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Jakob Friedrich Fries' Lehre von der unmittelbaren Erkenntnis [ 1 / 4 ]
Vorwort Schon weil die vorliegende Arbeit diese gesunde Tendenz der FRIES'schen Schule durchaus würdigt, fällt es wohl nicht ganz aus dem Rahmen dieser "Abhandlungen" hinaus, wenn hier auch einmal jemand Gastfreundschaft genießt, der sich nicht mit zur Schule zählt. Freilich ergreift dieser das Wort, um auf gewisse Mängel, die der FRIES'schen Psychologie selber noch anhaften, aufmerksam zu machen und den Maßstab neuerer Analysen der Phänomene des Erkennens an sie anzulegen. Aber auch eine solche Kritik widerspricht wohl nicht grundsätzlich dem Programm dieser Zeitschrift. Dies ist schon aus den "Vorschlägen, durch eine geeignete Methode die philosophischen Streitigkeiten in wissenschaftliche Bahnen zu lenken", ersichtlich, wie sie LEONHARD NELSON im vierten Heft des zweiten Bandes formuliert hat. Er lädt dort u. a. nicht nur diejenigen zu gemeinschaftlicher Arbeit ein, welche die FRIES'sche Ansicht "über die positive Bedeutung der Psychologie für die Philosophie" teilen, sondern fordert aufgrund dieses Zusammenhangs auch auf zu
Näher auf den Inhalt der folgenden Arbeit einzugehen, dürfte hier schon darum unnötig sein, weil ihr eine ausführliche Inhaltsangabe vorangeschickt ist, die insbesondere für den dritten Abschnitt, wo es sich um die Prüfung der von KANT am stärksten abweichenden und darum für uns interessantesten Lehren von FRIES handelt, die Form einer zwar knappen, aber für sich selbst schon verständlichen Abhandlung angenommen hat. Auf diesen Teil der Inhaltsübersicht möchte ich den Leser vor allem verwiesen haben, und habe dann nur noch beizufügen, daß ich von FRIES' Werken in erster Linie und am eigehendsten die zweite Auflage seiner "Neuen oder anthropologischen Kritik der Vernunft" (1828/1831) benutzt habe, wovon für die hier behandelten Fragen ausschließlich die ersten beiden Bände in Betracht kommen. Dort, wo bei ihm selbst einer Fragestellung oder einem Lösungsversuch gewisse Unklarheiten und Fehler anhaften, die seine Schüler bereits bemerkt und verbessert haben, habe ich es vorgezogen, mich gleich an die fortgeschrittenere Formulierung zu halten, statt das von diesen schon treffend Gesagte nochmals zu sagen. Das ist der Grund, warum hier wiederholt auf Belegstellen aus der (jüngst von RUDOLF OTTO neu herausgegebenen) "Metaphysik" APELTs und aus NELSONs Arbeiten verwiesen werden wird. ![]() I. Einleitender Teil A Darstellung der Lehre J. F. Fries' über den Satz vom Grund und das Verhältnis des problematischen Urteils zur unmittelbaren Erkenntnis. Übersicht über die von ihm aufgestellten Klassen unmittelbarer Erkenntnisse § 1. Jedes Urteil ist nach FRIES eine Synthesis (1), und zwar eine vom Willen gestiftete (2), die als solche der Notwendigkeit - im Sinne unfehlbarer Wahrheit - entbehrt. Tritt ein Urteil gleichwohl mit diesem Anspruch auf, so muß sich dieser durch den Ursprung der den Urteilsinhalt bildenden Synthesis rechtfertigen lassen. Er wird gerechtfertigt erscheinen, wenn sich zeigt, daß jene willkürliche Synthesis nichts anderes ist, als die Nachbildung oder Wiederholung (3) einer ursprünglichen Synthesis, d. h. soviel wie die mittelbare Erkenntnis im Urteil auf eine unmittelbare Erkenntnis zurückgeführt werden oder sie begründen kann (4). Für die unmittelbare aber bedarf es keiner Begründung mehr, weil sie als unmittelbar jeder Möglichkeit des Irrtums entrückt ist. Diese knüpft sich ja, wie schon angedeutet, an das Willkürmäßige des Urteilsaktes. Was aber der Vernunft schon ursprünglich innewohnt, verdient auch das Selbstvertrauen der Vernunft. (5) Dieser ursprüngliche Sachverhalt wird von zwei einander entgegengesetzten Philosophemen verkannt. Beide gehen von demselben unanfechtbaren logischen Prinzip aus: dem sogenannten Satz vom Grunde. (6) Die Art aber, wie sie der darin ausgesprochenen Forderung zu genügen suchen, ist verschieden. Zwar erkennen beide, daß es einen unvollendbaren Regreß, also eine Unmöglichkeit bedeuten würde, wenn man jede Erkenntnis durch eine andere begründen wollte. Aber, indem sie gleichwohl an der Meinung festhalten, daß jede Erkenntnis eines zureichenden Grundes bedarf, geraten sie in eine gewisse Verlegenheit. Aus dieser bahnt sich die erste der beiden genannten Theorien, der sogenannte Dogmatismus (7) einen recht gewaltsamen und willkürlichen Ausweg: er sucht unter den Urteilen nach gewissen möglichst einfachen und deklariert diese als Grundsätze, denen man eben vertrauen muß, ohne nach weitern Gründen dafür zu fragen. Aber daß solche willkürlich aufgegriffene "Grundurteile" der Möglichkeit des Irrtums nicht entzogen sind, unterliegt gar keiner Diskussion und macht darum den Dogmatismus unannehmbar. (8) Diese sehen die Vertreter der entgegengesetzten Theorie ein, greifen aber, um auch die Grundurteile noch zu rechtfertigen, zu dem verzweifelten Mittel, "den letzten Grund aller Urteile im Gegenstand zu suchen" und erhalten so das unlösbare "Problem des Verhältnisses der Erkenntnis zum Gegenstand". (9) Als Beispiele für diesen zweiten Standpunkt hat FRIES u. a. gewisse Bemühungen im Auge, die die Objektivität der Wahrnehmung, sei es der inneren, sei es der äußeren, zu erklären und zu rechtfertigen, etwa dadurch, daß man dieser eigenartigen Bewußtseinsbeziehung ein Kausalverhältnis substituiert, oder etwa gar, angeregt durch die alte Definition, Wahrheit sei die Übereinstimmung einer Vorstellung mit ihrem Gegenstand, zu einem offenbar ganz undurchführbaren Vergleich von Subjekt und Objekt seine Zuflucht nimmt (10). Als ein warnendes Beispiel solcher Scheinprobleme gilt FRIES aber vor allem KANTs berühmter formaler Idealismus, d. h. dessen Versuch, die Gültigkeit der metaphysischen Prinzipien durch die Hypothese zu rechtfertigen, daß sich hier nicht unsere Erkenntnis nach ihrem Gegenstand, sondern umgekehrt dieser nach ihr sich zu richten habe. Es ist dies das "transzendentale Vorurteil". (11) Wie FRIES die Philosophie seiner Zeit, so sieht sein Schüler NELSON diejenige der unseren erfüllt von fruchtloser Beschäftigung mit solchen Scheinproblemen. Das gilt seiner Überzeugung nach vom allermeisten, was heute unter erkenntnistheoretischer Flagge segelt, in solchem Maß, daß er es für angezeigt hält, den Namen "Erkenntnistheorie" geradezu als Fachbezeichnung für diese falsche Erkenntnismethode zu wählen, ähnlich wie dies z. B. COMTE mit dem Namen "Metaphysik" gemacht hat. Obwohl sich NELSON in der Verurteilung jeder derartigen Erkenntnistheorie mit FRIES einig sieht, hielt er es für nötig, an die Spitze seines einer Widerlegung solcher den Gang der Forschung empfindlich hemmenden Scheinprobleme gewidmeten Buches "Über das sogenannte Erkenntnisproblem" einen ausdrücklichen "allgemeinen Beweis für die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie" zu stellen und FRIES dadurch zu ergänzen (12). Die Objektivität unserer Erkenntnis, führt er darin aus, kann gar kein Problem bilden, zumindest keines, von dem eine wissenschaftliche Auflösung möglich wäre:
Wegen der Unfruchtbarkeit, zu der alle Bemühungen der "Erkenntnistheoretiker" von vornherein verurteilt sein müssen, ist es NELSON "klar, daß alle Erkenntnistheorie selbst nur ein verkappter Dogmatismus sein kann." (20) Und in der Tat liegt auch beiden derselbe Irrtum als ihre gemeinsame Voraussetzung zugrunde. Sie verkennen beide - und damit wenden wir uns wieder FRIES selber zu - den Unterschied von Urteilen und unmittelbaren Erkenntnissen und infolge davon auch den wahren Sinn des Satzes vom Grunde. a) Vor allem erscheint es den Vertretern der FRIES'schen Schule falsch - obwohl ein schier allgemein geteilter Irrtum -, zu glauben, jede Erkenntnis sei ein Urteil. Urteil ist lediglich die gedachte Erkenntnis (21), d. h. die Erkenntnis durch Begriffe (22).
b) Jene irrige Identifizierung von Erkenntnis und Urteil führt dann weiter zu einer Mißdeutung des Satzes vom Grunde, die darin besteht, daß man den Geltungsbereich desselben über das Gebiet des Urteilens auf alle Erkenntnis ausdehnt. Dieser gilt nämlich nicht so allgemein, wie er meist ausgesprochen wird: "Jede Erkenntnis muß ihren hinreichenden Grund haben"; sondern er ist "allein auf Urteile anwendbar" (24) und
"Berichtigen wir", fügt Nelson an, " diese Mißdeutungen des Satzes vom Grunde, so gewinnen wir die Möglichkeit eines Verfahrens, das uns gestattet, kein Urteil ohne Begründung anzunehmen, ohne uns doch in den unmöglichen unendlichen Regreß der Begründung zu verwickeln. Denn mit der Zurückführung der Urteile auf die ihnen zugrundeliegende unmittelbare Erkenntnis ist dem Postulat der Begründung Genüge geleistet, unser Verfahren wird also von einem dogmatischen Bedenken ebensowenig getroffen, wie von einem erkenntnistheoretischen." (28) Doch zeigt gerade der früher erwähnte Streit des Dogmatismus mit den Fiktionen einer irregehenden Erkenntnistheorie, daß es in der Philosophie oft durchaus überflüssig ist, an eine uralte Wahrheit zu erinnern, abgesehen davon, daß, was wir FRIES im Zusammenhang damit vorbringen hörten, gewisser neuer uns sehr wesentlicher momente keineswegs entbehrt. Daß es z. B. kein Urteil geben soll, welches in sich selbst und ohne Zusammenhang mit einer nicht urteilsmäßigen Erkenntnis als richtig charakterisiert wäre, ist gleich eine neue These, und sie gewinnt noch wesentlich an Bedeutung durch die weiteren Mitteilungen, welche FRIES, wie wir gleich hören werden, über die Arten einer solchen unmittelbaren Erkenntnis daran knüpft. Es findet sich darunter nämlich eine, die vor ihm niemand ausfindig zu machen wußte. Und gerade diese ist es, welche nach seinem Dafürhalten diejenige Entdeckung ist, auf der KANTs Ruhm beruth, in einer Weise berichtigen und ergänzen soll, daß sie erst ihren vollen Wert erhält. § 2. Bekanntlich bestand diese Entdeckung KANTs in einer neuen Klasse von Urteilen, die von den bis dahin allein bekanntgewesenen beiden Klassen, den analytischen und den empirischen, die Vorzüge ohne deren Mängel vereinigen will. Es sind die von KANT so genannten synthetischen Urteile a priori, die mit den analytischen die Allgemeinheit und Notwendigkeit, mit den empirischen die Fähigkeit, unsere Erkenntnis wahrhaft zu erweitern, teilen sollen (30). Aber FRIES macht darauf aufmerksam, wie mit diesem bedeutsamen Fund doch keineswegs nicht alles Wesentliche geleistet ist. Zwar hatte sich dies schon KANT selbst gesagt, als er die Frage aufwarf: "Wie sind synthetische Erkenntnisse a priori möglich?", aber er hat diese wichtige Frage nach FRIES' Überzeugung nicht richtig gelöst, zumindest nicht für alle Klassen solcher synthetischer Urteile a priori, die es gibt. Damit man dieses Mangels bei KANT umso deutlicher inne wird, will FRIES der genannten Grundfrage der "Kritik der reinen Vernunft" eine etwas schärfere und klarere Fassung geben. Und schon dabei erntet er die Frucht der vorhin erörterten Unterscheidung von Urteil und unmittelbarer Erkenntnis, indem er die Formulierung findet:
Es gibt aber nach KANT auch noch eine andere Klasse von synthetischen Urteilen, die mit dem Anspruch auf Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit auftreten, also a priori sind, ohne daß sich hier für die urteilsmäßige Synthesis Vorbild und Ursprung in einer apriorischen Anschauung nachweisen läßt. Dies sind die metaphysischen (32) oder in einem eminenten Sinn philosophischen Urteil.
In diesem weitaus schwierigeren Teil des Problems "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" hat nach FRIES' Auffassung die Kritik KANTs vollkommen versagt. Vor allem tadelt er an diesem, daß er sich durch die Aporie zu seiner Lehre vom formalen Idealismus habe verführen lassen, d. h. zu der berühmten Theorie, wonach sich bei Erkenntnissen a priori der Gegenstand nach unseren Denkformen zu richten hat. Sieht man genauer hin, wie KANT diese Theorie über das Verhältnis der metaphysischen Erkenntnis zu ihrem Gegenstand durchführt, so stellt sich sein Verfahren im Wesentlichen als ein natürlich fruchtloser Versuch dar, für die KANTs eigenem Zugeständnis nach unbeweisbaren metaphysischen Grundurteile - analytische Beweise ausfindig zu machen aus einem angeblich obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile a priori, dem Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung. Dieser vielgepriesene "transzendentale Beweis", abgesehen davon, daß er durchaus paralogistisch [falsch geschlossen - wp] ist, läuft also eigentlich darauf hinaus, die synthetischen Urteile a priori zu analytischen zu machen. Das aber heißt nicht die große Entdeckung KANTs rechtfertigen, sondern sie preisgeben! Kurz KANT, der die Methode WOLFFs und seine Versuche, metaphysische Urteile, wie z. B. das Kausalgesetz, durch eine Analyse der Begriffe zu erweisen, grundsätzlich als dogmatisches, oder historisch getreuer, als "rationalistisches Vorurteil" verwarf, fällt durch seinen "transzendentalen Beweis" in ganz das gleiche Vorurteil (34). Der Transzendentalismus, dem Dogmatismus angeblich turmhoch überlegen, koinzidiert [zusammenfallen - wp] in Wahrheit mit ihm. Dieses Mißlingen ist nicht nur von FRIES, sondern auch vielfach von anderen Kritikern KANTs bemerkt worden. Aber viele von ihnen gerieten, im Bestreben, die philosophische Synthesis a priori gegen KANTs Fehlgriff selbst zu retten, in einen anderen, nicht weniger schweren Irrtum. Indem sie einerseits erkannten, daß hier jeder eigentliche Beweis ausgeschlossen, andererseits, daß hier eine Demonstration aus reiner Anschauung nicht wie bei den geometrischen Axiomen möglich ist, schien ihnen zur Begründung der metaphysischen Urteile nur eine Art von unmittelbarer Erkenntnis mehr in Betracht zu kommen: die innere Wahrnehmung. Und diesen Weg der Begründung aus innerer Erfahrung wählten in der Tat nicht wenige. Es ist der dem Transzendentalismus entgegengesetzte Psychologismus (35). Einer so unvermögend, das kantische Problem zu lösen, wie der andere; denn während jener den synthetischen Charakter der Metaphysik, gibt dieser ihren apriorischen und damit ihren Anspruch auf Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit ihrer Erkenntnis preis (36). Kann es da Wunder nehmen, daß es angesichts dieses vollständigen Schiffbruchs der "Kritik" gar mancher vorzieht, die fundamentale Entdeckung KANTs selber, die synthetischen Erkenntnisse a priori, ganz fallen zu lassen, und so wieder die beiden vorkantischen Lager in der Philosophie allmählich mit neuen Truppen zu bevölkern? Nämlich: einerseits ein Empirismus (37), der keine apriorische Metaphysik anerkennt, andererseits ein Logizismus, der sich, als hätte es nie einen KANT gegeben, um analytische Beweise für das Kausalgesetz und, was sonst noch in diese Klasse von Grundsätzen gehört, bemüht? (38) NELSON, indem er dieses Sachverhalts gedenkt, blickt auf beide sichtlich mit ähnlichen Gefühlen herab, wie sie einen Physiker erfüllen mögen, der heute noch von neuen Bemühungen um ein perpetuum mobile hört. Was diesem hierbei das Gesetz von der Erhaltung der Energie ist, sind für NELSON die kantische Feststellung der Unmöglichkeit, auf empirischem Weg die Erkenntnis allgemeiner Notwendigkeiten zu erreichen und die KANT-FRIES'sche von der Leerheit der bloßen Reflexion, d. h. der Unmöglichkeit, auf analytischem Weg zu irgendeiner Erweiterung unserer Erkenntnis zu gelangen (39). Überblicken wir nochmals raschi die Lage, wie sie sich nach der Auffassung von FRIES darstellt:
2. Damit solche als Erkenntnisse möglich sind, bedarf es einer Begründung durch entsprechende unmittelbare Erkenntnisse, die in ihnen urteilsmäßig "wiederholt" werden. 3. Von derartigen unmittelbaren Erkenntnissen waren Kant bloß vier Klassen bekannt, zwei empirische (äußere und innere Sinnesanschauung) und zwei apriorische Anschauungen, die reine Raumanschauung als apriorische Anschauung des äußeren, die reine Zeitanschauung als solche des inneren Sinnes. 4. Keine dieser Arten von "unmittelbarer Erkenntnis" kann als Grund für die metaphysischen Urteile in Betracht kommen; die ersten beiden nicht wegen ihres empirischen Charakters (nach dem Satz von der modalen Gleichartigkeit von Grund und Begründetem), die beiden anderen nicht wegen ihres anschaulichen Charakters. (40) Ja, der bloße Zweifel, daß es hier eine entsprechende Anschauung gäbe, widerlegt ihr Vorhandensein. Niemand wird z. B. ernsthaft bestreiten, daß er eine Raumanschauung besitzt, eben weil der Raum angeschaut ist. "Anschauung" von etwas heißt ja gar nichts anderes als unmittelbares Bewußtsein davon. Fiele also die gesuchte unmittelbare metaphysische Erkenntnis ins unmittelbare Bewußtsein, ein Streit, ob sie vorhanden ist, wäre schlechthin ausgeschlossen! (42) § 3. Ist damit nun etwa schon die Lösung des kantischen Problems als unmöglich dargelegt? Ist es etwa gar ein fiktives Problem, weil der vermeintliche Anspruch jener synthetischen Urteile a priori am Ende gar nicht zu Recht besteht? Das wäre in der Tat DAVID HUMEs Standpunkt, dem z. B. das Kausalgesetze nichts weiter ist, als eine allgemeine Formel für die den Menschen und Tieren gleich gewohnheitsmäßig vertraute exspectatio casuum similium [Erwartung ähnlicher Fälle - wp]. Und docht teilt dieser Versuch HUMEs - wie verschieden sonst von dem KANTs - eine Grundvoraussetzung mit ihm, nämlich daß es keine anderen unmittelbaren synthetischen Erkenntnisse gibt als solche, die direkt ins innere Bewußtsein fallen, also "Anschauungen" in dem eben definierten Sinne sind. Wenn HUME z. B. den Kausalbegriff einfach deshalb schon zu bestreiten wagt, weil er dafür in keiner Anschauung sein Urbild fand, so hängt dies nach der Ansicht der FRIES'schen Schule mit der erwähnten Voraussetzung zusammen. Indessen scheint diese FRIES durchaus nicht selbstverständlich: es wären doch auch Erkenntnisse denkbar, die, obwohl selber unmittelbar, doch nicht wiederum Gegenstand einer unmittelbaren Erkenntnis, nicht unmittelbar ins Selbstbewußtsein fallen! Und an dieser Möglichkeit glaubt FRIES nicht ebenso voreilig vorübergehen zu dürfen wie HUME. Würde die unmittelbare metaphysische Erkenntnis, die wir suchen, in diese Klasse unbewußter Erkenntnisse gehören, so müßte man sie - im Gegensatz zu der mathematischen - eine unanschauliche unmittelbare Erkenntnis nennen. Ihr Vorhandensein wäre dann schon ex definitione nicht durch simple Selbstbeobachtung, sondern nur auf gewissen Umwegen sicherzustellen, wie sie eben der Psychologe immer bei Schlüssen auf unbewußte psychische Akte einschlagen muß. Und da FRIES den Unterschied "klarer" und "dunkler" Erkenntnis mit dem von bewußter und unbewußter Erkenntnis identifiziert, bezeichnet er sie auch als "dunkle, unmittelbare, unaussprechliche (43) eigene Erkenntnis der Vernunft". (44) In ihrer Annahme erblickt Fries in der Tat die einzige aussichtsvolle Hypothese zur Rettung der kantischen Synthesis a priori auf dem Gebiet der Metaphysik. Es kommt nun alles darauf an, ob es ihm auch gelungen ist, diese Hypothese zu beweisen. Da die in Frage stehende Behauptung eine psychologische ist, - sie stellt ja eine neue Klasse unmittelbarer Erkenntnisse auf - so muß auch unsere Nachprüfung psychologisch verfahren. Auf dieses Gebiet sehen wir und dann auch von FRIES selbst ausdrücklich verwiesen, und so erübrigt uns nur noch, dem darstellenden Teil eine programmatische Übersicht über die kritischen Ausführungen beizufügen, mit denen wir FRIES auf das von ihm uns gewiesene Gebiet folgen wollen. Übersicht über den kritischen Teil § 1. I. Vor allem werden wir hier seine Lehre über das Verhältnis des Urteils zur unmittelbaren Erkenntnis zu prüfen und uns zu fragen haben,
2. und ob die Grenze die seine Analyse beiden zieht, auch wirklich, wie er meint, als sichere Scheidelinie zwischen fehlbarem Fürwahrhalten und solchem, das jeder Möglichkeit des Irrtums entzogen ist, gelten darf.
b) Finden sich nicht etwa unter seinen sogenannten unmittelbaren Erkenntnissen auch solche, welche "problematisch", d. h. mit Irrtum vereinbar sind?
b) und welche andere Klassifikation unseres Fürwahrhaltens muß, damit uns der Satz vom Grunde nicht einen unendlichen Regreß des Begründens aufbürdet, an die Stelle der Fries'schen Einteilung in Urteile und unmittelbare Erkenntnisse treten? II. Damit ist unserer Untersuchung schon eine zweite Aufgabe zugewiesen. Sie wird zu prüfen haben, ob alle drei Arten von "unmittelbarer Erkenntnis", die FRIES aufzählt, auch wirklich vorhanden sind und in der inneren Erfahrung, sei es durch unmittelbare Beobachtung, sei es durch Schlüsse, nachgewiesen werden können. Dieser Teil gliedert sich naturgemäß in zwei Abschnitte:
B. in eine solche Lehre von der unmittelbaren Erkenntnis a priori.
2. in eine Prüfung seiner Lehre von der unmittelbaren Erkenntnis der reinen Vernunft als Grund der Gültigkeit der metaphysischen Grundurteile. ![]()
1) FRIES, Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft (zweite Auflage, Heidelberg 1828, Bd. 1, Seite 267 (in der Folge durch NK zitiert). 2) NK 266, 348, 403. Vgl. NELSON, Über das sogenannte Erkenntnisproblem", Seite 484 und 500. Ich zitiere dieses Buch in der Folge als EP und zähle die Seiten der Bandausgabe, nicht des Separatabdrucks. Vgl. auch NELSON, "Die kritische Methode und das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie", Bd. I, Seite 16. 3) NK I 340. 4) NK I, 24, 366f und EP § 47. 5) NK II 37f; EP 757. 6) NK I, 24, 339; EP 521f 7) EP 521f. 8) EP 522. Bei FRIES implizit in dem enthalten, was er einerseits über die Willkürlichkeit und Fehlbarkeit allen "Urteilens" im Gegensatz zur "unmittelbaren" Erkenntnis und andererseits bei der Abwehr des sogenannten "rationalistischen Vorurteils" sagt (NK I, 21f). 9) NK I, 70f; EP 444f, 523. 10) NK I, § 11. 11) NK I, 25 und 28f. 12) EP § 3; vgl. auch Anhang III, Seite 806 13) Die folgende Anordnung der erkenntnistheoretischen Beispiele gibt in seiner durch Klarheit und Übersichtlichkeit ausgezeichneten Besprechung von NELSONs Buch ARTHUR KRONFELD (Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 14, erstes und zweites Heft, 1909). 14) EP 453f 15) EP 467f 16) EP 479f (Eigentlich handelt es sich um die von MEINONG zum Widersinn verzerrte Evidenzlehre BRENTANOs). 17) EP 486f 18) EP 492f 19) EP 504f 20) EP 523 21) NK I, 24. 22) NK I, 213. 23) NK I, 24; EP 464f und 522f. 24) NK I, 23f und 339; vgl. EP 522. 25) Bedeutet: jedes unbeweisbare Urteil. 26) Korrekter ausgedrückt wäre: die ersten Urteile als Grundsätze auszusprechen. 27) NK I, 24f. 28) EP 523. 29) ERNST CASSIRER, Der kritische Idealismus und die Philosophie des "gesunden Menschenverstandes", Gießen 1906, Seite 11 - Ich verstehe nur nicht recht, warum dieser Kritiker NELSON verhöhnt und zugleich FRIES und APELT lobpreisend gegen ihn ausspielt, da doch alle drei denselben Wert auf die erneute Feststellung dieser alten Wahrheit legen. 30) NK I, 315f. 31) NK I, 14, 242, 341 und II 5. Vgl. dazu NELSON, Über die nichteuklidische Geometrie und den Ursprung der mathematischen Gewißheit, Abhandlung, Bd. I, Heft 2 und 3. 32) Die "Metaphysik" ist für FRIES wie für KANT nicht mehr das, was sie für ARISTOTELES war, eine theoretische Wissenschaft von den Gesetzen, die von allem Realen gelten, dem Physischen wie auch dem Psychischen; ihren Begriff bestimmt überhaupt keine Besonderheit des Gegenstandes, sondern eine solche der Erkenntnisweise. Metaphysische Erkenntnis bedeutet Erkenntnis a priori aus Begriffen, wobei das "aus Begriffen" durchaus nicht etwa auf eine analytische Evidenz abzielt, sondern lediglich den Gegensatz zur apriorischen Erkenntnis aus reiner Anschauung, d. h. zur mathematischen, hervorheben soll. 33) NK I, 341. 34) NK I, 20. Vgl. auch die scharfsinnige Kritik des kantischen "transzendentalen Beweises" bei NELSON, EP § 89-91. 35) Diesen Namen gebraucht NELSON, nicht auch schon FRIES. 36) NK I, 24f, 29f. 37) NK I, 19, 26. 38) Vgl. EP 647 39) Vgl. NK I, 236, 316, 320; NK II 5. 40) NK I, 341 41) NK I, 30. 42) NK I, 255, 341; EP 528, 548f. 43) "Unaussprechlich" wie jede Erkenntnis, die nicht, wie die von FRIES allein "Urteil" genannte, eine begriffliche Materie hat. 44) NK I, 256. 45) Vgl. APELT, Metaphysik § 29. |