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KUNO FISCHER
Die beiden kantischen
Schulen in Jena


"Die kantische Vernunftkritik wollte die Erkenntnis erklären und durch die richtige Erklärung neu begründen. Also mußte sie die Bedingungen dartun, aus denen die Erkenntnis folgt, die Faktoren, die sie bilden. Die Bedingungen gehen der Tatsache, die Faktoren dem Produkt vorher. Die Bedingungen sind in Rücksicht der Tatsache das Prius. Es handelt sich demnach in der Vernunftkritik um die Einsicht in dieses Prius in Betreff der menschlichen Erkenntnis. Die kantische Vernunftkritik wollte die Erkenntnis erklären und durch die richtige Erklärung neu begründen. Also mußte sie die Bedingungen dartun, aus denen die Erkenntnis folgt, die Faktoren, die sie bilden. Die Bedingungen gehen der Tatsache, die Faktoren dem Produkt vorher. Die Bedingungen sind in Rücksicht der Tatsache das Prius. Es handelt sich demnach in der Vernunftkritik um die Einsicht in dieses Prius in Betreff der menschlichen Erkenntnis."

"Die menschliche Vernunft geteilt in eine Reihe ursprünglicher Vermögen! Diese Vermögen sind alle in der Vernunft enthalten, in derselben  einen  Vernunft. Müssen sie also nicht alle in ihrer Wurzel  eines  sein? Es handelt sich darum diese Einheit zu begreifen, den Unterschied der Vermögen aus der Einheit abzuleiten. In der einen Vernunft sind die vielen Vermögen identisch. Die  Identität  wird jetzt das Losungswort. Das Problem soll durch den Begriff der Identität gelöst werden."

"Wo bleibt - höre ich fragen - die Wahrheit? Meint man, die allzeit fertige und ausgemünzte? Die Wahrheit, von welcher Nathan sagt:  Wie Geld in Sack, so striche man in Kopf auch Wahrheit ein?  Diese Wahrheit, welche der echte Geist der Philosophie nicht kennt und nicht begehrt, bleibe denen überlassen, welche die Säcke dafür haben: das sind die Sekten mit ihrem dogmatischen Gezänk, die Schulen und die Schüler, denen es ziemt, ihre Meister zu loben. Ihre Wahrheit ist wie die Münze. Der Meister ist wie das Bild auf der Münze. Sie handeln mit den Gedanken, wie mit Zinsgroschen und da tun sie recht, daß sie dem Kaiser geben, was des Kaisers ist."

Vorwort

Der Gegenstand der folgenden Rede ist unabhängig von der Gelegenheit, bei der ich ihn zur Sprache gebracht habe. Ich habe im weitesten Umfang die Standpunkte vor Augen gehabt, welche die deutsche Philosophie seit KANT in ihren Hauptzügen ausgebildet hat; diese Standpunkte, bezeichnet durch die Namen: KANT, REINHOLD, FICHTE, SCHELLING, HEGEL, FRIES, HERBART, SCHOPENHAUER habe ich ordnen und so darstellen wollen, wie sie sich nach ihren inneren Verhältnissen aufeinander beziehen. Man darf einer Rede nicht zm Vorwurf machen, daß sie kein Buch ist. In der durch Zeitmaß begrenzten Rede konnten die Lehrbegriffe, deren jeder seine besondere systematische Ausführung hat, nur in ihren Elementen beleuchtet werden. Zugleich lag es in der Absicht der Rede, die berühmte und umfassende Streitfrage zwischen FRIES auf der einen und REINHOLD, FICHTE, SCHELLING und HEGEL auf der anderen Seite in den Vordergrund zu rücken. Daher ihr Thema, das gewiß darum dem allgemeinen Interesse an der deutschen Philosophie nicht fern liegt, weil es der Universität Jena nahe steht. Es gab eine Zeit, wo, um mit FORBERG zu reden, Jena die Hauptstadt der Philosophie war.




Hochgeehrte Versammlung!

Unsere akademischen Gesetze verlangen, daß der jedesmalige Prorektor vor der versammelten Universität seinen Amtsantritt durch den Akt einer Rede bezeichnet. Es ist diese Rede die einzige Feierlichkeit, die wir mit dem Wechsel des Prorektorats verbinden, der erste öffentliche Ausdruck der übernommenen Amtsführung und zugleich, wenn man will, eine günstige Gelegenheit, das auszusprechen, was man etwa der ganzen Universität sagen möchte. Je universeller eine Wissenschaft ist, umso mehr dürfte sie zu einer solchen Rede Stoff bieten. Und so sollte es bei dieser Gelegenheit am wenigsten einem Lehrer der Philosophie am richtigen Thema fehlen.

Die Bedeutung der Philosophie im Umkreis der akademischen Wissenschaften, in der Aufgabe der akademischen Bildung ist so universeller Natur, daß schon dieser Punkt mit Recht zum Gegenstand einer Rede gewählt werden könnte, die sich an eine Versammlung aus allen Fakultäten richtet. Indessen habe ich nicht vor, hier die Sache der Philosophie als solcher zu führen. Ich will den Schein nicht nehmen, als wollte ich der Wissenschaft, die ich lehre, eine Lobrede halten; ich weiß außerdem, daß ich einer Versammlung gegenüberstehe, die, wie verschiedenartig ihre wissenschaftlichen Interessen und Beschäftigungen sind, jene Geistesbildung und Freiheit besitzt, die stets eine Freundin der Philosophie ist. Ihnen gegenüber fühle ich kein Bedürfnis, eine Wissenschaft zu verteidigen, deren Wert Sie am wenigsten verkennen. Sie könnten mir antworten, was im Altertum jemand einem Philosophen sagte, der eine Lobrede, ich weiß nicht auf welche Tugend, halten wollte: "Wer tadelt sie denn?"


I.

Es ist die Große und wohltuende Erinnerung an den hier gepflegten und durch eine Reihe von Generationen aufrecht erhalten Geist der Philosophie, die mich auf ein anderes Thema führt. So weit die Geschichte der deutschen Philosophie seit KANT abgeschlossen und als Vergangenheit vor uns liegt, gibt es in ihrem Verlauf kaum einen bedeutenden und geschichtlich befestigten Namen, der nicht mit unserer Universität irgendwie verbunden wäre; die meisten und berühmtesten gehören der Geschichte dieser Universität an, sie sind die Namen jenaischer Professoren. In Königsberg entstand die Philosophie, welche bis zu diesem Augenblick den Gang der deutschen Spekulation beherrscht, von der die folgenden Systeme teils durch Fortbildung teils durch Entgegensetzung abstammen. In Jena findet die kantische Philosophie ihren günstigsten Schauplatz, ihre bedeutendste Schule, ihre reichste und fruchtbarste Entwicklung. Ich nenne die Namen: REINHOLD der Ältere, SCHILLER, FICHTE, SCHELLING, HEGEL, OKEN, FRIES.

Es gibt keinen namhaften Denker seit KANT, der die eigene Lehre nicht mit der kanstischen auseinandergesetzt, nicht aus dieser, sei es durch Fortbildung oder Entgegensetzung, abgeleitet hätte:  keinen,  der nicht den Beweis hätte führen wollen, daß die kantische Lehre, richtig verstanden und unabhängig beurteilt, geraden Weges zu der seinigen führe.

Um die Reihe der bedeutenden Philosophen zu ergänzen, nenne ich noch zwei Männer, deren Lehren weit voneinander abstehen und zugleich jede in ihrer Weise der in Jena fortgepflanzten kantischen Schule widerstreiten, wenn es erlaubt ist, unter diesem Name die Reihe der philosophischen Denker von REINHOLD bis FRIES zusammenzufassen. HERBART ist der eine, SCHOPENHAUER der andere. Wer die Philosophie dieser Männer kennt, weiß, wie genau sie mit der kantischen Kritik zusammenhängen. Bei aller Verschiedenheit in den Ergebnissen will SCHOPENHAUERs Lehre, die ihre Bedeutung früher verdient als gewonnen hat, nichts anderes sein als die richtig verstandene Philosophie KANTs, sie will die einzige Philosophie sein, welche die kantische richtig verstanden, konsequent fortgebildet habe. Bei aller Verschiedenheit in der Grundlage läßt sich die Lehre HERBARTs selbst im Geist ihres Urhebers so darstellen, daß von KANT zu HERBART nur ein Schritt - wie es scheint, ein unvermeidlicher - führt. KANT gab eine Kritik der Vernunft. Er entdeckte die Begriffe, ohne welche keine Erkenntnis stattfindet. Muß eine Kritik der Vernunft nicht auch eine Kritik jener Begriffe sein? Muß sie es nicht umso nachdrücklicher sein, als eine nähere Prüfung hier Schwierigkeiten und Widersprüche entdeckt, welche diese zur Erkenntnis nötigen Begriffe undenkbar, ihren Gebrauch unmöglich erscheinen lassen, also die Erkenntnis selbst in Frage stellen? Müssen also nicht diese Widersprüche entfernt, diese Begriffe denkbar gemacht, die Erkenntnis eben dadurch ermöglicht werden? Wird sie nicht erst dadurch möglich gemacht? So erscheint diese Untersuchung, diese "Bearbeitung der Begriffe" als die Grundlage aller Philosophie, als die eigentliche Metaphysik. Und damit stehen wir im Mittelpunkt der herbartischen Lehre.

Sind nun auch HERBART und SCHOPENHAUER nicht jenaische Professoren gewesen, so stehen sie doch mit unserer Universität in einer gewissen Gemeinschaft. HERBART war jenaischer Student, er hat hier FICHTE gehört und den für die Gründung der eigenen Philosophie wichtigen Einfluß der Wissenschaftslehre empfangen. Und SCHOPENHAUER war jenaischer Doktor, er hat hier mit einer Abhandlung promoviert, die zu seinen wichtigsten Schriften zählt und das eigentliche Programm seiner Philosophie bildet, ich meine die Schrift über die vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde.


II.

Ich kehre zurück zu den jenaischen Professoren, die auf dem hiesigen Katheder die kantische Philosophie entwickelt und fortgebildet haben. Diese Entwicklungsgeschichte umfaßt einen Zeitraum von sechsundfünfzig Jahren, der mit dem Auftreten des älteren REINHOLD beginnt und mit dem Tod von FRIES endet. Ich muß es hervorheben als eine Tatsache, die einzig und ohne Vergleich dasteht im Andenken deutscher Hochschulen: daß an einer Universität, die sich gern zu den kleinen zählen läßt, in einem Zeitraum von mehr als einem halben Jahrhundert in ununterbrochener Reihenfolge die bedeutendsten Repräsentanten der deutschen Philosophie gelehrt haben, daß in diesem Zeitraum nicht ein Augenblick war, wo es der Philosophie in Jena an einem leuchtenden Namen fehlte, daß in so langer Zeit die philosophische Geistesströmung in Jena nie Ebbe, sondern immer Flut gehabt hat. FRIES hatte im Jahre der Schlacht Jena verlassen, um nach einer zehnjährigen Lehrtätigkeit in Heidelberg hierher zurückzukehren, aber Jena behielt HEGEL. Und als dieser zwei Jahre später dem Ruf nach Nürnberg folgte, war im Jahr vorher OKEN nach Jena berufen worden. In derselben Zeit fanden sich hier zusammen SCHILLER, FICHTE, SCHELLING, dann SCHELLING, HEGEL, FRIES, dann HEGEL, FRIES, OKEN.

Unter diesen unserer Universität und der Welt wichtigen Männern ist ein ihre Lehren betreffender Gegensatz, den ich hervorheben und näher betrachten will. Eines ist allen gemeinschaftlich: die kantische Philosophie, von der sie aussgehen, die sie fortbilden wollen.

REINHOLD war der Erste, der in seinen Briefen über die kantische Philosophie deren Verständnis einem weiteren Kreis aufschloß, der unter der öffentlichen Anerkennung des Meisters hier die kritische Philosophie mit einem glücklichen Talent und mit großem Erfolg lehrte, der in seiner Elementarphilosophie bei den ersten bemerkenswerten Versuch zu einer Fortbildung machte. Dieser Versuch nahm eine Richtung, die er bei weitem nicht bis zum letzten Ziel verfolgte. Dazu fehlte dem Urheber die Kraft und die Kühnheit. FICHTEs Wissenschaftslehre kam und vollendete, was REINHOLD begonnen hatte. Aus der Wissenschaftslehre folgte in nächster Abkunft SCHELLINGs Naturphilosophie und aus dieser entwickelte sich das System HEGELs.

Unter dem kantischen Gesichtspunkt betrachtet, lassen sich diese Philosophen, so verschieden ihre Systeme sind, so heftig sie selbst einander bekämpfen, doch in  eine  Gruppe zusammenfassen. Sie sind von einem obersten Grundgedanken beherrscht, aus welchem sie die kantische Philosophie verstehen und fortbilden. Unter diesem Grundgedanken beginnt in REINHOLD eine Richtung spekulativen Denkens, welche die Metamorphosen der Wissenschaftslehre und Naturphilosophie durchlaufen muß und erst in HEGEL ihr Ziel erreicht.

Aber jenem Grundgedanken gegenüber ist eine entgegengesetzte Richtung denkbar, welche die kantische Philosophie als Grundlage festhält und von hier aus die von REINHOLD eingeführte Fortbildung derselben bekämpft. Diese Position nimmt FRIES ein. Er nimmt zu KANT eine positive und abhängige, zur Entwicklung der kantischen Philosophie in REINHOLD, FICHTE, SCHELLING und HEGEL eine entschieden polemische Stellung ein.

Diesen Gegensatz will ich beleuchten. Es handelt sich dabei im Grunde um das Verständnis der kantischen Philosophie und zwar um die  erste  Instanz der Beurteilung KANTs. Jede der entgegengesetzten Seiten, behauptet, sie habe die allein richtige Auffassung. Der Widerstreit ist so klar er sein kann. Dieser Gegensatz ist ohne Zweifel kein unwichtiges Problem in der deutschen Philosophie, er ist das wichtigste unter den jenaischen Philosophen. REINHOLD hat in Jena die erst, FRIES die letzte kantische Schule gestiftet. Es handelt sich um den Gegensatz dieser beiden Schulen, die von Jena ausgegangen sind, deren letzte in unserem verewigten Kollegen APELT ihren wichtigsten Repräsentanten durch einen zu frühen Tod verloren hat. Indem ich seinen Namen hervorhebe, tue ich es, um sein Gedächnis zu ehren.

Soll ich das Thema meiner Rede ausdrücklich bezeichnen, so heißt es:  Die ältere und jüngere kantische Schule in Jena. 


III.

Das ganze Problem läuft auf die Frage hinaus: Was will und kann die Vernunftkritik allein sein? Wie verhält sie sich zum System der Philosophie? Was ist sie für eine philosophische Wissenschaft?

Der Gründer der kritischen Philosophie hatte unterschieden zwischen der  Kritik  der Vernunft und dem  System  der Vernunft. Er wollte unter dem letzteren den Inbegriff aller reinen Vernunfterkenntnisse verstanden wissen, aller Erkenntnisse a priori, wie es im Sprachgebrauch seiner Philosophie hieß: mit einem Wort aller metaphysischen Einsichten. Es handelte sich um die Metaphysik. Sie sollte neu begründet werden. Sie sei die schwerste aller menschlichen Einsichten, hatte KANT schon in einer seiner vorkritischen Schriften erklärt, aber es sei noch nie eine geschrieben worden. Die bisherige Metaphysik in allen ihren Systemen sei grundlos: deshalb grundlos, weil allen diesen Systemen die Selbstprüfung der Vernunft gefehlt habe, weil sie aufgebaut seien ohne eine vorhergehende gründliche Einsicht in das Wesen der menschlichen Vernunft, in die Natur und Grenzen ihrer Erkenntnisvermögen. Diese Selbstprüfung der Vernunft nennt KANT das kritische Geschäft der Philosophie. Er führte es aus in seiner Kritik der reinen Vernunft.

Die kantische Vernunftkritik wollte die Erkenntnis erklären und durch die richtige Erklärung neu begründen. Also mußte sie die Bedingungen dartun, aus denen die Erkenntnis folgt, die Faktoren, die sie bilden. Die Bedingungen gehen der Tatsache, die Faktoren dem Produkt vorher. Die Bedingungen sind in Rücksicht der Tatsache das Prius. Es handelt sich demnach in der Vernunftkritik um die Einsicht in dieses Prius in Betreff der menschlichen Erkenntnis. Dieses Prius bezeichnete KANT treffend als das, was "a priori" sei. Die darauf gerichtete Untersuchung hieß "transzendental". Und die Transzendentalphilosophie sucht nichts anderes, als die Einsicht in diejenigen Bedingungen, ohne welche keine Vorstellung, kein Urteil, keine Erkenntnis zustande kommt; das ist die Einsicht in unsere apriorische Vermögen, in die reine Vernunft.

So werden Raum und Zeit erkannt als die reinen Anschauungen, ohne welche keine Vorstellung von irgendeinem gegebenen Objekt möglich ist. So werden die Kategorien, insbesondere die Kausalität, erkannt als die reinen Verstandesbegriffe, ohne welche kein Urteil, keine Erfahrung, keine Naturerkenntnis stattfindet. So werden die Ideen, insbesondere die Freiheit, als die Vernunftzwecke erkannt, ohne die es kein sittliches Handeln gibt.

Alle diese Bedingungen werden auf das sorgfältigste geschieden. Ein anderes sind Anschauungen, ein anderes Begriffe, ein anderes Ideen. Die Anschauungen sind nur sinnlich, die Begriffe nur logisch, die Ideen nur praktisch. Mit der Genauigkeit einer geometrischen Abmessung wird die Sinnlichkeit vom Verstand, beide von der Vernunft als dem praktischen Vermögen unterschieden. So sieht sich die menschliche Vernunt, indem sie ihre Selbstprüfung vollendet, gleichsam gespalten in eine Reihe ursprünglicher Vermögen, deren jedes seine Provinz in selbstbestimmte Grenzen einschließt. Sie sieht sich geteilt in theoretische und praktische Vernunft und als theoretische wieder geteilt in Sinnlichkeit und Verstand. Die Anschauung erzeugt nichts als Größen, der Verstand nichts als Erfahrung, die praktische Vernunft nichts als sittliches Handeln und den darauf gegründeten religiösen Glauben. Für die anschauende (sinnliche) Vernunft gibt es nur Größen, für die nach Verstandesbegriffen urteilende Vernunft nur Naturerscheinungen, für die praktische nur Zwecke und Ideale, für die fühlende nur ästhetische Objekte.

Wie sich nun die Vernunft in ein solches System von Vermögen teilt, so teilt sich die Erkenntnis, deren Objekt die Vernunft ist, d. h. die Kritik, in ein System philosophischer Wissenschaften. Wie sich in der Vernunftkritik der Verstand vom Willen, so unterscheide sich im Vernunftsystem die Metaphysik der Natur von der Metaphysik der Sitten.


IV.

Der erste Blick auf diese kurze Skizze der kantischen Philosophie findet das darin enthaltene nächste Problem: die menschliche Vernunft geteilt in eine Reihe ursprünglicher Vermögen! Ist die Vernunft nicht  eine?  Sind jene Vermögen nicht  viele,  voneinander abgesonderte, deren jedes für sich ist? Wie kann, was Eines ist, zugleich Vieles sein? Wie kann ein Ding viele Eigenschaften, ein Subjekt viele Kräfte haben? Ist das nicht der klarste Widerspruch? Nicht eine nach dem Satz des Widerspruchs, dem obersten der Logik, völlig undenkbare Sache?

Wenn wir die kritische Philosophie so beurteilen, so finden wir uns am Ziel derselben einem Ereignis gegenüber, das völlig undenkbar erscheint. Wir haben einen in sich widersprechenden Begriff von der menschlichen Seele: eine Psychologie, die sich mit der Logik nicht verträgt. Und wenn ähnliche Widersprüche auch in den Naturbegriffen enthalten sind, wie z. B. sogleich in der Vorstellung verschiedener Eigenschaften und Kräfte in demselben materiellen Ding, so gibt das eine Naturwissenschaft, die ebenfalls mit der Logik streitet. Also müssen vor allem erst die Begriffe untersucht, von ihren Widersprüchen befreit, mit der Logik in Einklang gebracht, mit einem Wort denkbar gemacht werden. Genauso beurteilt HERBART die kantische Philosophie. Genauso bestimmt er die Aufgabe seiner Metaphysik.

In der Entwicklungsgeschichte der kantischen Philosophie war diese Auffassung nicht der nächste Schritt. Derselbe Widerspruch macht sich fühlbar, die Lösung ist eine andere. Die menschliche Vernunft geteilt in eine Reihe ursprünglicher Vermögen! Diese Vermögen sind alle in der Vernunft enthalten, in derselben  einen  Vernunft. Müssen sie also nicht alle in ihrer Wurzel  eines  sein? Es handelt sich darum diese Einheit zu begreifen, den Unterschied der Vermögen aus der Einheit abzuleiten. In der einen Vernunft sind die vielen Vermögen identisch. Die  Identität  wird jetzt das Losungswort. Das Problem soll durch den Begriff der Identität gelöst werden. Die Lösung wird mit jedem Schritt, den sie weiter geht, umfassender.

Der geforderten Vernunfteinheit steht zuerst innerhalb der theoretischen Vernunft der Gegensatz zwischen Sinnlichkeit und Verstand gegenüber, dann innerhalb der gesamten Vernunft der Gegensatz zwischen dem theoretischen und dem praktischen Vermögen, zwischen Erkenntnis und Wille, endlich innerhalb des Universums der Gegensatz zwischen der Natur als dem Objekt der theoretischen - und der Freiheit als dem Objekt der praktischen Vernunft.

Die Einheit von Sinnlichkeit und Verstand entdeckt sich im  Vorstellungsvermögen.  Die Vorstellung ist sowohl sinnlich als intellektuell. Anschauungen und Begriffe, beide sind Vorstellungen. Diesen ersten Versuch, die beiden Erkenntnisvermögen aus einem Prinzip abzuleiten, Sinnlichkeit und Verstand in der vorstellenden Vernunft identisch zu setzen, macht REINHOLD in seiner Elementarphilosophie.

Die höhere Einheit der theoretischen und praktischen Vernunft entdeckt sich in der Grundtätigkeit der Vernunft als solcher, im  Selbstbewußtsein  oder Ich. Den Versuch, aus dem Ich als dem einzigen und alleinigen Prinzip der Philosophie das Wissen als solches abzuleiten, macht FICHTE in seiner Wissenschaftslehre.

Endlich die absolute und höchste Einheit der Natur und Freiheit führt zu jener im engeren Sinn sogenannten Identitätsphilosophie, die SCHELLING naturphilosophisch, HEGEL logisch begründet.

So nimmt die kritische Philosophie schon in REINHOLD die Richtung auf die Identität. Dieses Prinzip der Identität, welches REINHOLD in der Vorstellung, FICHTE im Ich, SCHELLING in der schaffenden Natur, HEGEL in der selbstbewußten Vernunft und ihrer Entwicklung entdeckt haben will, beschreibt in der Reihenfolge dieser Philosophen mit jedem Schritt eine weitere Sphäre: die engste in REINHOLD, die weiteste in HEGEL.

Was wird in dieser Entwicklung aus der Vernunftkritik? Sie wird eine Erkenntnis, deren Objekt die Identität, d. h. die Einheit der Vernunft und der Welt ist. Sie wird eine Wissenschaft des obersten Prinzips sowohl des Erkennens als der Dinge, d. h. sie wird Metaphysik und als solche eine Erkenntnis a priori.

Nun läßt sich innerhalb der Identitätsphilosophie noch über die Fassung und Formel der Identität selbst streiten. Zugegeben, daß in Allem Eines sei, daß  ein  Prinzip allen Erscheinungen zugrunde liege, so bleibt die offene Frage: worin dieses eine Prinzip besteht? Die genannten Philosophien haben es bestimmt als Vernunft. Diese Fassung läßt sich bekämpfen. Die Vernunft - so kann man einwenden - ist gar nicht ursprünglich, vielmehr ist die abgeleitet und vielfältig bedingt, sie ist selbst eine Erscheinung, eine sehr späte, die als solche erst im Menschen hervortritt: das wahrhaft Ursprüngliche, das der Vernunft vorausgeht, diese erst bedingt und erzeugt, das absolut spontane Prinzip jeder Naturerscheinung und jeder Geistesäußerung ist der Wille. Hier wird nicht das Prinzip der Identität, nur seine Fassung umgestoßen. Und genau diesen Gegensatz zu den genannten Philosophen bildet SCHOPENHAUER.

Ein Gegner der Identitätsphilosophie in FICHTE, SCHELLING und HEGEL ist SCHOPENHAUER mit dem Prinzip der Identität einverstanden und ebenso damit, daß die Grundlage der Philosophie Metaphysik sei.

Ein Gegner aller Identitätsphilosophie, in welcher Formel sie auch erscheine, ist HERBART, aber darin stimmt er mit seinen Gegnern überein, daß die erste Wissenschaft, die Grundlage aller übrigen, keine andere sein könne, als die Metaphysik.


V.

Ich stelle diesen so bezeichneten Richtungen eine andere gegenüber, die ihren Gegensatz in folgender Weise aussprechen möge.

Die philosophische Grundwissenschaft ist  nicht  die Metaphysik. Diese Erklärung kehrt sich gegen die Identitätsphilosophen und gegen HERBART.

Die philosophische Grundlage gibt die Vernunftkritik. Diese Erklärung macht gemeinschaftliche Sache mit KANT.

Aber die Vernunftkritik ist keine metaphysische Einsicht. Sie kann und will es nicht sein, wenn sie sich selbst richtig versteht. Die wahrhaft kritische Philosophie ist darum in keiner Weise Identitätslehre. Diese Erklärung geht gegen REINHOLD, FICHTE, SCHELLING und HEGEL.

Was aber ist die Vernunftkritik, wenn sie nicht Metaphysik ist? Sie ist die Erkenntnis der menschlichen Vernunft und ihrer Vermögen. Diese Selbsterkenntnis ist nur möglich durch Selbstbeobachtung, d. h. durch innere Erfahrung. Erfahrungswissenschaft ist Naturlehre. Innere Erfahrungswissenschaft ist innere Naturlehre, d. h. Anthropologie, näher Psychologie, empirische Psychologie. Also die Vernunftkritik, die sich richtig versteht, ist Erfahrungsseelenlehre. Ihr Inhalt ist anthropologisch, ihre Erkenntnis ist empirisch. Genau das ist der Standpunkt von FRIES.

Damit erklärt sich die Stellung, die FRIES einnimmt. Er ist in der Forderung der Vernunftkritik kantisch. Wenn die Vernunftkritik nicht metaphysisch ist, so kann sie nichts anderes sein als anthropologisch. Wenn ihre Einsichten nicht a priori sind, so können sie nicht anderes sein als empirisch. Eben  hier  liegt die Streitfrage zwischen FRIES und den kantischen Identitätsphilosophen. Daher die polemische Stellung, die sich FRIES vornehmlich gegen REINHOLD, FICHTE und SCHELLING gibt. Diese Philosophen standen ihm zunächst gegenüber und auf sie konzentrieren sich seine Angriffe, die erst später auch gegen HEGEL gerichtet werden. Dieser seiner polemischen Stellung ist sich FRIES mit großer Klarheit bewußt gewesen und seine darauf bezüglichen Schriften bilden zur Einsicht in seinen Standpunkt und den Grundzug seiner Philosophie ohne Zweifel eines der lehrreichsten und entschiedensten Zeugnisse. Da ich von diesen polemischen Schriften rede, so will ich doch im Vorübergehen bemerken, daß FRIES in der Würdigung seiner Gegner stets wie ein Mann redet, dem man es anhört, daß es ihm bloß um die Sache zu tun ist. Selbst da, wo er sich im größten Gegensatz fühlt, versteht er die Bedeutung des Gegners und macht sie selbst einleuchtend mit einer ruhigen Anerkennung, welche beweist, wie wenig dieser Mann von einem kleinlichen und darum verkleinerunssüchtigen Sektengeist befangen war. Ich habe die Stelle im Sinn, wo FRIES von SCHELLINGs Naturphilosophie urteilt: "sie sei die einzige originelle, große Idee, welche seit der Erscheinung von KANTs Hauptschriften im Gebiet der freien Spekulation sich in Deutschland gezeigt habe. Hier," sagt er treffend, "wurde zum erstenmal seit der neuen Ausbildung der Naturwissenschaften das Ganze der Physik mit einem Blick übersehen und vorzüglich diese Wissenschaft von jenem Erbfehler befreit, ich meine den Glauben an den Grundsatz: der Organismus lasse sich aus den immanenten, eigentümlichen Gesetzen der Naturlehre nicht beherrschen oder ableiten, sondern man müsse in der Rücksicht seiner zu einer Teleologie nach Begriffen seine Zuflucht nehmen. SCHELLING entriß zuerst den Glauben an die Einheit des Systems der Natur den Träumern und Schwärmern und stellte mit Besonnenheit den Grundsatz auf, daß die Welt unter Naturgesetzen ein organisiertes Ganzes sei; er setzte somit den Organismus, welcher sonst immer nur ein beschwerlicher Anhang der Physik blieb, eigentlich in ihren Mittelpunkt und machte ihn zum belebenden Prinzip des Ganzen."

Nach FRIES ist demnach die philosophische Grundwissenschaft nicht die Metaphysik, sondern die Anthropologie im Sinn der inneren Naturlehre, d. h. die psychische Anthropologie. Das ist die eigentliche  philosophia prima  Auf dieser anthropologischen Grundlage ruht die Vernunftkritik, auf diese gründet sich die metaphysische Erkenntnis, das System der Philosophie in seiner Gliederung.

Die kantische Kritik wollte  nicht  anthropologisch sein. HIer ist die Differenz zwischen KANT und FRIES und damit die Notwendigkeit für FRIES, die Vernunftkritik in seinem Sinn zu erneuern. Er tat es in seiner "Neuen Kritik der Vernunft", die nichts anderes ist, als die anthropologische Umbildung der kantischen Vernunftkritik, zum größten Teil eine Übersetzung der letzteren in die Sprache der empirischen Psychologie.


VI.

Wenn man den anthropologischen Grundgedanken der friesischen Lehre im Auge behält, so wird von hier aus deren Inhalt und geschichtliche Stellung vollkommen begreiflich. FICHTE und FRIES stehen nach entgegengesetzten Richtungen hin in einer nahen Verwandtschaft mit der kantischen Philosophie. Diese Verwandtschaft ist so groß, daß sie bis auf einen gewissen Grad die Selbständigkeit beider aufhebt und das Recht gibt, von einer kantisch-fichtischen, einer kantisch-friesischen Lehre zu reden. Ja die friesische Philosophie ist in ihren Materien der kantischen so ähnlich, daß man in den Unterschieden beider kaum mehr als Modifikationen sehen möchte, welche die kantische Lehre durch FRIES erfährt.

Indessen macht die anthropologische Fassung einen wesentlichen Unterschied zwischen der alten und neuen Vernunftkritik. Ist nämlich die Vernunftkritik lediglich anthropologisch, so leuchtet ein, daß der ursprüngliche Vernunftinhalt gegeben, daß er in unserem Innern unmittelbar vorhanden sein müsse; es leuchtet ein, daß wir diesen Inhalt nicht machen, sondern bloß einsehen; daß zu dieser Einsicht die Vernunft ein Vermögen haben müsse, kraft dessen sie auf ihre inneren Vorgänge reflektiert; daß dieses Reflexionsvermögen nichts hervorbringen, sondern nur das Gegebene beobachten, das Dunkle verdeutlichen könne, so daß aber, um das letztere zu können, jenes Reflexionsvermögen die Fähigkeit haben müsse, sich willkürlich auf das eine oder auf das andere zu richten. Dieses willkürliche Reflexionsvermögen nennt FRIES den  Verstand,  der also hier in keiner Weise Erkenntnis erzeugt, sondern nur die unmittelbar vorhandene zu Bewußtsein bringt, sich derselben wiederbewußt wird. Darum behauptet FRIES denen gegenüber, die, wie FICHTE, das Philosophieren für ein Produzieren halten, daß unsere Verstandeserkenntnis nichts sei, als ein Wiederbewußtwerden:  anamnesis.  Darum behauptet er denen gegenüber, die, wie SCHELLING, das Philosophieren für ein intellektuelles Anschauen halten, daß alle Philosophie Reflexionsphilosophie sein müsse.

FRIES Lehre vom Verstand macht die erste und wichtigste Abweichung von der kantischen Philosophie. Sie ist durchaus entscheidend für die Wendung, welche die friesische Lehre nimmt.

Die ursprünglichste Vernunfterkenntnis ist nicht durch den Verstand gegeben, sondern sie ist dem Verstand gegeben; sie wird durch den Verstand nicht gemacht, sondern deutlich gemacht, sie ist also früher in uns als das deutliche Bewußtsein, sie liegt im Dunkel der Vernunft und wir sind derselben inne durch das Gefühl. Daher die für die ganze friesische Philosophie charakteristische Lehre vom  Wahrheitsgefühl.  Hieraus erklären sich die Geistesverwandtschaften, in denen sich FRIES findet.

Der Verstand ist nach FRIES für sich genommen leer. Hier geht FRIES zurück auf die Theorien von LOCKE und HUME.

Aber die menschliche Vernunft ist im Besitz ursprünglicher Erkenntnisse, die an sich dunkel sind und erst durch Abstraktion (Reflexion) deutlich gemacht werden. Hier geht FRIES zurück auf LEIBNIZ.

Dieses unmittelbare Erkennen läßt sich dem Gemeinsinn (common sense) vergleichen, worauf HUME gegenüber die schottische Schule ihre Erkenntnistheorie gründen wollte. Hier vergleicht sich FRIES mit THOMAS REID und STEWART.

Dieses Wahrheits- und Einheitsgefühl der Vernunft ist zugleich deren notwendige Erhebung über die in Raum und Zeit ausgedehnte, darum unvollendete und unvollendbare Sinnenwelt, die Erhebung zur Idee des Vollendeten und Absoluten, zu der von Raum und Zeit unabhängigen Ideenwelt: das religiöse Gefühl, der Vernunftglaube, die einzige Weise, in der die Vernunft des wahren Seins inne wird. Hier ist die bedeutende Verwandtschaft, welche FRIES mit dem Philosophen FRIEDRICH HEINRICH JACOBI, die unter den Theologen de WETTE mit FRIES eingeht.


VII.

So erleuchtet sich die friesische Lehre in ihrem ganzen Umfang aus dem anthropologischen Grundgedanken. So will FRIES selbst seine Lehre beurteilt wissen.

Ich fasse diesen anthropologischen Grundgedanken selbst ins Auge. Es ist die Frage: ob die Vernunftkritik anthropologisch ist und sein darf?

KANT wollte durch seine Kritik dartun, welche Erkenntnisse die menschliche Vernunft durch sich hat: unsere Erkenntnisse a priori. Dasselbe will FRIES. So ist die Vernunftkritik eine Erkenntnis der Erkenntnisse a priori. Aber diese Erkenntnis ist nicht selbst a priori. Die Erkenntnis des Transzendentalen ist nicht selbst transzendental. Sie dafür zu halten, nennt FRIES mit einem oft von ihm wiederholten und fast technisch gebrauchten Ausdruck: "Das Vorurteil des Transzendentalen." KANT selbst hat dieses Vorurteil gehabt und begünstigt. FRIES nennt es auch: "das kantische Vorurteil". Von REINHOLD an wird es Prinzip der Philosophie und befestigt sich immer tiefer und weitgreifender in FICHTE und SCHELLING. Daher die Richtung dieser Philosophen, ihr vollständiges Aufgeben der anthropologischen Grundlage, ihr Verlassen der kritischen Philosophie, ihre Rückkehr zum Dogmatismus. Also ist der Gegensatz zwischen FRIES und den kantischen Identitätsphilosophen, auf seine Wurzel zurückgeführt, eine wirkliche, von FRIES selbst anerkannte, Differenz zwischen ihm und KANT. Diese Differenz, von der alles weitere abhängt, ist zu entscheiden.

Auf den ersten Blick könnte es gleichgültig scheinen, wie man die Vernunftkritik nennt, wenn man nur ihre Resultate bejaht und festhält. Was kommt darauf an, ob sie Metaphysik oder Anthropologie heißt?

Und soll zwischen beiden Auffassungen gewählt werden, so scheint auf den ersten Blick die friesische bei weitem die einfachste und natürlichste zu sein. Ist nicht die Vernunftkritik menschliche Selbsterkenntnis? Gibt es einen anderen Weg der Selbsterkenntnis als den der beobachtenden Psychologie? Ist nicht alle Erkenntnis unseres Inneren eines psychologische Einsicht?

Der erste Blick ist nicht immer der richtige. Die Vernunftkritik sei, wie FRIES verlangt, innere Erfahrung, empirische Seelenlehre, sie sei nichts anderes. Alle ihre Einsichten seien demnach empirisch,  nur  empirisch. Keine empirische Einsicht ist allgemein und notwendig, keine ist a priori. Diesem Satz ist kaum jemals widersprochen worden. KANT hat in der Einführung seiner Vernunftkritik den größten Nachdruck auf diesen Charakter der empirischen Erkenntnis gelegt. FRIES ist darin ganz mit ihm einverstanden.

Wenn nun die Vernunftkritik bloß psychologisch und darum lediglich empirisch ist: wie können die Objekte ihrer Einsicht a priori sein? Das möchte ich mir gern deutlich machen lassen! Sind aber diese Objekte nicht a priori, sind Raum und Zeit nicht Anschauungen a priori, die Kategorien nicht Begriffe a priori, so muß ich fragen: wo bleibt die Vernunftkritik? So weit sie kantischen Geistes ist, verliert sie nicht weniger als ihre ganze Geltung.

FRIES entgegnet: was die Vernunftkritik entdeckt, ist a priori; aber die Entdeckung selbst ist a posteriori. Der Gegenstand ihrer Erkenntnis ist a priori, ihre Erkenntnis selbst ist empirisch. Darin eben liege das Vorurteil, daß man meint: was a priori sei, müsse auch a priori erkannt werden. Auf diese Erklärung gründet sich die ganze friesische Lehre, ihre ganze Reform der Vernunftkritik. Diese Erklärung bildet geradezu die Spitze ihrer gegen REINHOLD, FICHTE, SCHELLING gerichteten Polemik.

Und eben hier liegt in der friesisischen Philosophie das  proton pseudos  [die erste Lüge - wp].  Was a priori ist, kann nie a posteriori erkannt werden. 

Überhaupt weiß ich den ganzen Unterschied von a priori und a posteriori auf nichts anderes zu beziehen als auf unsere Erkenntnis. Ich verstehe nicht, wie unabhängig von der Erkenntnis etwas a priori sein kann. Ich verstehe ebensowenig, wie in uns eine Erkenntnis a priori sein soll, welche selbst nur durch Erfahrung erkannt wird. Ich gebe zu, daß unsere ursprünglichen Vernunftäußerungen, die allen Vorstellungen und Erkenntnissenn zugrunde liegen, daß Anschauungen wie Raum und Zeit, daß Begriffe wie die Kausalität usw. zunächst auf dem Weg der Erfahrung und Selbstbeobachtung von uns gefunden, daß wir auf diesem Weg zuerst derselben inne werden. Aber eines kann auf diesem Weg nie entdeckt werden: daß jene Vernunftäußerungen - es seien nun Anschauungen oder Begriffe - a priori sind! Ich kann von der Kausalität, von Raum und Zeit wissen, ohne zu wissen, daß sie ursprünglich sind. Eben hierin unterscheidet sich das empirische Bewußtsein vom kritischen. Eben auf diesen Punkt, auf dieses a priori, kommt es in der Vernunftkritik an, darauf kommt  alles  an. Wenn die Vernunftkritik nur einsieht, daß in uns solche Anschauungen, solche Begriffe vorkommen, d. h. wenn sie dieselben nur empirisch findet, so haben ihre Entdeckungen gerade  den  Wert verloren, auf welchen KANT alles Gewicht legt.

KANT und FICHTE wußten wohl, warum jener seine Kritik, dieser seine Wissenschaftslehre durchaus nicht wollten für Psychologie gelten lassen. Waren ihre Einsichten nur psychologisch und darum nur empirisch, so waren in demselben Augenblick die Objekte dieser Einsichten nicht mehr ursprünglich und damit hatte das Unternehmen beider Philosophen seinen Sinn verloren.

Was ist Selbstbeobachtung? Ich beobachte nur mich. Was ich in dieser Anschauung finde, hat zunächst gar kein Recht, für alle zu gelten. Wo bleibt die Allgemeingültigkeit der Resultate? Ich verhalte mich in dieser Beobachtung nur empirisch. Was ich durch Erfahrung erkenne, darf und will keinen Anspruch auf strenge Notwendigkeit haben. Wo bleibt die Notwendigkeit der Resultate? Wenn also die Vernunftkritik nichts sein will als empirische Selbstbeobachtung, wo ist noch die allgemeine und notwendige Geltung ihrer Einsichten: wo bleibt, frage ich, ohne diese die Vernunftkritik? Sie muß in den Augen KANTs ihre ganze Bedeutung verlieren, auch in den unsrigen.

Hier ist im anthropologischen Grundgedanken die verwundbare Stelle. Von dieser Stelle hat auffallender- und zugleich begreiflicherweise FRIES in allen seinen Schriften am wenigsten gesprochen, er hat sie in den früheren nur flüchtig, in den späteren gar nicht mehr berührt.

Das ist der Grund, warum ich die anthropologische Auffassung der Kritik  nicht  teile. Aus dem anthropologischen Grundgedanken erklärt und aus dem aufgezeigten Mangel desselben richtet sich die friesische Lehre, beides in ihrem ganzen Umfang.

Aber ich verkenne nicht, daß die anthropologische Auffassung der Kritik nahe liegt und in die Entwicklung der kritischen Philosophie gehört. Es ist von großer Wichtigkeit, daß ein bedeutender Denker wie FRIES sie annahm und durchführte. Ähnliche Auffassungen haben andere neben ihm geltend gemacht; keiner, der an philosophischer Begabung ihm gleichkam. Das ist sein großes, geschichtlich denkwürdiges Verdienst, das ich in seinem ganzen Umfang anerkenne, über dessen fortdauernde, in unserer Mitte lebende Anerkennung ich mich aufrichtig freue.


VIII.

Die Frage, ob die Vernunftkritik metaphysisch oder anthropologisch sein soll, ist ein echtes, in der Entwicklungsgeschichte der deutschen Philosophie seit KANT unvermeidliches Problem. Und der Geist der Philosophie lebt von Problemen. Jede Lösung erzeugt neue. Wo bleibt - höre ich fragen - die Wahrheit? Meint man, die allzeit fertige und ausgemünzte? Die Wahrheit, von welcher NATHAN sagt: "Wie Geld in Sack, so striche man in Kopf auch Wahrheit ein?" Diese Wahrheit, welche der echte Geist der Philosophie nicht kennt und nicht begehrt, bleibe denen überlassen, welche die Säcke dafür haben: das sind die Sekten mit ihrem dogmatischen Gezänk, die Schulen und die Schüler, denen es ziemt, ihre Meister zu loben. Ihre Wahrheit ist wie die Münze. Der Meister ist wie das Bild auf der Münze. Sie handeln mit den Gedanken, wie mit Zinsgroschen und da tun sie recht, daß sie dem Kaiser geben, was des Kaisers ist.

Was aber die Wahrheit in der Philosophie betrifft und in der Mannigfaltigkeit ihrer geschichtlichen Systeme, so ist mein Satz, den ich gern und oft meinen Zuhörern wiederhole: wahre Probleme sind auch Wahrheit!

LITERATUR - Kuno Fischer, Die beiden kantischen Schulen in Jena, Rede zum Antritt des Prorektorats am 1. Februar 1862, Stuttgart 1862