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Der Streit um die psychologische Vernunftkritik (1) [ 1/2 ]
I. Diese Entscheidung wurde von KUNO FISCHER in seiner Protektoratsrede 1862: "die beiden Kantischen Schulen in Jena" endgültig sanktioniert, (2) und ist seitdem ohne weitere Prüfung fast allseitig angenommen worden. Zu den wenigen Schülern KANTs, die die Apriorität der Kritik bestritten haben und sie für eine empirisch-psychologische Wissenschaft erklärten, gehörte JAKOB FRIEDRICH FRIES (1773 - 1843). Seine Vernunftkritik wie die Arbeiten seines Schülers ERNST FRIEDRICH APELT sind zu ihrer Zeit wenig beachtet worden und bald völlig der Vergessenheit anheim gefallen. Neuerdings - ein Jahrhundert nach dem Erscheinen von FRIES' Kritik der Vernunft - ist nun ein Kreis philosophischer Forscher eifrig bemüht, die FRIESsche Philosophie aus ihrem langen Winterschlaf zu erwecken und die Anerkennung der Mitwelt für sie zu fordern. Schon die Tatsache, daß diese Männer aus der hundertjährigen Nichtbeachtung der Lehre nicht die Konsequenz auf ihre Unrichtigkeit gezogen, sondern vielmehr an die Wiederbelebung derselben eine solche Summe von Fleiß und Arbeit gesetzt haben, wie sie in den "Abhandlungen der FRIESschen Schule" (3) vorliegt, sollte allein ein großes Interesse bei den philosophischen Fachgenossen erwecken. Umso bedauerlicher ist es, daß das Unternehmen bisher wenig Beachtung und noch weniger Anklang gefunden hat. Eine besonders absprechende Kritik desselben, von ERNST CASSIRER herrührend, soll uns in folgendem noch beschäftigen und wird uns den Nachweis gestatten, daß die ungünstige Aufnahme der Abhandlungen sich größtenteils aus einer mißverständlichen Auffassung ihrer Grundgedanken erklärt. 2. Mit einer Untersuchung über die "kritische Methode und das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie" leitet LEONARD NELSON gleichsam programmatisch die Reihe der Abhandlungen ein: In der Philosophie müssen wir allen fertigen Prinzipien mit Mißtrauen begegnen. Entscheidend für ihre Gültigkeit ist allein die richtige Methode ihrer Begründung. Wie steht es nun um die Methode der Philosophie, die seit KANT den Namen der "kritischen Methode" führt? Ihre erste Frage, die nach der Apriorität oder Aposteriorität der Kritik geht, wird von den "Neukantianern" zugunsten des a priori entschieden. Sie setzen dabei voraus, daß die Kritik die philosophischen Grundsätze zu beweisen habe, folglich den Grund derselben in sich enthalte; da aber Grund und Folge der Modalität nach stets gleichartig seien, verlange das aprioristische System der Metaphysik eine aprioristische Kritik. Dies führt jedoch dazu, daß die Urteil a priori, die den Inhalt der Kritik bilden, zu ihrer Gültigkeit einer Begründung in einer Kritik zweiter Ordnung bedürfen, die selbst wiederum durch eine dritte begründet werden müßte. Der so entstehende unendliche Regressus in der Begründung ist nur dadurch zu unterbrechen, daß man den letzten Grund nicht mehr innerhalb der Erkenntnis, sondern außerhalb derselben, in einem Sein oder Sollen sucht, ein Schluß, der tatsächlich von manchen gezogen wurde, der aber dadurch, daß er den Standpunkt der Immanenz aller Erkenntnis verläßt, geradewegs zum Dogmatismus zurückführt. Die andere Konsequenz aus der logischen Abhängigkeit des Systems der Metaphysik von der Kritik wird durch den Psychologismus verkörpert. Sie lautet dahin, daß die Metaphysik selbst eine empirische Wissenschaft sein müsse, da ihr Grund, die Kritik, empirisch sei. Empirische Metaphysik aber ist eine contradictio in ajecto [Widerspruch in sich - wp] und so führt dieser Standpunkt in seiner Konsequenz zum Empirismus, zur Leugnung aller Metaphysik. Aus dieser Darlegung folgt, daß eine Kritik, die die philosophischen Grundsätze zu beweisen hätte, weder a priori noch a posteriori sein dürfte, daß sie mithin unmöglich ist. Gibt es alos überhaupt eine Kritik, so kann sie nicht die Aufgabe haben, die metaphysischen Wahrheiten zu beweisen. Und das ist in der Tat der Fall. Der Beweis nämlich dient zur Begründung abgeleiteter Sätze, indem er sie auf ihre Voraussetzungen und diese selbst wieder auf höhere zurückführt. Schließlich aber führt dieser Regress auf gewisse höchste Prinzipien, die aus keinem Urteil weiter ableitbar sind und daher einer anderen Begründung bedürfen. Für die Aussagen der Wahrnehmung und die mathematischen Axiome bietet sich da die Demonstration in der Anschauung, die bloße Aufzeigung der unmittelbaren Erkenntnis, die im Urteil ausgedrückt wird. 3. Die philosophischen Urteile aber führen auf keine Anschauung; die in ihnen ausgesprochene Erkenntnis kommt uns niemals unmittelbar, sondern nie anders als mittels der Grundsätze selbst zu Bewußtsein. Bei einem Mangel an Evidenz, der deshalb der philosophischen Erkenntnis eigentümlich ist, reicht die bloße Auffindung der Grundsätze zu ihrer Gültigkeit und Glaubhaftmachung nicht hin. Ihre Auffindung selbst geschieht am einfachsten durch die Abstraktion aus solchen Erfahrungsurteilen, die allgemein als richtig anerkannt werden. Die so gefundenen Prinzipien bleiben unterdessen doch in Sicherheit und Vollständigkeit von den zum Ausgangspunkt gewählten Tatsachen abhängig und ihr Charakter als Grundsätze ist durch nichts verbürgt. Gibt also die Abstraktion immerhin auf das quid facti [der Tatsächlichkeit - wp] der Grundsätze Bescheid, so erweist sie sich doch als unzulänglich für die Beantwortung des quid juris [der Rechtlichkeit - wp]. Zu diesem Zweck bedürfen die Grundsätze einer - von der Abstraktion völlig getrennten - Begründung, einer Deduktion im kantischen Sprachgebrauch. Die Begründung eines synthetischen Urteils ist allgemein die Aufzeichnung seines Grundes außerhalb des Begriffs seines Subjektes. Welches aber ist der Grund der metaphysischen Grundurteile? In ihnen selbst kann dieser Grund nicht liegen, denn dann wären sie ja analytische; in der Anschauung liegt der Grund auch nicht, denn die Einheit und Notwendigkeit, die in den Grundsätzen ausgesprochen wird, ist in keiner Anschauung gegeben. Es muß daher eine besondere "nicht-anschauliche unmittelbare Erkenntnis der reinen Vernunft" geben, die allen metaphysischen Urteilen zugrunde liegt, die aber wegen ihrer ursprünglichen Dunkelheit nur künstlich ans Licht gezogen werden kann. In der Aufdeckung dieser unmittelbaren Erkenntnis besteht die Deduktion der Grundsätze. Da die Erkenntnis selbst - abgesehen von ihrem Gegenstand - eine innere Geistestätigkeit ist, so kann ihre Auffindung nur mit Hilfe der Selbstbeobachtung geschehen und gehört in den Bereich der empirischen Psychologie. Jedoch ist die bloße Selbstbeobachtung für die Deduktion noch nicht hinreichend. Sie liefert nur die empirischen Daten für die Konstruktion einer Theorie der Vernunft, die durch Induktion aus der Beobachtung nach Art einer physikalischen Theorie gebildet wird. Aus dieser Theorie erst läßt sich der Nachweis führen, welche Sätze ihren Ursprung in der unmittelbaren Erkenntnis der reinen Vernunft haben und daher philosophische Grundsätze sind. Daß aber ein Satz, dessen Ursprung in reiner Vernunft und dessen Charakter als Grundsatz so erwiesen worden ist, als solcher auch wahr ist, dessen versichert uns nur das Selbstvertrauen der Vernunft in die Wahrheit ihrer unmittelbaren Erkenntnis. Dieses Selbstverstrauen tut materiell zur Erkenntnis der philosophischen Prinzipien nichts hinzut, noch hat es auf ihre Bildung im einzelnen irgendwelchen Einfluß. Erst wenn sie gebildet und aus der Theorie der Vernunft als Grundsätze erwiesen worden sind, erhebt das Selbstvertrauen der Vernunft für sie den Anspruch, als unmittelbare Vernunfterkenntnisse auch schlechthin wahr zu sein. Damit ist die Deduktion der Grundsätze vollendet. Die Wahrheit der unmittelbaren Erkenntnis aus reiner Vernunft kann, wie die aller unmittelbaren Erkenntnis, nicht mehr durch irgendeine höhere Erkenntnis bestätigt werden. Wer der eigenen Vernunft mißtraut, kann vom Philosophen keine Beschwichtigung seines Zweifels erwarten, sondern allein vom Psychiater! 4. Nimmermehr darf das Kriterium für die Gültigkeit der unmittelbaren Erkenntnis in einer Vergleichung mit dem Gegenstand gesucht werden, dem sie entsprechen soll. Zu diesem Zweck müßte man aus der Erkenntnis heraustreten und den von ihr losgelösten Gegenstand neben sie stellen können. Aber der Gegenstand ist uns nur in einer Erkenntnis und eine Erkenntnis nur mit einem Gegenstand gegeben. Das Erkennen ist eine unauflösliche Qualität aus innerer Erfahrung; es gibt daher keine Theorie der Möglichkeit des Erkennens, keine Erkenntnistheorie im heutigen Sinne des Wortes! Aber berauben wir uns dadurch nicht überhaupt jedes Kriteriums für die Wahrheit unserer Behauptungen? Keineswegs. Allerdings die "transzendentale Wahrheit" der unmittelbaren Erkenntnis, ihre Beziehung auf einen Gegenstand, ist objektiv nicht beweisbar (jedoch deshalb noch nicht zu verneinen!). Aber sie interessiert uns auch nicht in der Wissenschaft und im gemeinen Leben; denn hier ist es uns nur um die empirische Wahrheit unserer im Urteil ausgesprochenen Erkenntnis zu tun und für sie ist eine Begründung sehr wohl möglich. Alle Urteile sind Akte der Reflexion, des Verstandes, der ein an sich gänzlich leeres analytisches Vermögen ist, zur Wiederholung unserer Erkenntnis in der Form des Urteils. Aller Gehalt fließt ihm aus der unmittelbaren Erkenntnis zu, er selbst gibt der ursprünglichen Synthesis der Vernunft nur die ihm eigentümliche logische Formung. Daraus folgt, daß ein Urteil wahr ist, sofern ihm eine unmittelbare Erkenntnis entspricht, falsch, wenn es keinen Grund in einer solchen findet. Der Irrtum ist deshalb nur für den Verstand möglich und erklärt sich durch die Willkürlichkeit, mit der die Vorstellungen im Denken verknüpft werden. Trotz dieser Irrtumsmöglichkeit aber ist die Erkenntnis durch das Denken der unmittelbaren Erkenntnis weit überlegen. Der Verstand erhebt sich über die Vernunft, indem er die philosophische Erkenntnis, das für sich dunkle Eigentum der Vernunft, zur deutlichen begrifflichen Auffassung in Urteilen vor das Bewußtsein bringt. Und darin allein besteht die Aufgabe der philosophischen Wissenschaft: Dem Verstand zum irrtumsfreien Ausspruch der reinen Vernunfterkenntnis zu verhelfen. 5. Diese hier dargestellte FRIESsche Deduktion der synthetischen Grundsätze ermöglicht die Verbindung einer empirisch-psychologsichen Kritik mit einem rationalen System der Metaphysik dadurch, daß sie selbst nicht den Grund der metaphysischen Urteile enthält, sondern ihn nur als in der unmittelbaren Vernunfterkenntnis vorhanden aufweist. Dieser Grund ist zwar, wie die aus ihm entspringenden synthetischen Grundsätze, selbst a priori. Die Aufweisung dieses Grundes, d. i. die Kritik, braucht aber mit dem Grund selbst der Modalität nach keineswegs gleichartig, braucht nicht a priori zu sein. KANT unterschied den Verstand nicht deutlich von der "unmittelbar-erkennenden" Vernunft, weil er seine Leerheit und Unselbständigkeit übersah. Daher gewinnt es bei ihm den Anschein, als könnte sich das Denken seine synthetischen Prinzipien selbst erzeugen. So konnte er den Parallelismus von Kategorien und Urteilsformen nicht erklären, da er nicht zu ihrem gemeinsamen Grund, der ursprünglichen Vernunfterkenntnis, durchdrang. Auch blieb er ganz bei der Reflexion (im Sinne von FRIES) stehen, wenn er die Grundsätze a priori einem Beweis unterwarf, einem nur innerhalb der mittelbaren Erkenntnis geltenden Verfahren der Urteilsbegründung. War dieser von ihm versuchte "transzendentale Beweis" schon immerhin nichts anderes als eine versteckte Deduktion, so führte er diese doch, da er die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft nicht kannte, aus dem Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung, das nicht den Grund der Sätze, sondern nur eine analytische Beziehung zu ihnen enthält. Durch die Bestimmung des Begriffs der Erfahrung wird dieser Nachweis zu einem Zirkel für die wissenschaftlichen Grundsätze und ist vollends unzureichend für die in keiner Erfahrung gegebenen transzendentalen Ideen, dei einzig durch das unkritische Prinzip des Primats der praktischen Vernunft ihre nachträgliche Rechtfertigung erfahren. Dem gegenüber gestattet FRIES das Prinzip des Selbstverstrauen der Vernunft, den Ideen die gleiche Objektivität wie den Grundsätzen einzuräumen und er zeigt aus der Theorie der Vernunft, daß Ideen und Grundsätze, Glauben und Wissen nichts anderes als die verschiedenen Auffassungweisen ein und derselben Welt von zwei getrennten Standpunkten aus sind. Das bei KANT im Hintergrund seiner Untersuchungen schlummernde Vorurteil von der Allgemeinheit des Beweises hat nach NELSON der ganzen nachkantischen Philosophie ihr Gepräge gegeben. Sie bewies aus der Kritik die Metaphysik, weil sie ein anderes Begründungsverfahren nicht kannte. Der zweideutige Ausdruck, die Kritik sei eine "transzendentale Erkenntnis", der für KANT bedeutete, daß der Gegenstand der Kritik eine rationale Erkenntnis sei, führte sie dazu, den Inhalt der Kritik selbst für rational zu halten. 6. Wie sehr die FRIESsche Entdeckung der unmittelbaren Vernunfterkenntnis' imstande sei, den Streit der philosophischen Schulen zu schlichten, zeigt NELSON durch ein Schema, das einen Gedanken KANTs zur Ausführung bringt:
b) unsere Anschauung ist sinnlich; c) die reflektierte Erkenntnis ist mittelbar;
aus a, c, d: Wir besitzen intellektuelle Anschauung; Mystizismus; aus b, d, d: Wir besitzen keine Metaphysik: Empirismus. ![]()
1) Der Herausgeber der Vierteljahrsschrift nimmt die vorliegende Polemik auf zur Orientierung ihrer Leser, ohne nach einer Seite Partei ergreifen zu wollen. 2) "Was a priori ist, kann nicht a posteriori erkannt werden." 3) Abhandlungen der FRIESschen Schule, Neue Folge. Herausgegeben von GERHARD HESSENBERG, KARL KAISER und LEONARD NELSON, Göttingen, Erster Band 1906, XII und 778, Zweiter Band 1907, Heft 1 und 2 4) IMMANUEL KANT, Lose Blätter, Heft II, Seite 278, 286. Vgl. NELSON "Abhandlungen", Bd. I, Seite 55f |