentlichem maße sind es die  Infektionskrankheiten,  die nach Art einer  Intoxikation  die Stimmung beeinflussen und wohl jede von ihnen ist von einer Alteration des Zentralnervensystems begleitet. Bei  Scharlach,  der  Diphterie,  dem  Abdominaltyphus,  wie ganz besonders bei der  Influenz  zeigen sich neben Kopf- und Gliederschmerzen eine weinerliche, hoffnungslose Stimmung, Angstgefühle, ja delirante Zustände und Geistesstörungen verschiedenster Art. Es handelt sich hier um  Vergiftungen,  Wirkungen giftiger Stoffwechselprodukte der Bakterien,  Toxine,  die neben anderen Erscheinungen eine starke Reizun des Nervensystem veranlassen, welche sich psychisch fast ausnahmslos in einer starken Depression äußert. Gelingt es uns, das im Blut zirkulierende Toxin durch die Einspritzung eines antitoxischen Heilserums abzusättigen, so hört die Reizwirkung auf, und eine unmittelbare Folge davon ist, daß die Depression einer gehobeneren Stimmung weicht. Und so ist es dann in der Gegenwart das eigentliche Hauptbestreben der inneren Medizin geworden, diesen Toxinen zu Leibe zu rücken. Mehr und mehr neigt die Neuzeit der chemisch-toxischen Betrachtungsweise zu, und  Autointoxikation  ist das moderne medizinische Schlagwort geworden. In der Tat erweist es sich ja immer mehr, welch ungeheuren Einfluß chemische Agentien aller Art neben ihren somatischen Wirkungen, von denen wir ja hier nicht zu reden haben, auf das Nervensystem und damit auf die zunächst an dasselbe gebundene Psyche haben, seien es Ingesta, injizierte Stoffe, oder im Körper selbst gebildete Substanzen. Wer hat nicht die deletäre Wirkung kennengelernt, die eine größere Dosis Alkohol oft auf Tage hinaus auf unsere geistige Leistungsfähigkeit und Gemütsstimmung ausübt, wer nicht die Angstgefühle nach starkem Tabak, die Erregung nach konzentriertem Kaffee? Wie unabsehbar aber ist die Reihe der chemischen Stoffe, die sich pathologischerweise im Organismus selbst bilden können und einen niederziehenden Einfluß auf die Psyche ausüben! Es ist darum ein überaus segensreiches Beginnen der Medizin, sich mit Aufbietung aller Kraft dem eingehenen Studiem der Bakterien und ihrer Lebensbedingungen einerseits zu widmen, wie andererseits sich in die Biochemie des Organismus selbst zu vertiefen. Je mehr es uns gelingt, die natürlichen Schutzmittel des Organismus, die Antikörper der Alexine, Opsonine, Leukozyten, Phagozyten gegen die eindringenden Bakterienfeinde mobil zu machen, desto mehr werden wir auch die Psyche vor Erschütterungen bewahren.

Doch nicht bloß von Bakterien gehen solche Giftwirkungen aus, auch die Änderung in den  Sekretionen innerer Organe,  ganz speziell der Drüsen, oder noch mehr deren Ausfall kann die hochgradigsten Störungen zur Folge haben, die sich in evidentester Weise gerade auch bei der Psyche bemerkbar machen. So sehen wir nach einer totalen Extirpation [Entfernung - wp] der Schilddrüse so etwas wie Kretinismus eintreten; im Klimakterium bei Frauen und überhaupt im beginnenden Senium [Seniorenalter - wp] stellen sich in großer Häufigkeit geistige Störungen depressiver Art ein, die aus einem Ausfall der Ovarialfunktion resultieren; mit immer größerer Sicherheit werden sich die verschiedensten Neurosen auf eine Toxinwirkung zumual gastro-intestinaler Art zurückführen lassen, ja, die Beobachtung, daß bei manisch-depressiven Irren und Dementia praecox sich Stoffe im Blut finden, die bei anderen Psychosen und bei Normalen nicht vorkommen, weist direkt auf eine somatische Aetiologie bestimmter Geisteskrankheiten hin.

Haben wir im Gesagten einige Beweise dafür erbracht, wie chemische Stoffe reizend und vergiftend auf das Nervensystem einwirken können, das seinerseits nach der Seite des Gefühls fast ausnahmslos in  depressiver  Weise darauf reagiert, so berechtigen uns, wie schon gesagt, die bisherigen Erfolge der  Chemo-  und speziell der  Serumtherapie,  wenn diese sich vorerst auch noch in der Serumtherapie, wenn diese sich vorerst auch noch in den frühesten Anfängen befindet, zu wohlbegründeten, hochgespannten Erwartungen nach dieser Richtung. Nachdem durch die BEHRING'schen Antitoxinforschungen der erste Schritt auf diesem Gebiet erfolgt ist, dürfte es fürderhin mit Sicherheit gelingen, immer mehr und mehr in den feinsten Chemismus des Lebens der Zelle und weiter bis zur Erforschung der letzten biologischen Einheit einzudringen. Und gerade im chemischen Charakter der Proteinstoffe ist ja die Ursache aller Lebensenergie zu suchen. So werden Zellmechanismus und Zellchemismus noch recht bedeutungsvoll werden, wenngleich in den biologisch-chemischen Prozessen noch vieles dunkel ist. Nachdem aber durch die Serumtherapie bewiesen ist, daß bestimmten Elementen des Bluts eine vernichtende Kraft gegen infektionsvermittelnde Zellgruppen künstlich verschafft werden kann, liegt es nahe, das gleiche Verfahren auch bei den anderen frisch dem Körper entnommenen zelligen Elementen, bei Organzellen, zu versuchen. So ist es dann auch gelungen, ein durch übermäßige Muskelbewegungen entstandenes Toxin aus den Muskeln der Warmblüter herzustellen und mit Hilfe desselben ein Ermüdungstoxin zu präparieren, welches eine anti-ermüdende Wirkung ausüben soll. Es gelingt neuerdings auch bei gewissen Nervenkrankheiten, störende Abbauprodukte im Körper durch die Einführung von chemischen Agentien wie z. B. nukleinsauren Salzen rascher zu eliminieren und dadurch, wenn nicht Heilungen, so doch wesentliche temporäre Besserungen zu erzielen. Schließlich sei hier noch die WASSERMANN'sche  Reaktion,  eine der bedeutungsvollsten medizinischen Errungenschaften der Neuzeit, erwähnt. Durch diese ist festgestellt, daß das Blut von syhilitisch infizierten Personen bestimmte biochemische Reaktionen hervorruft, aus denen man schließen kann, daß die Krankheit noch nicht erloschen ist, trotzdem objektiv nachweisbare Symptome nicht mehr vorhanden sind. Vielleicht wird es auch gelingen, für andere dyskrasische Zustände künftig derartige diagnostische Hilsmittel zu finden, um darauf neue therapeutische Methoden aufzubauen. Dürfen wir da aber nicht hoffen, mit der Zeit auch ein neurotoxisches Serum zu gewinnen, das nicht nur antitoxisch, sondern, richtig dosiert, auch anregend auf die Nerven wirken kann? So ist es keine Vermessenheit, von der Zukunft eine Zellulartherapie zu erhoffen, die es dem Arzt ermöglichst, den Chemismus der gesunden und kranken Zelle und damit wohl auch das Zentralnervensystem direkt zu beeinflussen. -

Was wir mit dem Gesagten beweisen wollten, ist die Tatsache,  daß die Psychie im weitesten Sinne abhängig ist vom chemischen Verhalten des Organismus und der Körpersäfte,  und daß es uns in zahlreichen Fällen schon  möglich ist  und in Zukunft noch weit mehr möglich werden wird,  Unlustgefühle auf chemischem Weg zu bannen und statt ihrer eine normale Gleichgewichtslage der Stimmung herbeizuführen. 

Wie auf chemischem Weg, so können wir aber auch auf  physikalischem  direkt auf die Psyche einwirken, und es ist ja bekannt, daß die neuere Medizin sich neben der in früherer Zeit fast ausschließlichen Arzneibehandlung auch in sehr ausgedehntem Maße  physikalischer Heilmethoden  bedient. Ganz besonders in der Behandlung der Nervenkrankheiten spielen diese eine hervorragende Rolle. So vermögen wir mittels der Hydrotheraphie die verschiedensten Reize auf das Nervensystem auszuüben. Vor allem können wir auf diese Weise die Gehirntätigkeit anregen. Wenn wir unseren Körper im gesunden Zustand und nach ausgiebigem Schlaf morgens einer richtig dosierten kühlen Abwaschung, einem Halbbad oder gar einem Fluß- und Schwimmbad unterziehen, so werden wir aus diesen Prozeduren mit einem außerordentlichen Wohlgefühl hervorgehen. Schwache und mittlere Reize erhöhen hier die Innervation [Nervenimpulse - wp]) und mit ihr das Gemeingefühl, das, wie wir gesehen haben, für unseren geistigen Zustand von so hervorragender Bedeutung ist; das Gefühl körperlicher und geistiger Kraft erfährt eine ganz bedeutende Steigerung, und das Resultat des Ganzen ist  die Lust.  Wer hätte nicht von Jugend auf tausendfach Gelegenheit gehabt, die Probe auf dieses Exempel zu machen? Umgekehrt: wir kommen von einem langen, forcierten Marsch zurück, fühlen uns ermüdet und unlustig; oder aber eine vorausgegangene anstrengende und aufregende Geistestätigkeit hat einen solchen Zustand hervorgerufen. Nun, in diesem Fall können wir nichts Besseres tun, als uns in ein warmes Vollbad zu setzen. Schon nach einer halben Stunde werden wir eine wesentliche Änderung des Gemeingefühls wahrnehmen können; anstelle der Erregung und Unlust treten Beruhigung oder zunächst Apathie, die bei Normalen bald einem behaglichen Gemeingefühl weicht, das uns sogar  mit Lust  auf die bestandenen Strapazen zurückblicken läßt.

Weiter sei auf eine andere günstige Beeinflussung der Psyche auf physikalischen Wege hingewiesen: Bewegung und Muskelübung. Wie oft sind wir nicht schon hinausgezogen in Flur und Wald, schwül im Herzen, dumpf im Sinn; einige Stunden querfeldein oder noch besser hinauf auf Bergeshöh', und wie Nebel zerfloß alle Düsterkeit; frisch, gesund und froh kehren wir zu den heimischen Penaten zurück. Es handelt sich hier um eine Förderung des peripheren Kreislaufs im Sinne des  Dastre-Morat'schen Gesetzes,  auf die ja auch der Sport, wie Muskelarbeit aller Art abzielen, wobei mit der physikalischen allerdings auch wieder eine chemische Wirkung einhergeht.

Schließlich seien hier noch Medikamente wie die Brompräparate, Hypnotica in refracta dosi, Baldrian etc. erwähnt, durch welche die inneren Spannungszustände gemildert und beseitigt und auf diesem Weg psychische Wirkungen ausgelöst werden; die Alkaloide Morphium, Codein, Cocain, welche die Erregbarkeit des ganzen Nervensystems herabsetzen und so Wohlbehagen erzeugen, oder gar die Anaesthetica wie Chloroform, die das Bewußtsein gänzlich ausschalten.

Wir haben aus dem Gesagten folgende Schlüsse zu ziehen:  Es ist möglich, auf materielle Weise die Psyche zu beeinflussen und auf physikalischem, vor allem aber auf chemischem Weg Lust- und Unlustgefühle zu erzeugen.  Diese Möglichkeit ist selbstverständlich eine begrenzte, wobei anzunehmen ist, daß sich die heute gezogene Grenzlinie mit der Zeit noch sehr erheblich hinausschieben läßt; jedenfalls ist es die Aufgabe der Medizin und Naturwissenschaft, all dem, was wir bisher mit  Psychisch  bezeichneten, Scholle für Scholle abzuringen, und das Geistige soweit wie möglich auf  materielle  Weise zu erklären. Schwerlich aber werden wir hier je ganz zu Ende kommen. Wir werden graben und graben, aber ganz ans Licht wird diese Arbeit uns nie führen. Dafür sind die chemischen Wunder des Organismus viel zu groß. Wir werden immer wieder eine Wand vor uns haben. Und so bleibt dann nichts anderes übrig, als den Tunnel auch von der  anderen Seite  zu bohren und es einmal von  dieser  Richtung her zu versuchen.


b) Wie können wir auf psychologischem Weg
Lustgefühle erzeugen?

Ich wähle, um wieder zunächst von der Medizin auszugehen, eine Krankheit, die zwischen Somatischem und Psychischem vielleicht am ehesten in der Mitte liegt, die  Neurasthenie  [Nervenschwäche - wp]. Stellen wir uns einen depressiven Neurastheniker vor, der in einem Sanatorium Heilung sucht. Wir werden bestrebt sein, seinen ganzen körperlichen Haushalt so gut wie möglich zu regeln, ihm das nötige Maß an Ruhe und andererseits von Bewegung zukommen zu lassen, daneben reichliche und reizlose Kost; wir werden ihm alle Gifte entziehen und ihm statt dessen tonische Arzneimittel verordnen; dazu werden wir aus dem ganzen Arsenal physikalischer Heilmethoden ihm das Zweckmäßigste angedeihen lassen, Hydrotherapie, Massage, Elektrizität, und doch wird der Patient morgens mit denselben Klagen, derselben Niedergeschlagenheit zur Sprechstunde kommen. Forschen wir nun genauer nach, so finden wir oft, daß irgendeine Sorge hinter dem Krankheitsbild steht, sei es nun familiärer oder, wie so häufig, pekuniärer Art, und wie oft habe ich es gesehen, daß mit ihrer Beseitigung das ganze Kranksein mit einem Schlag behoben war. Remota causa cessat effectus! [Wo die Ursache aufhört, ist auch die Wirkung beendet. - wp] Sehr häufig aber finden wir unter diesen Neurasthenikern Patienten, die keinerlei pekuniäre Sorge drückt, bei denen sich auch somatisch keine ernsteren Krankheitszeichen feststellen lassen, und die sich doch bei aller hygienischen Einrichtung ihres Lebens nicht aus ihrer depressiven Gemütslage herauszuressen vermögen. Wer je als Arzt an einem Nervensanatorium tätig war, wird es zur Genüge wissen, daß die allmorgendliche Arbeit neben den therapeutischen Eingriffen zum großen Teil auch darin besteht, dem Patienten immer wieder en Kopf an die richtige Stelle zu setzen, den sinkenden Menschengeist immer wieder von neuem zu heben. Schließlich gelingt es aber in nicht zu weit vorangeschrittenen Fällen doch vielfach, der Krankheit Herr zu werden, und nicht umsonst wird gerade diese Art von Psychotherapie als  ärtzliche Kunst  bezeichnet; ja, ein guter Nervenarzt muß nicht nur die somatischen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden beherrschen, er muß vor allem auch ein geschickter Psychologe, ja bis zu einem gewissen Grad ein Philosoph sein. Denn hier gilt es eben nicht nur dem Patienten ein Heilserum einzuspritzen, wir müssen ihm auch täglich ein entsprechendes Quantum Optimismus injizieren, solange bis das Toxin des Pessimismus damit abgesättigt ist.

Bei jeder depressiven Neurasthenie liegt nämlich nach der Gefühlsseite hin eine schmerzliche Verstimmung vor. Der Vorstellungsablauf ist gehemmt; denn die psychische Schmerzvorstellung ist so fixiert und so überwiegend, daß sie fast allen anders gefärbten den Zutritt verwehrt, wodruch eine Gebundenheit der intellektuellen Funktionen entsteht. Gebunden ist aber bis zu einem gewissen Grad auch der Wille. Der kranke kann nicht mehr in dem Maße wollen, wie früher. Es gilt nun, den Patienten aus dieser düsteren Gemütslage herauszureißen und ihn zur Lust zurückzuführen. Als Mittel hierzu dient - von der Hypnose wollen wir hier absehen - die  Psychotherapie.  Wie verhält sich dies aber psychologisch betrachtet?

Nehmen wir an, das, was den Kranken am meisten drückt, was sein Gemüt verfinstert, sei die Vorstellung psychischer Insuffizienz, z. B. die Meinung, er habe infolge seines nervösen Zustandes die Fähigkeit, seinen Beruf auszuüben, dauernd verloren. Wir hätten nun diese Vorstellung auszurotten und an ihre Stelle eine Vorstellung mit  positivem  Vorzeichen zu setzen, nämlich die, daß er bald wieder arbeitsfähig sein wird, völlig imstande, seinen Geschäften nachzugehen und die ihm obliegenden Funktionen erfolgreich auszufüllen. Gleichzeitig geben wir ihm den dringenden Rat, an dieser Anschauung mit aller Kraft festzuhalten.

Gelingt uns dies, und ist dieser Bewußtseinszustand erreicht, so ist unser Patient mit einem Schlag körperlich und geistig ein anderer, besonders nach der Gefühlsseite hin. Die schmerzliche Verstimmung weicht einem normalen Gemeingefühl, und aus dem wiederhergestellten Vermögen tätig zu sein, entspringt das Gefühl der  Lust. 

Dies ist der Vorgang, der sich tagtäglich in hunderten von Heilanstalten abspielt, und dessen Enderfolg in tausenden von Fällen nicht abzustreiten ist.
LITERATUR - Bernhard Belzer, Die Lust - Wesen und praktischer Wert, Baden-Baden 1912