tb-1p-4cr-2L. NelsonO. MeyerhofFriesK. M. Pöschmann    
 
ALFRED KASTIL
Jakob Friedrich Fries' Lehre
von der unmittelbaren Erkenntnis

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"Es wird erkannt, daß es einen unvollendbaren Regreß, also eine Unmöglichkeit bedeuten würde, wenn man jede Erkenntnis durch eine andere begründen wollte. Aber, indem man gleichwohl an der Meinung festhält, daß jede Erkenntnis eines zureichenden Grundes bedarf, gerät man in eine gewisse Verlegenheit. Aus dieser bahnt sich der sogenannte Dogmatismus einen recht gewaltsamen und willkürlichen Ausweg: er sucht unter den Urteilen nach gewissen möglichst einfachen und deklariert diese als Grundsätze, denen man eben vertrauen muß, ohne nach weitern Gründen dafür zu fragen. Aber daß solche willkürlich aufgegriffene Grundurteile der Möglichkeit des Irrtums nicht entzogen sind, unterliegt gar keiner Diskussion und macht darum den Dogmatismus unannehmbar."


Vorwort

Die Philosophie unserer Tage erkennt immer deutlicher, daß die erheblichsten Mängel des kantischen Systems in seiner unvollkommenen Psychologie wurzeln. In dieser Erkenntnis ist uns der wissenschaftlich bedeutendste unter den Schülern KANTs, JAKOB FRIEDRICH FRIES, vorangegangen, da er die psychologische Natur der Grundfragen der Kritik begriffen hat und in der aprioristischen Behandlungsweise, die KANT ihnen gab, einen verhängnisvollen methodischen Irrtum erkannte. Man wird es den Herausgebern dieser Zeitschrift als ein entschiedenes Verdienst umd die wissenschaftliche Philosophie anrechnen müssen, daß sie nicht nur äußerlich die Abhandlungen seiner Schule fortsetzen, sondern auch ganz im Geist des Meisters und unbekümmert um das vieldeutige und darum nichtssagende Scheltwort "Psychologismus" den Kampf gegen gewisse apsychologische Fiktionen und Neuplatonismen der modernen Erkenntnistheorie aufgenommen haben.

Schon weil die vorliegende Arbeit diese gesunde Tendenz der FRIES'schen Schule durchaus würdigt, fällt es wohl nicht ganz aus dem Rahmen dieser "Abhandlungen" hinaus, wenn hier auch einmal jemand Gastfreundschaft genießt, der sich nicht mit zur Schule zählt. Freilich ergreift dieser das Wort, um auf gewisse Mängel, die der FRIES'schen Psychologie selber noch anhaften, aufmerksam zu machen und den Maßstab neuerer Analysen der Phänomene des Erkennens an sie anzulegen. Aber auch eine solche Kritik widerspricht wohl nicht grundsätzlich dem Programm dieser Zeitschrift. Dies ist schon aus den "Vorschlägen, durch eine geeignete Methode die philosophischen Streitigkeiten in wissenschaftliche Bahnen zu lenken", ersichtlich, wie sie LEONHARD NELSON im vierten Heft des zweiten Bandes formuliert hat. Er lädt dort u. a. nicht nur diejenigen zu gemeinschaftlicher Arbeit ein, welche die FRIES'sche Ansicht "über die positive Bedeutung der Psychologie für die Philosophie" teilen, sondern fordert aufgrund dieses Zusammenhangs auch auf zu
    "einer methodischen Klärung des Tatsachengebietes der inneren Erfahrung, dessen Kenntnis allein vor Fehlern bewahren kann, die, so unscheinbar sie in den Augen des Philosophen sein mögen, doch die wissenschaftliche Unbrauchbarkeit aller von ihnen beeinflußten Resultate zur notwendigen Folge haben".
Gerade die für das FRIES'sche Arbeitsgebiet wichtigsten Tatsachen, die Phänomene des Urteilens und Erkennens, sind aber ein Menschenalter nach dem Tod von FRIES in weit vollkommenerer Weise erforscht worden als zu seinen Zeiten und so wird dann an dieser Stelle gerade eine an der modernen Urteilspsychologie orientierte Kontrolle der FRIES'schen Lehre nicht unangebracht erscheinen. Auch dann nicht, wenn es sich herausstellen sollte, daß der Meister das Messer seiner Neuen Kritik noch nicht tief genug in den Organismus des kantischen Systems hat eindringen lasen und gar manchen Teil irrtümlich für gesund gehalten hat, den eine fortgeschrittene Analyse der inneren Erfahrung als krankhafte Wucherung zu entfernen sich genötigt sieht.

Näher auf den Inhalt der folgenden Arbeit einzugehen, dürfte hier schon darum unnötig sein, weil ihr eine ausführliche Inhaltsangabe vorangeschickt ist, die insbesondere für den dritten Abschnitt, wo es sich um die Prüfung der von KANT am stärksten abweichenden und darum für uns interessantesten Lehren von FRIES handelt, die Form einer zwar knappen, aber für sich selbst schon verständlichen Abhandlung angenommen hat. Auf diesen Teil der Inhaltsübersicht möchte ich den Leser vor allem verwiesen haben, und habe dann nur noch beizufügen, daß ich von FRIES' Werken in erster Linie und am eigehendsten die zweite Auflage seiner "Neuen oder anthropologischen Kritik der Vernunft" (1828/1831) benutzt habe, wovon für die hier behandelten Fragen ausschließlich die ersten beiden Bände in Betracht kommen. Dort, wo bei ihm selbst einer Fragestellung oder einem Lösungsversuch gewisse Unklarheiten und Fehler anhaften, die seine Schüler bereits bemerkt und verbessert haben, habe ich es vorgezogen, mich gleich an die fortgeschrittenere Formulierung zu halten, statt das von diesen schon treffend Gesagte nochmals zu sagen. Das ist der Grund, warum hier wiederholt auf Belegstellen aus der (jüngst von RUDOLF OTTO neu herausgegebenen) "Metaphysik" APELTs und aus NELSONs Arbeiten verwiesen werden wird.



I. Einleitender Teil A
Darstellung der Lehre J. F. Fries' über den Satz
vom Grund und das Verhältnis des problematischen Urteils zur unmittelbaren Erkenntnis.
Übersicht über die von ihm aufgestellten
Klassen unmittelbarer Erkenntnisse

§ 1. Jedes Urteil ist nach FRIES eine Synthesis (1), und zwar eine vom Willen gestiftete (2), die als solche der Notwendigkeit - im Sinne unfehlbarer Wahrheit - entbehrt. Tritt ein Urteil gleichwohl mit diesem Anspruch auf, so muß sich dieser durch den Ursprung der den Urteilsinhalt bildenden Synthesis rechtfertigen lassen. Er wird gerechtfertigt erscheinen, wenn sich zeigt, daß jene willkürliche Synthesis nichts anderes ist, als die Nachbildung oder Wiederholung (3) einer ursprünglichen Synthesis, d. h. soviel wie die mittelbare Erkenntnis im Urteil auf eine unmittelbare Erkenntnis zurückgeführt werden oder sie begründen kann (4). Für die unmittelbare aber bedarf es keiner Begründung mehr, weil sie als unmittelbar jeder Möglichkeit des Irrtums entrückt ist. Diese knüpft sich ja, wie schon angedeutet, an das Willkürmäßige des Urteilsaktes. Was aber der Vernunft schon ursprünglich innewohnt, verdient auch das Selbstvertrauen der Vernunft. (5)

Dieser ursprüngliche Sachverhalt wird von zwei einander entgegengesetzten Philosophemen verkannt. Beide gehen von demselben unanfechtbaren logischen Prinzip aus: dem sogenannten Satz vom Grunde. (6) Die Art aber, wie sie der darin ausgesprochenen Forderung zu genügen suchen, ist verschieden. Zwar erkennen beide, daß es einen unvollendbaren Regreß, also eine Unmöglichkeit bedeuten würde, wenn man jede Erkenntnis durch eine andere begründen wollte. Aber, indem sie gleichwohl an der Meinung festhalten, daß jede Erkenntnis eines zureichenden Grundes bedarf, geraten sie in eine gewisse Verlegenheit. Aus dieser bahnt sich die erste der beiden genannten Theorien, der sogenannte Dogmatismus (7) einen recht gewaltsamen und willkürlichen Ausweg: er sucht unter den Urteilen nach gewissen möglichst einfachen und deklariert diese als Grundsätze, denen man eben vertrauen muß, ohne nach weitern Gründen dafür zu fragen. Aber daß solche willkürlich aufgegriffene "Grundurteile" der Möglichkeit des Irrtums nicht entzogen sind, unterliegt gar keiner Diskussion und macht darum den Dogmatismus unannehmbar. (8)

Diese sehen die Vertreter der entgegengesetzten Theorie ein, greifen aber, um auch die Grundurteile noch zu rechtfertigen, zu dem verzweifelten Mittel, "den letzten Grund aller Urteile im Gegenstand zu suchen" und erhalten so das unlösbare "Problem des Verhältnisses der Erkenntnis zum Gegenstand". (9)

Als Beispiele für diesen zweiten Standpunkt hat FRIES u. a. gewisse Bemühungen im Auge, die die Objektivität der Wahrnehmung, sei es der inneren, sei es der äußeren, zu erklären und zu rechtfertigen, etwa dadurch, daß man dieser eigenartigen Bewußtseinsbeziehung ein Kausalverhältnis substituiert, oder etwa gar, angeregt durch die alte Definition, Wahrheit sei die Übereinstimmung einer Vorstellung mit ihrem Gegenstand, zu einem offenbar ganz undurchführbaren Vergleich von Subjekt und Objekt seine Zuflucht nimmt (10). Als ein warnendes Beispiel solcher Scheinprobleme gilt FRIES aber vor allem KANTs berühmter formaler Idealismus, d. h. dessen Versuch, die Gültigkeit der metaphysischen Prinzipien durch die Hypothese zu rechtfertigen, daß sich hier nicht unsere Erkenntnis nach ihrem Gegenstand, sondern umgekehrt dieser nach ihr sich zu richten habe. Es ist dies das "transzendentale Vorurteil". (11)

Wie FRIES die Philosophie seiner Zeit, so sieht sein Schüler NELSON diejenige der unseren erfüllt von fruchtloser Beschäftigung mit solchen Scheinproblemen. Das gilt seiner Überzeugung nach vom allermeisten, was heute unter erkenntnistheoretischer Flagge segelt, in solchem Maß, daß er es für angezeigt hält, den Namen "Erkenntnistheorie" geradezu als Fachbezeichnung für diese falsche Erkenntnismethode zu wählen, ähnlich wie dies z. B. COMTE mit dem Namen "Metaphysik" gemacht hat. Obwohl sich NELSON in der Verurteilung jeder derartigen Erkenntnistheorie mit FRIES einig sieht, hielt er es für nötig, an die Spitze seines einer Widerlegung solcher den Gang der Forschung empfindlich hemmenden Scheinprobleme gewidmeten Buches "Über das sogenannte Erkenntnisproblem" einen ausdrücklichen "allgemeinen Beweis für die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie" zu stellen und FRIES dadurch zu ergänzen (12). Die Objektivität unserer Erkenntnis, führt er darin aus, kann gar kein Problem bilden, zumindest keines, von dem eine wissenschaftliche Auflösung möglich wäre:
    "Angenommen nämlich, es gäbe ein Kriterium, das zur Auflösung des Problems dienen könnte. Dieses Kriterium würde entweder selbst eine Erkenntnis sein oder nicht. - - - Nehmen wir an, das fragliche Kriterium ist eine Erkenntnis. Dann gehörte es gerade dem Bereich des Problematischen an, über dessen Gültigkeit erst durch die Erkenntnistheorie entschieden werden soll. Das Kriterium, das zur Auflösung des Problems dienen soll, kann also keine Erkenntnis sein. - - - Nehmen wir also an, das Kriterium ist keine Erkenntnis. Es müßte dann, um zur Auflösung des Problems dienen zu können, bekannt sein; d. h. es müßte selbst Gegenstand cer Erkenntnis werden können. Ob aber diese Erkenntnis, deren Gegenstand das fragliche Kriterium ist, eine gültige ist, müßte entschieden sein, damit das Kriterium anwendbar ist. Zu dieser Entscheidung aber müßte das Kriterium schon angewendet werden. - Eine Begründung der objektiven Gültigkeit der Erkenntnis ist also unmöglich."
Und was sich für NELSON so schon a priori ergab, findet er durch das Studium der Philosophie unserer Zeit aufs Neue bestätigt, der er typische "erkenntnistheoretische Beispiele" nach folgendem Schema (13) entnimmt. Ist das gesuchte Kriterium für die Gültigkeit der Erkenntnis selbst wieder eine Erkenntnis, so kann es hier einerseits durch Reflexion vor das Bewußtsein treten, andererseits kann es in unmittelbarer Bewußtheit gegeben sein. Jene Anschauung findet er bei NATORP (14) und MARCUS (15), diese in der Evidenzlehre von MEINONG (16) vertreten.
    "Liegt das Kriterium außerhalb der Erkenntnis, ist es ein praktisches, normatives Kriterium, so kann wiederum einerseits dieses Wertkriterium mittelbar im Nutzen der Erkenntnisinhalte liegen" -
auf diese Auffassung glaubt NELSON bei MACH (17) und den Lehrern des "biologischen Vorurteils" zu stoßen; andererseits aber kann ein unmittelbarer Wert es auszeichnen, es kann in einer kategorischen Forderung beruhen - RICKERT (18) und LIPPS (19) vertreten.

Wegen der Unfruchtbarkeit, zu der alle Bemühungen der "Erkenntnistheoretiker" von vornherein verurteilt sein müssen, ist es NELSON "klar, daß alle Erkenntnistheorie selbst nur ein verkappter Dogmatismus sein kann." (20) Und in der Tat liegt auch beiden derselbe Irrtum als ihre gemeinsame Voraussetzung zugrunde. Sie verkennen beide - und damit wenden wir uns wieder FRIES selber zu - den Unterschied von Urteilen und unmittelbaren Erkenntnissen und infolge davon auch den wahren Sinn des Satzes vom Grunde.

a) Vor allem erscheint es den Vertretern der FRIES'schen Schule falsch - obwohl ein schier allgemein geteilter Irrtum -, zu glauben, jede Erkenntnis sei ein Urteil. Urteil ist lediglich die gedachte Erkenntnis (21), d. h. die Erkenntnis durch Begriffe (22).
    "Als solche ist es das mittelbare Bewußtsein einer anderen Erkenntnis, die in ihm wiederholt wird; der Grund seiner Wahrheit liegt also in dieser unmittelbaren Erkenntnis." (23)
Ein Beispiel einer solchen unmittelbaren Erkenntnis bietet die empirische assertorische Anschauung (Wahrnehmung), die eben keine Erkenntnis durch Begriffe ist.

b) Jene irrige Identifizierung von Erkenntnis und Urteil führt dann weiter zu einer Mißdeutung des Satzes vom Grunde, die darin besteht, daß man den Geltungsbereich desselben über das Gebiet des Urteilens auf alle Erkenntnis ausdehnt. Dieser gilt nämlich nicht so allgemein, wie er meist ausgesprochen wird: "Jede Erkenntnis muß ihren hinreichenden Grund haben"; sondern er ist "allein auf Urteile anwendbar" (24) und
    "lautet richtig verstanden: Jedes Urteil ist eine mittelbare Erkenntnis, es ist bloß die Formel, in der ich mir für die Reflexion meiner unmittelbaren Erkenntnis wieder bewußt werden; jedes Urteil muß also in einer anderen Erkenntnis den Grund haben, warum es wahr oder falsch ist.' Dieser Satz ist das Kathartikon [der Selbstreiniger - wp] aller Wahrheit in mittelbaren Erkenntnissen, von jedem Urteil, das ich aussage, muß ich einen Grund angeben können, warum ich es behaupte."
Mit dem eben aufgedeckten Mißverständnis hängt auch noch ein zweites zusammen, ein falscher Begriff von "Beweis". Wer, wie dies in der Regel geschieht, unter Beweisen versteht "eine Erkenntnis aus ihren Gründen ableiten", wird aus dem Satz vom Grunde leicht die Forderung herauslesen, es müsse jede Erkenntnis bewiesen werden. Beweisen heißt aber in Wahrheit nur
    "ein Urteil aus anderen Urteilen ableiten, welches in Schlüssen geschieht. Die Grundsätze einer Wissenschaft können nicht bewiesen werden. Man hat sich dagegen zwar mit der Hypothese geholfen, was in einer Wissenschaft als Grundsatz vorausgesetzt wird, muß in einer höheren doch noch dem Beweis unterworfen werden. Diese Hypothese ist aber durchaus unrichtig. Jede Wissenschaft hat ihre eigenen Grundurteile, und jedes ganze System in unserem Wissen beruth für sich auf Grundsätzen, die gar keinem Beweis mehr unterworfen werden können. ... Aber jeder Satz, selbst jeder Grundsatz, (25) steht unter der Bedingung des logischen Satzes vom Grunde, er muß seinen anderweitigen Grund haben. Die Hauptsache ist, daß wir Begründung der Urteile und Beweis gehörig zu unterscheiden wissen. Gerade da, wo der Beweis aufhört, wo wir nicht mehr ein Urteil auf andere stützen, sondern die Grundsätze als erste Urteile aussprechen, (26) da fragt sich: auf welche unmittelbare Erkenntnis gründet sich der Grundsatz?" (27)

    "Berichtigen wir", fügt Nelson an, " diese Mißdeutungen des Satzes vom Grunde, so gewinnen wir die Möglichkeit eines Verfahrens, das uns gestattet, kein Urteil ohne Begründung anzunehmen, ohne uns doch in den unmöglichen unendlichen Regreß der Begründung zu verwickeln. Denn mit der Zurückführung der Urteile auf die ihnen zugrundeliegende unmittelbare Erkenntnis ist dem Postulat der Begründung Genüge geleistet, unser Verfahren wird also von einem dogmatischen Bedenken ebensowenig getroffen, wie von einem erkenntnistheoretischen." (28)
Natürlich ist es weder FRIES noch seinem Schüler NELSON eingefallen, zu behaupten, sie wären die ersten, die die Unmöglichkeit, alle Urteile zu beweisen und die Unentbehrlichkeit unmittelbarer, keiner weiteren Begründung bedürftiger Erkenntnisse bemerkt hätten. Das wäre eine Anmaßung, die sie bei jedem, der sich auch nur eine ganz oberflächliche Kenntnis von der Geschichte der Philosophie verschafft hat, lächerlich machen müßte. Schon ARISTOTELES - CASSIRER (29) weist in einer Gegenschrift gegen NELSON darauf hin - nannte es einen "Mangel an Bildung", wenn man nicht zu unterscheiden vermag, von welchen Sätzen man einen Beweis suchen, von welchen man ihn nicht suchen soll. Denn daß es von allem einen Beweis gibt, ist unmöglich, da dies ins Unendliche ginge, so daß es wiederum keinen Beweis gäbe (Metaphysik T 3, 1006a). Aller syllogistischen Ableitung, allem synthetischen Fortschritt des Denkens müssen demnach erste "unvermittelte" Gewißheiten bereits zugrunde liegen, die lediglich "durch sich selbst" erkannt werden.

Doch zeigt gerade der früher erwähnte Streit des Dogmatismus mit den Fiktionen einer irregehenden Erkenntnistheorie, daß es in der Philosophie oft durchaus überflüssig ist, an eine uralte Wahrheit zu erinnern, abgesehen davon, daß, was wir FRIES im Zusammenhang damit vorbringen hörten, gewisser neuer uns sehr wesentlicher momente keineswegs entbehrt. Daß es z. B. kein Urteil geben soll, welches in sich selbst und ohne Zusammenhang mit einer nicht urteilsmäßigen Erkenntnis als richtig charakterisiert wäre, ist gleich eine neue These, und sie gewinnt noch wesentlich an Bedeutung durch die weiteren Mitteilungen, welche FRIES, wie wir gleich hören werden, über die Arten einer solchen unmittelbaren Erkenntnis daran knüpft. Es findet sich darunter nämlich eine, die vor ihm niemand ausfindig zu machen wußte. Und gerade diese ist es, welche nach seinem Dafürhalten diejenige Entdeckung ist, auf der KANTs Ruhm beruth, in einer Weise berichtigen und ergänzen soll, daß sie erst ihren vollen Wert erhält.

§ 2. Bekanntlich bestand diese Entdeckung KANTs in einer neuen Klasse von Urteilen, die von den bis dahin allein bekanntgewesenen beiden Klassen, den analytischen und den empirischen, die Vorzüge ohne deren Mängel vereinigen will. Es sind die von KANT so genannten synthetischen Urteile a priori, die mit den analytischen die Allgemeinheit und Notwendigkeit, mit den empirischen die Fähigkeit, unsere Erkenntnis wahrhaft zu erweitern, teilen sollen (30). Aber FRIES macht darauf aufmerksam, wie mit diesem bedeutsamen Fund doch keineswegs nicht alles Wesentliche geleistet ist. Zwar hatte sich dies schon KANT selbst gesagt, als er die Frage aufwarf: "Wie sind synthetische Erkenntnisse a priori möglich?", aber er hat diese wichtige Frage nach FRIES' Überzeugung nicht richtig gelöst, zumindest nicht für alle Klassen solcher synthetischer Urteile a priori, die es gibt. Damit man dieses Mangels bei KANT umso deutlicher inne wird, will FRIES der genannten Grundfrage der "Kritik der reinen Vernunft" eine etwas schärfere und klarere Fassung geben. Und schon dabei erntet er die Frucht der vorhin erörterten Unterscheidung von Urteil und unmittelbarer Erkenntnis, indem er die Formulierung findet:
    "auf welche unmittelbare Erkenntnis gründen sich unter den synthetischen Urteile a priori diejenigen, die eines weiteren Beweises unfähig sind, also die synthetischen Grundurteile a priori?"
Nun will FRIES nicht bestreiten, daß die Lösung dieser Frage für einen Teil der synthetischen Erkenntnisse a priori KANT gelungen ist. Indem dieser in unserem Bewußtsein die reine Raum- und Zeitanschauung aufwies, hat er zugleich jene Art von unmittelbarer Erkenntnis a priori namhaft gemacht, aus der die mathematischen Grundsätze entspringen. Diese Begründung der mathematischen Axiome aus der reinen Anschauung nennt FRIES Demonstration (31). Nicht durch eine Analyse der Begriffe leuchtet die Wahrheit der geometrischen Grundurteile ein - das wäre, meint FRIES, ein verkehrter Rationalismus - sondern durch eine Konstruktion in reiner Anschauung.

Es gibt aber nach KANT auch noch eine andere Klasse von synthetischen Urteilen, die mit dem Anspruch auf Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit auftreten, also a priori sind, ohne daß sich hier für die urteilsmäßige Synthesis Vorbild und Ursprung in einer apriorischen Anschauung nachweisen läßt. Dies sind die metaphysischen (32) oder in einem eminenten Sinn philosophischen Urteil.
    "Philosophische Urteile behaupten wir, wenn sie Grundsätze sind, schlechthin und noch dazu apodiktisch [mit Sicherheit behauptet - wp], ohne uns irgendwie auf eine zugrunde liegenden Anschauung berufen zu können; wir sagen Sätze aus, die sich nur denken lassen, und doch von keinem anderen Urteil abhängen. Worauf soll nun hier unser Urteil gegründet sein? Wenn ich z. B. sage: Jedes Substanz beharrt, jede Veränderung hat eine Ursache, alles Zugleichsein ist durch die Wechselwirkung der Substanzen bestimmt und anderes mehr, worauf gründe ich dann mein Urteil?" (33)
Welches ist die unmittelbare Erkenntnis, welche durch diese, jedes Beweises unfähigen, metaphysischen Grundurteile wiederholt wird?

In diesem weitaus schwierigeren Teil des Problems "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" hat nach FRIES' Auffassung die Kritik KANTs vollkommen versagt. Vor allem tadelt er an diesem, daß er sich durch die Aporie zu seiner Lehre vom formalen Idealismus habe verführen lassen, d. h. zu der berühmten Theorie, wonach sich bei Erkenntnissen a priori der Gegenstand nach unseren Denkformen zu richten hat. Sieht man genauer hin, wie KANT diese Theorie über das Verhältnis der metaphysischen Erkenntnis zu ihrem Gegenstand durchführt, so stellt sich sein Verfahren im Wesentlichen als ein natürlich fruchtloser Versuch dar, für die KANTs eigenem Zugeständnis nach unbeweisbaren metaphysischen Grundurteile - analytische Beweise ausfindig zu machen aus einem angeblich obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile a priori, dem Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung. Dieser vielgepriesene "transzendentale Beweis", abgesehen davon, daß er durchaus paralogistisch [falsch geschlossen - wp] ist, läuft also eigentlich darauf hinaus, die synthetischen Urteile a priori zu analytischen zu machen. Das aber heißt nicht die große Entdeckung KANTs rechtfertigen, sondern sie preisgeben! Kurz KANT, der die Methode WOLFFs und seine Versuche, metaphysische Urteile, wie z. B. das Kausalgesetz, durch eine Analyse der Begriffe zu erweisen, grundsätzlich als dogmatisches, oder historisch getreuer, als "rationalistisches Vorurteil" verwarf, fällt durch seinen "transzendentalen Beweis" in ganz das gleiche Vorurteil (34). Der Transzendentalismus, dem Dogmatismus angeblich turmhoch überlegen, koinzidiert [zusammenfallen - wp] in Wahrheit mit ihm.

Dieses Mißlingen ist nicht nur von FRIES, sondern auch vielfach von anderen Kritikern KANTs bemerkt worden. Aber viele von ihnen gerieten, im Bestreben, die philosophische Synthesis a priori gegen KANTs Fehlgriff selbst zu retten, in einen anderen, nicht weniger schweren Irrtum. Indem sie einerseits erkannten, daß hier jeder eigentliche Beweis ausgeschlossen, andererseits, daß hier eine Demonstration aus reiner Anschauung nicht wie bei den geometrischen Axiomen möglich ist, schien ihnen zur Begründung der metaphysischen Urteile nur eine Art von unmittelbarer Erkenntnis mehr in Betracht zu kommen: die innere Wahrnehmung. Und diesen Weg der Begründung aus innerer Erfahrung wählten in der Tat nicht wenige. Es ist der dem Transzendentalismus entgegengesetzte Psychologismus (35). Einer so unvermögend, das kantische Problem zu lösen, wie der andere; denn während jener den synthetischen Charakter der Metaphysik, gibt dieser ihren apriorischen und damit ihren Anspruch auf Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit ihrer Erkenntnis preis (36).

Kann es da Wunder nehmen, daß es angesichts dieses vollständigen Schiffbruchs der "Kritik" gar mancher vorzieht, die fundamentale Entdeckung KANTs selber, die synthetischen Erkenntnisse a priori, ganz fallen zu lassen, und so wieder die beiden vorkantischen Lager in der Philosophie allmählich mit neuen Truppen zu bevölkern? Nämlich: einerseits ein Empirismus (37), der keine apriorische Metaphysik anerkennt, andererseits ein Logizismus, der sich, als hätte es nie einen KANT gegeben, um analytische Beweise für das Kausalgesetz und, was sonst noch in diese Klasse von Grundsätzen gehört, bemüht? (38) NELSON, indem er dieses Sachverhalts gedenkt, blickt auf beide sichtlich mit ähnlichen Gefühlen herab, wie sie einen Physiker erfüllen mögen, der heute noch von neuen Bemühungen um ein perpetuum mobile hört. Was diesem hierbei das Gesetz von der Erhaltung der Energie ist, sind für NELSON die kantische Feststellung der Unmöglichkeit, auf empirischem Weg die Erkenntnis allgemeiner Notwendigkeiten zu erreichen und die KANT-FRIES'sche von der Leerheit der bloßen Reflexion, d. h. der Unmöglichkeit, auf analytischem Weg zu irgendeiner Erweiterung unserer Erkenntnis zu gelangen (39).

Überblicken wir nochmals raschi die Lage, wie sie sich nach der Auffassung von FRIES darstellt:
    1. Es gibt synthetische Urteile a priori, und zwar neben mathematischen auch solche ganz unanschaulicher Art, also nicht demonstrierbare, die "metaphysischen" oder "philosophischen" im vorzüglichen Sinn.

    2. Damit solche als Erkenntnisse möglich sind, bedarf es einer Begründung durch entsprechende unmittelbare Erkenntnisse, die in ihnen urteilsmäßig "wiederholt" werden.

    3. Von derartigen unmittelbaren Erkenntnissen waren Kant bloß vier Klassen bekannt, zwei empirische (äußere und innere Sinnesanschauung) und zwei apriorische Anschauungen, die reine Raumanschauung als apriorische Anschauung des äußeren, die reine Zeitanschauung als solche des inneren Sinnes.

    4. Keine dieser Arten von "unmittelbarer Erkenntnis" kann als Grund für die metaphysischen Urteile in Betracht kommen; die ersten beiden nicht wegen ihres empirischen Charakters (nach dem Satz von der modalen Gleichartigkeit von Grund und Begründetem), die beiden anderen nicht wegen ihres anschaulichen Charakters. (40)
Man sieht, die Sachage ist, wenn mit den genannten vier Klassen der Umfang unserer unmittelbaren Erkenntnis bereits erschöpft sein soll, eine für den Retter der kantischen Synthesis a priori recht verzweifelte. So sehen wir ihn denn bemüht, außer ihnen noch andere Typen ausfindig zu machen. Und andere sind ihm darin schon vorangegangen. PLATO hat sich bekanntlich in einer ähnlichen Verlegenheit auch für die notwendigen metaphysischen Begriffe und Wahrheiten eine Anschauung als Quelle gedacht. Aber da ihm unser Bewußtsein nichts für diesen Zweck Passendes zu bieten schien, sah er sich veranlaßt, diese in ein vorirdisches Dasein zu verlegen. Mit größerer Kühnheit sind Neuere vorgegangen. Auch FICHTE und SCHELLING lehre eine "intellektuelle Anschauung" (41), aber ohne jenes vorsichtige Bemühen, den offenbaren Widerspruch mit den Tatsachen unserer inneren Erfahrung irgendwie durch Hypothesen zu verhüllen. Demgegenüber glaubt FRIES klar zu erkennen, daß es um die apriorischen Quellen der Metaphysik ganz anders bestellt sein muß als um diejenigen der Mathematik. Während wir z. B. die beiden Momente der geraden Richtung und der kürzesten Distanz in reiner Raumanschauung, also mit Notwendigkeit, geeint finden, und, indem wir das entsprechende geometrische Axiom urteilen, nichts anderes tun, als diese ursprüngliche anschauliche Synthese begrifflich nachzubilden, finden wir z. B. nirgends ebenso die Momente des Werdens und Gewirktwerdens in einer anschaulichen Synthesis a priori beisammen, daß daraus unser allgemeines Kausalurteil entspringen könnte.

Ja, der bloße Zweifel, daß es hier eine entsprechende Anschauung gäbe, widerlegt ihr Vorhandensein. Niemand wird z. B. ernsthaft bestreiten, daß er eine Raumanschauung besitzt, eben weil der Raum angeschaut ist. "Anschauung" von etwas heißt ja gar nichts anderes als unmittelbares Bewußtsein davon. Fiele also die gesuchte unmittelbare metaphysische Erkenntnis ins unmittelbare Bewußtsein, ein Streit, ob sie vorhanden ist, wäre schlechthin ausgeschlossen! (42)

§ 3. Ist damit nun etwa schon die Lösung des kantischen Problems als unmöglich dargelegt? Ist es etwa gar ein fiktives Problem, weil der vermeintliche Anspruch jener synthetischen Urteile a priori am Ende gar nicht zu Recht besteht? Das wäre in der Tat DAVID HUMEs Standpunkt, dem z. B. das Kausalgesetze nichts weiter ist, als eine allgemeine Formel für die den Menschen und Tieren gleich gewohnheitsmäßig vertraute exspectatio casuum similium [Erwartung ähnlicher Fälle - wp]. Und docht teilt dieser Versuch HUMEs - wie verschieden sonst von dem KANTs - eine Grundvoraussetzung mit ihm, nämlich daß es keine anderen unmittelbaren synthetischen Erkenntnisse gibt als solche, die direkt ins innere Bewußtsein fallen, also "Anschauungen" in dem eben definierten Sinne sind. Wenn HUME z. B. den Kausalbegriff einfach deshalb schon zu bestreiten wagt, weil er dafür in keiner Anschauung sein Urbild fand, so hängt dies nach der Ansicht der FRIES'schen Schule mit der erwähnten Voraussetzung zusammen. Indessen scheint diese FRIES durchaus nicht selbstverständlich: es wären doch auch Erkenntnisse denkbar, die, obwohl selber unmittelbar, doch nicht wiederum Gegenstand einer unmittelbaren Erkenntnis, nicht unmittelbar ins Selbstbewußtsein fallen! Und an dieser Möglichkeit glaubt FRIES nicht ebenso voreilig vorübergehen zu dürfen wie HUME.

Würde die unmittelbare metaphysische Erkenntnis, die wir suchen, in diese Klasse unbewußter Erkenntnisse gehören, so müßte man sie - im Gegensatz zu der mathematischen - eine unanschauliche unmittelbare Erkenntnis nennen. Ihr Vorhandensein wäre dann schon ex definitione nicht durch simple Selbstbeobachtung, sondern nur auf gewissen Umwegen sicherzustellen, wie sie eben der Psychologe immer bei Schlüssen auf unbewußte psychische Akte einschlagen muß. Und da FRIES den Unterschied "klarer" und "dunkler" Erkenntnis mit dem von bewußter und unbewußter Erkenntnis identifiziert, bezeichnet er sie auch als "dunkle, unmittelbare, unaussprechliche (43) eigene Erkenntnis der Vernunft". (44)

In ihrer Annahme erblickt Fries in der Tat die einzige aussichtsvolle Hypothese zur Rettung der kantischen Synthesis a priori auf dem Gebiet der Metaphysik. Es kommt nun alles darauf an, ob es ihm auch gelungen ist, diese Hypothese zu beweisen. Da die in Frage stehende Behauptung eine psychologische ist, - sie stellt ja eine neue Klasse unmittelbarer Erkenntnisse auf - so muß auch unsere Nachprüfung psychologisch verfahren. Auf dieses Gebiet sehen wir und dann auch von FRIES selbst ausdrücklich verwiesen, und so erübrigt uns nur noch, dem darstellenden Teil eine programmatische Übersicht über die kritischen Ausführungen beizufügen, mit denen wir FRIES auf das von ihm uns gewiesene Gebiet folgen wollen.


I. Einleitender Teil B
Übersicht über den
kritischen Teil

§ 1. I. Vor allem werden wir hier seine Lehre über das Verhältnis des Urteils zur unmittelbaren Erkenntnis zu prüfen und uns zu fragen haben,
    1. welche natürlichen Klassenunterschiede seiner Distinktion von Urteilen und unmittelbaren Erkenntnissen zugrunde liegen,

    2. und ob die Grenze die seine Analyse beiden zieht, auch wirklich, wie er meint, als sichere Scheidelinie zwischen fehlbarem Fürwahrhalten und solchem, das jeder Möglichkeit des Irrtums entzogen ist, gelten darf.
      a) Ist wirklich alles Erkennen, das unter den Fries'schen Begriff des "Urteils" fällt, durch eine nicht im selben Sinn urteilsmäßige "unmittelbare Erkenntnis" motiviert ("begründet")?
      b) Finden sich nicht etwa unter seinen sogenannten unmittelbaren Erkenntnissen auch solche, welche "problematisch", d. h. mit Irrtum vereinbar sind?
    3. Ist Fries im Unrecht, dann könnte der Satz vom Grunde nicht, wie er glaubt, die Forderung an uns richten, jedes Urteil zu begründen.
      a) Wie aber sollen wir ihn sonst verstehen?
      b) und welche andere Klassifikation unseres Fürwahrhaltens muß, damit uns der Satz vom Grunde nicht einen unendlichen Regreß des Begründens aufbürdet, an die Stelle der Fries'schen Einteilung in Urteile und unmittelbare Erkenntnisse treten?
Als zweckmäßigster Anhaltspunkt für diesen Teil unserer Untersuchung dürfte sich uns die FRIES'sche Klassifikation der Urteile unter dem Gesichtspunkt der Modalität darbieten. Indem er diese wie KANT in problematische, assertorische [behauptete - wp] und apodiktische [unumstößlich bewiesene - wp] gliedert, hat er nämlich im Wesentlichen nichts anderes, als eben das Verhältnis des Urteils zur unmittelbaren Erkenntnis, worin dieses seinen Grund hat, im Auge (45). Es sind für ihn folgende Fälle möglich: Entweder ist der Grund der Gültigkeit des Urteils gegeben oder nicht, und im ersten Fall liegt dieser Grund entweder in einer unmittelbaren Erkenntnis a posteriori [im Nachhinein - wp] (beim assertorischen Urteil) oder in einer unmittelbaren Erkenntnis a priori [von vornherein - wp] (beim apodiktischen Urteil), und diese kann wieder entweder eine reine Anschauung oder eine Unmittelbare Erkenntnis der reinen Vernunft sein. Fehlt der Grund und damit die Garantie der Richtigkeit, so ist das Urteil problematisch.

II. Damit ist unserer Untersuchung schon eine zweite Aufgabe zugewiesen. Sie wird zu prüfen haben, ob alle drei Arten von "unmittelbarer Erkenntnis", die FRIES aufzählt, auch wirklich vorhanden sind und in der inneren Erfahrung, sei es durch unmittelbare Beobachtung, sei es durch Schlüsse, nachgewiesen werden können.

Dieser Teil gliedert sich naturgemäß in zwei Abschnitte:
    A. in eine Revision der Fries'schen Lehre von der unmittelbaren Erkenntnis a posteriori.

    B. in eine solche Lehre von der unmittelbaren Erkenntnis a priori.
Jenem fällt hauptsächlich das Problem der äußeren Wahrnehmung zu; der zweite zerfällt gemäß den beiden Arten von unmittelbarer apriorischer Erkenntnis, die FRIES unterscheidet, wieder in zwei Unterabteilungen:
    1. in eine Kritik seiner Lehre von der reinen Anschauung als Grund der Gültigkeit der mathematischen Axiome, und

    2. in eine Prüfung seiner Lehre von der unmittelbaren Erkenntnis der reinen Vernunft als Grund der Gültigkeit der metaphysischen Grundurteile.
Von dieser systematischen Übersicht soll aber nur der II. Teil zugleich als Inhaltsschema für die folgende Abhandlung, und zwar für ihren ganzen Umfang gelten. Denn um Wiederholungen zu vermeiden, wird es sich empfehlen, die Untersuchung über das Verhältnis des Urteils zum unmittelbaren Erkennen und beider zum Satz vom Grunde in die "Kritik der Fries'schen Lehre von der unmittelbaren Erkenntnis a posteriori" einzubeziehen.
LITERATUR - Alfred Kastil, Jakob Friedrich Fries' Lehre von der unmittelbaren Erkenntnis, Göttingen 1912
    Anmerkungen
    1) FRIES, Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft (zweite Auflage, Heidelberg 1828, Bd. 1, Seite 267 (in der Folge durch NK zitiert).
    2) NK 266, 348, 403. Vgl. NELSON, Über das sogenannte Erkenntnisproblem", Seite 484 und 500. Ich zitiere dieses Buch in der Folge als EP und zähle die Seiten der Bandausgabe, nicht des Separatabdrucks. Vgl. auch NELSON, "Die kritische Methode und das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie", Bd. I, Seite 16.
    3) NK I 340.
    4) NK I, 24, 366f und EP § 47.
    5) NK II 37f; EP 757.
    6) NK I, 24, 339; EP 521f
    7) EP 521f.
    8) EP 522. Bei FRIES implizit in dem enthalten, was er einerseits über die Willkürlichkeit und Fehlbarkeit allen "Urteilens" im Gegensatz zur "unmittelbaren" Erkenntnis und andererseits bei der Abwehr des sogenannten "rationalistischen Vorurteils" sagt (NK I, 21f).
    9) NK I, 70f; EP 444f, 523.
    10) NK I, § 11.
    11) NK I, 25 und 28f.
    12) EP § 3; vgl. auch Anhang III, Seite 806
    13) Die folgende Anordnung der erkenntnistheoretischen Beispiele gibt in seiner durch Klarheit und Übersichtlichkeit ausgezeichneten Besprechung von NELSONs Buch ARTHUR KRONFELD (Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 14, erstes und zweites Heft, 1909).
    14) EP 453f
    15) EP 467f
    16) EP 479f (Eigentlich handelt es sich um die von MEINONG zum Widersinn verzerrte Evidenzlehre BRENTANOs).
    17) EP 486f
    18) EP 492f
    19) EP 504f
    20) EP 523
    21) NK I, 24.
    22) NK I, 213.
    23) NK I, 24; EP 464f und 522f.
    24) NK I, 23f und 339; vgl. EP 522.
    25) Bedeutet: jedes unbeweisbare Urteil.
    26) Korrekter ausgedrückt wäre: die ersten Urteile als Grundsätze auszusprechen.
    27) NK I, 24f.
    28) EP 523.
    29) ERNST CASSIRER, Der kritische Idealismus und die Philosophie des "gesunden Menschenverstandes", Gießen 1906, Seite 11 - Ich verstehe nur nicht recht, warum dieser Kritiker NELSON verhöhnt und zugleich FRIES und APELT lobpreisend gegen ihn ausspielt, da doch alle drei denselben Wert auf die erneute Feststellung dieser alten Wahrheit legen.
    30) NK I, 315f.
    31) NK I, 14, 242, 341 und II 5. Vgl. dazu NELSON, Über die nichteuklidische Geometrie und den Ursprung der mathematischen Gewißheit, Abhandlung, Bd. I, Heft 2 und 3.
    32) Die "Metaphysik" ist für FRIES wie für KANT nicht mehr das, was sie für ARISTOTELES war, eine theoretische Wissenschaft von den Gesetzen, die von allem Realen gelten, dem Physischen wie auch dem Psychischen; ihren Begriff bestimmt überhaupt keine Besonderheit des Gegenstandes, sondern eine solche der Erkenntnisweise. Metaphysische Erkenntnis bedeutet Erkenntnis a priori aus Begriffen, wobei das "aus Begriffen" durchaus nicht etwa auf eine analytische Evidenz abzielt, sondern lediglich den Gegensatz zur apriorischen Erkenntnis aus reiner Anschauung, d. h. zur mathematischen, hervorheben soll.
    33) NK I, 341.
    34) NK I, 20. Vgl. auch die scharfsinnige Kritik des kantischen "transzendentalen Beweises" bei NELSON, EP § 89-91.
    35) Diesen Namen gebraucht NELSON, nicht auch schon FRIES.
    36) NK I, 24f, 29f.
    37) NK I, 19, 26.
    38) Vgl. EP 647
    39) Vgl. NK I, 236, 316, 320; NK II 5.
    40) NK I, 341
    41) NK I, 30.
    42) NK I, 255, 341; EP 528, 548f.
    43) "Unaussprechlich" wie jede Erkenntnis, die nicht, wie die von FRIES allein "Urteil" genannte, eine begriffliche Materie hat.
    44) NK I, 256.
    45) Vgl. APELT, Metaphysik § 29.