BrentanoNietzscheBrentanoMartyTwardowsky | ||||
Von der Klassifikation der psychischen Phänomene [ 1 / 3 ]
Vorwort Mehr als drei Dezennien waren seit dem Erscheinen meines Buches verflossen, und neue Forschungen hatten bei mir zwar der Hauptsache nach die damals ausgesprochenen Ansichten bestehen lassen, aber doch in manchem nicht unwichtigen Punkt zu einer Fortbildung oder, wie ich zumindest glaube, berichtigenden Modifikation geführt. Es schien mir unmöglich, dieselben unerwähnt zu lassen. Und doch empfahl es sich zugleich, die Darlegung in ihrer ursprünglichen Gestalt, in der sie auf die Zeitgenossen gewirkt hatte, beizubehalten; und dies umso mehr, als ich die Erfahrung gemacht hatte, daß manche angesehene Psychologen, die meiner Lehre ernste Beachtung geschenkt, ihr mehr in der früheren Fassung beizupflichten, als auf den neueingeschlagenen Wegen mir zu folgen geneigt waren. So entschloß ich mich zu einer so gut wie unveränderten Wiedergabe des alten Textes, zugleich aber zu seiner Bereicherung durch gewisse Bemerkungen, die ich zum Teil als Fußnoten, zum Teil aber, und vorzüglich, als Anhang beifügte. Sie enthalten neben einer Verteidigung gegen gewisse Angriffe, welche meine Lehre von ander Seite erfahren, auch eine Angabe von solchen Momenten, für die ich selbst eine Korrektur nötig finde. Eine der wichtigsten Neuerungen ist die, daß ich nicht mehr der Ansicht bin, daß eine psychische Beziehung jemals etwas anderes als Reales zum Objekt haben könne. Die Absicht, gerade in diesem Stück meinen gegenwärtigen Standpunkt als den richtigen zu erweisen, nötigte mich, ganz neue Fragen einzubeziehen, wie z. B. auf die Untersuchung über die Modi des Vorstellens einzugehen. Ich weiß wohl, daß die Gedrängtheit der Darstellung das Verständnis nicht erleichtert. Umsomehr habe ich mich großer Präzision im Ausdruck beflissen. Deutsche Psychologen, welche von der italienischen Übersetzung und den Zugaben zu ihr erfahren hatten, machten mich darauf aufmerksam, daß ich doch wohl tun werde, das Buch zugleich in deutscher Sprache erscheinen zu lassen, zumal meine Psychologie vom empirischen Standpunkt seit Jahren vergriffen sei. Und so erscheint denn auf ihre Anregung alles, was die italienische Neuausgabe enthält, hier auch als zweite, in der angegebenen Weise erweiterte Neuausgabe des deutschen Originals. Erstes Kapitel (1) Überblick über die vorzüglichsten Versuche einer Klassifikation der psychischen Phänomene § 1. Wir kommen zu einer Untersuchung, die nicht bloß ansich, sondern auch für alle folgenden von großer Wichtigkeit ist. Denn die wissenschaftliche Betrachtung bedarf der Einteilung und Ordnung, und diese dürfen nicht willkürlich gewählt werden. Sie sollen, so viel als möglich, natürlich sein und sind dieses dann, wenn sie einer möglichst natürlichen Klassifikation ihres Gegenstandes entsprechen. Wie anderwärts, so werden auch in Bezug auf die psychischen Phänomene Haupteinteilungen und Untereinteilungen zu treffen sein. Zunächst aber wird es sich um die Bestimmung der allgemeinsten Klassen handeln. Die ersten Klassifikationen, wie überhaupt so auch auf psychischem Gebiet, ergaben sich Hand in Hand mit der fortschreitenden Entwicklung der Sprache. Diese enthält allgemeinere wie minder allgemeine Ausdrücke für Phänomene des inneren Gebietes, und die frühesten Erzeugnisse der Dichtkunst beweisen, daß schon vor Beginn der griechischen Philosophie der Hauptsache nach dieselben Unterscheidungen gemacht waren, welche noch jetzt eine im Leben gangbare Bezeichnung finden. Bevor jedoch SOKRATES zur Definition anregte, mit welcher die wissenschaftliche Klassifikation aufs Innigste zusammenhängt, wurde von keinem Philosophen ein nennenswerter Versuch zu einer Grundeinteilung der psychischen Erscheinungen gemacht. PLATON gebührt wohl das Verdienst, hier die Bahn gebrochen zu haben. Er unterschied drei Grundklassen der psychischen Phänomene, oder vielmehr, wie er sich ausdrückte, drei Teile der Seele, von denen jeder besondere Seelentätigkeiten umschloß; nämlich den begierlichen, den zornmütigen und den vernünftigen Seelenteil. (2) Diesen drei Teilen entsprachen, wie wir schon gelegentlich bemerkten (3), die drei Stände, welche PLATON als die hauptsächlichsten im Staate unterschied: der Stand der Erwerbenden, welcher die Hirten, Ackerbauern, Handwerker, Kaufleute und andere umfaßte, der Stand der Wächter oder Krieger und der Stand der Herrscher. Auch sollten sich nach denselben drei Seelenteilen und im Hinblick auf ihr relatives Übergewicht die drei hauptsächlichsten Völkergruppen, die der verweichlichten, nach den Genüssen des Reichtums jagenden Südländer (Phönizier und Ägypter), die der tapferen aber rohen nördlichen Barbaren und die der bildungsliebenden Hellenen unterscheiden. Wie PLATON seine Einteilung bei der Bestimmung der wesentlichsten Unterschiede von Richtungen des Strebens als Anhalt benützte, so scheint er sie im Hinblick auf solche Verschiedenheiten auch aufgestellt zu haben. Er fand im Menschen einen Kampf von Gegensätzen: einmal zwischen den Forderungen der Vernunft und den sinnlichen Trieben, dann aber auch zwischen den sinnlichen Trieben selbst; und hier schien ihm der Gegensatz von heftig aufbrausender Leidenschaft, die dem Schmerz und Tod entgegenstürmt, und weichlichem Hang zum Genuß, der sich vor jedem Schmerz zurückzieht, besonders auffallend und nicht minder groß als der Gegensatz zwischen vernünftigem und unvernünftigem Verlangen selbst. So glaubte er drei, auch ihrem Sitz nach verschiedene Seelenteile anerkennen zu sollen. Der vernünftige Teil sollte im Haupt, der zornmütige im Herzen, der begierliche im Unterleib wohnen. (4); der erste jedoch so, daß er vom Leib trennbar und unsterblich sei, und nur die beiden anderen an ihm haftend un in ihrem Bestehen an ihn gebunden. Auch hinsichtlich ihrer Verbreitung über einen engeren oder weiteren Kreis von lebenden Wesen glaubte PLATON sie verschieden. Der vernünftige Teil sollte unter allem, was auf Erden lebt, nur dem Menschen zukommen, den zornmütigen sollte der Mensch mit den Tieren, den begierlichen endlich sowohl mit ihnen als auch mit den Pflanzen gemein haben. Die Unvollkommenheit dieser Einteilung ist leicht erkennbar. Ihre Wurzeln liegen einseitig auf ethischem Gebiet, und dem widerspricht es nicht, wenn ein Teil als der vernünftige bezeichnet wird, da PLATON wie SOKRATES die Tugend als ein Wissen betrachtete. Sobald man bestimmen will, welchem Teil diese oder jene einzelne Tätigkeit zuzuschreiben sei, kommt man in Verlegenheit. Die sinnliche Wahrnehmung z. B. scheint sowohl dem begierlichen als zornmütigen zugeschrieben werden zu müssen und an gewissen Stellen scheint PLATON mit anderen Weisen der Erkenntnis auch sie dem vernünftigen Teil beizulegen. (5) Auch die Anwendungen, die PLATON von der Einteilung macht, und in deren vermeintem Gelingen er eine Bestärkung finden mochte, zeigen vielmehr aufs Neue ihre Schwäche. Es wird heutzutage kaum jemand geneigt sein, mit PLATON in den drei Ständen der Erwerbenden, Krieger und Herrscher die hauptsächlichen Berufstätigkeiten, welche sich in der Gesellschaft auseinanderzweigen, in erschöpfender Weise dargestellt zu sehen. Weder die Kunst findet in ihr die gebührende Stelle, noch die Wissenschaft. Denn die Erfahrung zeigt zu deutlich die Verschiedenheit der Begabung für theoretische und praktische Leistungen, als daß wir in der Tüchtigkeit des wissenschaftlichen Denkers nicht eine ganz andere Art von Vollkommenheit als in der Tüchtigkeit des Herrschers anerkennen müßten; abgesehen davon, daß durch die Herrschaft eines Philosophen, die PLATON als Ideal vorschwebte, die Freiheit der Wissenschaft, und somit ihr ungehemmter Fortschritt, am allermeisten gefährdet sein würde. Nichtsdestoweniger lagen in der platonischen Einteilung die Keime für die Bestimmungen, welche bei ARISTOTELES ihre Stelle einnahmen, und welche, ungleich bedeutender als die PLATONs selbst, für Jahrtausende maßgebend geworden sind. § 2. Wir finden bei ARISTOTELES drei Grundeinteilungen der psychischen Phänomene, von welchen jedoch zwei, in ihrer Gliederung sich vollkommend deckend, als eine betrachtet werden können. Einmal unterschied er die Seelenerscheinungen, insofern er die einen für Tätigkeiten des Zentralorgans, die anderen für immateriell hielt, also in Phänomene eines sterblichen und unsterblichen Seelenteils. Dann unterschied er sie nach ihrer größeren oder geringeren Verbreitung in allgemein animalische und eigentümlich menschliche. Diese Einteilung erscheint bei ihm dreigliedrig, indem ARISTOTELES vermöge seines weiteren Begriffs des Seelischen, wie wir schon früher hörten, auch die Pflanzen für beseelt erklärte. Er zählt darum einen vegetativen, sensitiven und intellektiven Teil der Seele auf. Der erste, der die Phänomene der Ernährung, des Wachstums und der Erzeugung in sich schließt, soll allen irdischen lebenden Wesen, auch den Pflanzen, gemeinsam zukommen. Der zweite, der Sinn und Phantasie und andere verwandte Erscheinungen und mit ihnen die Affekte enthält, gilt ihm als der spezifisch animalische. Den dritten endlich, welcher das höheren Denken und Wollen in sich begreift, glaubt er unter den irdischen lebenden Wesen dem Menschen ausschließlich eigentümlich. Aber infolge der Beschränkung, welche der Begriff der psychischen Tätigkeit später erfuhr, fällt das erste der drei Glieder gänzlich außerhalb ihres Bereiches. Die Seelentätigkeiten im neueren Sinne des Wortes hat also ARISTOTELES vermöge dieser Einteilung nur in die zwei Gruppen der allgemein animalischen und eigentümlich menschlichen zerlegt. Diese Glieder fallen mit den Gliedern der ersten zusammen. Ihre Ordnung aber bestimmt der Grad der Allgemeinheit ihres Bestehens. Eine andere Haupteinteilung, die ARISTOTELES gibt, scheidet die psychischen Phänomene, - das Wort in unserem Sinne (6) genommen, - in Denken und Begehren, nous und orexis, im weitesten Sinne. Diese Einteilung kreuzt sich bei ihm mit der vorigen, so weit sie für uns in Betracht kommt. Denn in der Klasse des Denkens faßt ARISTOTELES mit den höchsten Verstandesbetätigungen, wie Abstraktion, Bildung allgemeiner Urteile und wissenschaftlicher Schlußfolgerung, auch Sinneswahrnehmung und Phantasie, Gedächtnis und erfahrungsmäßige Erwartung zusammen. (7) In der des Begehrens aber sind ebenso das höhere Verlangen und Streben wie der niedrigste Trieb, und mit ihnen alle Gefühle und Affekte, kurzum alles, was von psychischen Phänomenen der ersten Klasse nicht einzuordnen ist, begriffen. Wenn wir untersuchen, was ARISTOTELES dazu geführt habe, vermöge dieser Einteilung zu verbinden, was die frühere Einteilung geschieden hatte: so erkennen wir leicht, daß ihn dabei eine gewisse Ähnlichkeit bestimmte, welche das sinnliche Vorstellen und Scheinen mit dem intellektuellen, begrifflichen Vorstellen und Fürwahrhalten und ebenso das niedere Begehren mit dem höheren Streben zeigt. Er fand hier und dort, um es mit einem Ausdruck, den wir schon früher einmal den Scholastikern entlehnten, zu bezeichnen, die gleiche Weise der intentionalen Inexistenz. (8) Und aus demselben Prinzip ergab sich dann auch die Trennung von Tätigkeiten, welche die frühere Einteilung verbunden hatte, in verschiedene Klassen. Denn die Beziehung auf den Gegenstand ist bei Denken und Begehren verschieden. Und darin setzte eben ARISTOTELES den Unterschied der beiden Klassen. Nicht auf verschiedene Objekte glaubte er sie gerichtet, sondern auf dieselben Objekte in verschiedener Weise. Deutlich sagt er, sowohl in seinen Büchern von der Seele als in seiner Metaphysik, daß dasselbe Gegenstand des Denkens und Begehrens sei und, zuerst im Denkvermögen aufgenommen, dann das Begehren bewege. (9) Wie also bei der früheren Einteilung die Verschiedenheit des Trägers der psychischen Phänomene so wie die Verbreitung über einen weiteren oder engeren Kreis psychisch begabter Wesen den Einteilungsgrund bildete, so bildet ihn bei dieser der Unterschied in ihrer Beziehung auf den immanenten Gegenstand. Die Ordnung der Aufeinanderfolge der Glieder ist durch die relative Unabhängigkeit der Phänomene bestimmt. (10) Die Vorstellungen gehören zur ersten Klasse; ein Vorstellen aber ist die notwendige Vorbedingung eines jeden Begehrens. § 3. Im Mittelalter blieben die aristotelischen Einteilungen wesentlich in Kraft; ja bis in die neue Zeit hinein reicht ihr Einfluß. Wenn WOLFF die Seelenvermögen einmal in höhere und niedere und dann in Erkenntnis- und Begehrungsvermögen scheidet und diese zwei Einteilngen sich kreuzen läßt, so erkennen wir hierin leicht ein der doppelten aristotelischen Gliederung wesentlich entsprechendes Schema. Auch in England hat zumindest die letzte Einteilung sehr lange nachgewirkt. Den Untersuchungen von HUME liegt sie zugrunde; und REID sowohl als BROWN brachten nur unbedeutende und keineswegs glückliche Änderungen an, wenn jener intellektive und aktive (11) Seelenvermögen unterschied, und dieser, nachdem er zunächst die Empfindungen als äußere Affektionen allen übrigen als inneren Affektionen gegenübergestellt hatte, die letzteren dann in intellektuelle Geisteszustände und Gemütsbewegungen sonderte. (12) Alles, was ARISTOTELES unter seiner orexis, begreift BROWN unter der letztgenannten Klasse. § 4. Eine Einteilung, die in ihrer Abweichung bedeutender und in ihrem Einfluß nachhaltigerwar, und die gemeiniglich noch heute als ein Fortschritt in der Klassifikation der psychischen Erscheinungen betrachtet wird, wurde in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts von TETENS und MENDELSSOHN aufgestellt. Sie schieden die Seelentätigkeiten in drei koordinierte Klassen und nahmen für jede von ihnen ein besonderes Seelenvermögen an. TETENS nannte seine drei Grundvermögen Gefühl, Verstand und Tätigkeitskraft (13) (Willen); MENDELSSOHN bezeichnete sie als Erkenntnisvermögen, als Empfindungs- oder Billigkeitsvermögen ("vermöge dessen wir an einer Sache Lust oder Unlust empfinden") und als Begehrungsvermögen. (14) KANT, ihr Zeitgenossen, machte die neue Klassifikation in seiner Weise (15) sich eigen; er nannte die drei Seelenvermögen das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen und legte sie der Einteilung seiner kritischen Philosophie zugrunde. Seine "Kritik der reinen Vernunft" bezieht sich auf das Erkenntnisvermögen, insofern es die Prinzipien des Erkennens selbst, seine "Kritik der Urteilskraft" auf das Erkenntnisvermögen, insofern es die Prinzipien des Fühlens, seine "Kritik der praktischen Vernunft" endlich auf das Erkenntnisvermögen, insofern es die Prinzipien des Begehrens enthält. Hierdurch gewann die Klassifikation vorzüglich Einfluß und Verbreitung, so daß sie noch heute ziemlich allgemein herrschend ist. KANT hält die Einteilung der Seelentätigkeiten in Erkennen, Fühlen, und Wollen darum für fundamental, weil er glaubt, daß keine der drei Klassen aus der anderen ableitbar sei, oder mit ihr auf eine dritte als ihre gemeinschaftliche Wurzel zurückgeführt werden könne. (16) Die Unterschiede zwischen dem Erkennen und Fühlen seien zu groß, als daß etwas Derartiges denkbar scheine. Wir auch immer Lust und Unlust ein Erkennen voraussetzen, so sei doch eine Erkenntnis schlechterdings kein Gefühl, und ein Gefühl schlechterdings keine Erkenntnis. Und ebenso zeige das Begehren sich der einen wie dem anderen völlig heterogen. Denn jedes Begehren, und nicht bloß das ausgesprochene Wollen, sondern auch der ohnmächtige Wunsch, ja selbst die Sehnsucht nach dem anerkannt Unmöglichen, (17) sei ein Streben nach der Verwirklichung eines Objektes, während die Erkenntnis das Objekt nur erfasse und beurteile, das Gefühl der Lust aber gar nicht auf das Objekt, sondern bloß auf das Subjekt sich beziehe, indem es für sich selbst Grund sei, seine eigene Existenz im Subjekt zu erhalten. (18) Die Bemerkungen KANTs zur Begründung und Rechtfertigung seiner Einteilung sind spärlich. Da aber später manche Philosophen, wie CARUS, WEISS, KRUG und andere, die wieder auf die Zweiteilung von Vorstellungs- und Bestrebungsvermögen zurückgingen, sie nicht bloß angriffen, sondern sie als von vornherein unmöglich hinstellen wollten, übernahmen andere, und namentlich WILLIAM HAMILTON, ihre Verteidigung und führten die Gedanken, die KANT bloß angedeutet hatte, weiter aus. Die Angriffe waren freilich sonderbar. So argumentierte KRUG, nur darum seien Vorstellungs- und Bestrebungsvermögen als zwei anzusehen, weil die Tätigkeit des Geistes eine doppelte Richtung, eine Richtung einwärts und eine Richtung auswärts, habe. Daher seien die Betätigungen des Geistes in immanente oder theoretische und in transeunte [in einen anderen Bereich übergehend - wp] oder praktische zu scheiden. Unmöglich aber sei es, zwischen ihnen eine dritte Klasse einzuschieben; denn diese müßte eine Richtung haben, die weder einwärts noch auswärts ginge, was undenkbar sei. HAMILTON mußte es leicht werden, ein solches Raisonnement als nichtig darzutun. Warum, fragt er mit BIUNDE, sollten wir nicht vielmehr sagen, daß drei Gattungen von Tätigkeiten in der Seele zu denken seien, von welchen die einen ineunt [beginnend - wp], die anderen immanent, die dritten transeunt wären? (19) - und wirklich käme man auf diesem, allerdings etwas abenteuerlichen, Weg zu einer Klassifikation, die in ihren drei Gliedern mit dem, was KANT in der oben zitierten Stelle von Erkenntnis, Gefühl und Begehren sagte, ziemlich gut stimmen würde. Aber HAMILTON weist nicht bloß diesen Angriff zurück; er versucht auch eine positive Begründung der Notwendigkeit der Annahme der Gefühle als einer besonderen Grundklasse. Zu diesem Zweck zeigt er, daß es gewisse Zustände des Bewußtseins gebe, die weder als ein Denken noch auch als ein Bestreben klassifiziert werden können. Solche Seien die Gemütsbewegungen, die in jemand erregt werden, wenn er den Bericht vom Tod des LEONIDAS bei den Thermophylen lese, oder wenn er die folgende schöne Strophe aus einer bekannten alten Ballade höre:
Weil ihn der Tod rafft' hin, Der, als die Füße ihm geraubt, Noch focht auf seinen Knien." Daß dieses Argument ungenügend sei, ist leicht erkennbar. Es könnte sein, daß die Ausdrücke Wollen und Begehren nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch zu eng wären, um alle psychischen Phänomene außer den Phänomenen des Denkens zu umfassen, und daß überhaupt ein hierzu geeigneter Name in der gewöhnlichen Sprache fehlte, daß aber nichtsdestoweniger die Erscheinungen, die wir Begierden, und die, welche wir Gefühle nennen, zusammen eine einheitliche, weitere und den Phänomenen des Denkens naturgemäß koordinierte Klasse, psychischer Phänomene bildeten. Eine wahre Rechtfertigung der Einteilung ist nicht möglich ohne Darlegung des Einteilungsprinzips. Und HAMILTON versäumt nicht, an einer anderen Stelle eine solche zu geben, indem er mit KANT die drei Klassen für Phänomene verschiedener Vermögen der Seele erklärt, von welchen keines einer Ableitung fähig sei. DESCARTES, LEIBNIZ, SPINOZA, WOLFF, PLATNER und andere Philosophen, sagt er, haben, weil die Erkenntnis des inneren Bewußtseins alle Phänomene begleitet, das Vorstellungsvermögen als das Grundvermögen des Geistes betrachten zu müssen geglaubt, von dem die anderen nur abgeleitet seien. Allein mit Unrecht.
"Wir können ferner ein Wesen denken, welches mit Erkenntnis und Gefühl allein ausgestattet wäre, ein Wesen, begabt mit einr Fähigkeit, Objekte zu erkennen und sich freuend in der Ausübung, sich betrübend bei der Hemmung seiner Tätigkeit, - und dennoch beraubt jener Fähigkeit zur Willensenergie, jenes Bestrebens, welches wir im Menschen finden. Solch einem Wesen würden Gefühle von Schmerz und Lust, nicht aber Begehren und Willen im eigentlichen Sinne zukommen." "Auf der anderen Seite jedoch können wir unmöglich denken, daß eine Willenstätigkeit unabhängig von allem Gefühl bestehe; denn die Willensbestrebung ist eine Fähigkeit, welche nur durch einen Schmerz oder eine Lust zur Betätigung bestimmt werden kann, - nämlich durch eine Schätzung des relativen Wert der Objekte." (21) Hören wir auch noch LOTZE, der gegenüber HERBARTs neuem Versuch, jede Mehrheit von Vermögen zu beseitigen, in seiner Medizinischen Psychologie und mehr noch in seinem Mikrokosmus der KANTschen Dreiteilung eine eingehende Verteidigung widmet.
"Die Vergleichung jener geistigen Erscheinungen nötigt uns, wenn wir nicht irren, zu dieser letzten Annahme. Betrachten wir die Seele nur als vorstellendes Wesen, so werden wir in keiner noch so eigentümlichen Lage, in welche sie durch die Ausübung dieser Tätigkeit geriete, einen hinlänglichen Grund entdecken, der sie nötigte, nun aus dieser Weise ihres Äußerns hinauszugehen und Gefühle der Lust und Unlust in sich zu entwickeln. Allerdings kann es scheinen, als verstände im Gegenteil nichts so sehr sich von selbst, als daß unversöhnte Gegensätze zwischen mannigfachen Vorstellungen, deren Widerstreit der Seele Gewalt antut, ihre Unlust erregen, und daß aus dieser ein Streben nach heilender Verbesserung entspringen müsse. Aber nur uns scheint dies so, die wir eben mehr als vorstellende Wesen sind: nicht von selbst versteht sich die Notwendigkeit jener Aufeinanderfolge, sondern sie versteht sich aus dem allgemeinen Herkommen unserer inneren Erfahrung, die uns längst an ihre tatsächliche Unvermeidlichkeit gewöhnt hat und uns darüber hinwegsehen läßt, daß in Wahrheit hier zwischen jedem vorangehenden und dem folgenden Glied der Reihe eine Lücke ist, die wir nur durch Hinzunahme einer noch unbeobachteten Bedingung ausfüllen können. Sehen wir ab von dieser Erfahrung, so würde die bloß vorstellende Seele keinen Grund in sich finden, eine innere Veränderung, wäre sie selbst gefahrdrohend für die Fortdauer ihres Daseins, anders als mit der gleichgültigen Schärfe der Beobachtung aufzufassen, mit der sie jeden anderen Widerstreit von Kräften betrachten würde; entstände ferner aus anderen Quellen doch neben der Wahrnehmung noch ein Gefühl, so würde doch die bloß fühlende Seele selbst im tötenden Schmerz weder Grund noch Befähigung in sich finden, zu einem Streben nach Veränderung überzugehen; sie würde leiden, ohne zum Wollen aufgeregt zu werden. Da dies nun nicht so ist, und damit es anders sein könne, muß die Fähigkeit, Lust und Unlust zu fühlen, ursprünglich in der Seele liegen; und die Ereignisse des Vorstellungsverlaufes, zurückwirkdend auf die Natur der Seele, wecken sie zur Äußerung, ohne sie erst aus sich zu erzeugen; welche Gefühle ferner das Gemüt beherrschen mögen, sie bringen nicht ein Streben hervor, sondern sie werden nur zu Beweggründen für ein vorhandenes Vermögen des Wollens, das sie in der Seele vorfinden, ohne es ihr jemals geben zu können, wenn es ihr fehlte ... "So würden nun diese drei Urvermögen sich als stufenweise höhere Anlagen darstellen, und die Äußerung der einen die Tätigkeit der folgenden auslösen." (22) Indessen scheint das Prinzip, welches KANT bei seiner Grundeinteilung der psychischen Phänomene anwandte, und welches HAMILTON sowohl als LOTZE und mit ihnen viele andere sich eigen machten, zur Bestimmung der höchsten Klassen wenig geeignet; und dies nicht etwa, weil HERBARTs Meinung sich aufrecht erhalten ließe, sondern, ich möchte sagen, aus einem entgegengesetzten Grund. Wenn zwei psychische Phänomene, schon deshalb, weil aus der Fähigkeit zu dem einen auf die Fähigkeit zum anderen nicht von vornherein geschlossen werden kann, verschiedenen Grundklassen zuzurechnen wären, so müßte man nicht bloß, wie KANT, HAMILTON und LOTZE wollen, das Vorstellen vom Fühlen und Begehren, sondern auch das Sehen vom Schmecken, ja das Rotsehen vom Blausehen als von einem Phänomen scheiden, das zu einer anderen Klasse gehörte. In Bezug auf das Sehen und Schmecken ist, was ich sagte, einleuchtend; gibt es ja zahlreiche Gattungen von niederen Tieren, die am Geschmack, nicht aber am Gesicht teilhaben. Aber auch für das Rotsehen und Blausehen gilt, wie gesagt, dasselbe; und ein handgreiflicher Beweis liegt in der Tatsache der Rotblindheit, dem sogenannten Daltonismus, vor. Diese Betrachtungen zeigen gewiß auf deutlichste, daß die Fähigkeit für eine Farbenwahrnehmung nicht von vornherein auf die Fähigkeit für eine andere schließen läßt. Und in der Tat würden wir, auf das Sehen des Blauen und Gelben beschränkt, nie eine Ahnung vom Roten bekommen. Auch JOHN STUART MILL betrachtet darum die Erscheinung jeder einzelnen Farbe als eine letzte unableitbare Tatsachen. (23) Nun sieht aber jeder ein, daß es ungereimt wäre, die Vorstellungen von Rot und anderen einzelnen Farbenarten, als Phänomene, die auf verschiedenen ursprünglichen, nicht voneinander ableitbaren Vermögen beruhten, verschiedenen höchsten Klassen zuzuweisen. Und somit sehen wir uns zu dem Schluß genötigt, daß dieses Einteilungsprinzip für die Bestimmung der höchsten Klassen der psychischen Phänomene in keiner Weise geeignet ist, wäre dies aber der Fall, so würden wir offenbar nicht Denken, Fühlen und Streben, sondern eine ungleich größere Zahl von höchsten Klassen der psychischen Phänomene zu unterscheiden haben. Es ist gewiß etwas Mißliches, zu behaupten, daß KANT und die bedeutenden Männer, welche nach ihm seine Dreiteilung vertraten, sich über das Prinzip, welches sie bei ihrer Klassifikation bestimmte, selbst nicht genügend Rechenschaft gegeben hätten. Und zudem finden wir, daß auch schon die Vorläufer KANTs, TETENS und MENDELSSOHN, sich auf die Unableitbarkeit der Vermögen als Bürgschaft für ihre Grundeinteilung beriefen. Dennoch läßt sich, wenn man das Mißverhältnis zwischen dem angeblichen Einteilungsgrund und der Gliederung der Einteilung ins Auge faßt, die Annahme nicht umgehen, daß alle diese Denker, sich selbst mehr oder weniger unbewußt, durch ganz andere Motive geleitet wurden. Und in ihren Äußerungen finden sich deutliche Spuren, die darauf hinweisen. Was KANT in Wahrheit bestimmte, die psychischen Tätigkeiten in seine drei Klassen zu scheiden, war, glaube ich, ihre Übereinstimmung oder Verschiedenheit unter einem ähnlichen Gesichtspunkt wie der, welcher ARISTOTELES bei seiner Unterscheidung von Denken und Begehren maßgebend gewesen ist. Eine Stelle, welche wir oben seiner Abhandlung über die Philosophie überhaupt entlehnten, setzt die Verschiedenheit zwischen Erkennen und Begehren deutlich in einen Unterscheid der Beziehung aufs Objekt, während die Besonderheit des Fühlens darin gesucht wird, daß hier jede derartige Beziehung mangelt, indem das psychische Phänomen bloß auf das Subjekt Bezug hat. (24) Das also war die große Differenz, aus welcher sich die gegenseitige Unableitbarkeit allerdings als eine Folgerung ergeben mochte, welche aber in sich selbst eine tiefer einschneidenden Kluft als die Unmöglichkeit der Ableitung war; eine Kluft, welche nicht ebenso in jenen anderen Fällen besteht, die zur Annahme besonderer ursprünglicher Vermögen nötigen. Dasselbe zeigt sich bei HAMILTON. Fragen wir ihn, warum er Gefühle und Strebungen als Phänomene besnoderer Urvermögen bezeichnet, und es für unmöglich hält, daß sie aus dem einen Grundvermögen erklärbar seien: so gibt er im zweiten Band seiner Vorlesungen über Metaphysik folgende Antwort. Darum, sagt er, tue er dies, weil das Bewußtsein uns in diesen Phänomenen, obwohl ihnen wegen der inneren Wahrnehmung allgemein eine Erkenntnis beigemischt sei, außer ihr gewisse Beschaffenheiten (certain qualities) zeige, die weder explizit noch implizit in den Phänomenen der Erkenntnis selbst enthalten seien. "Die Eigentümlichkeiten, wodurch diese drei Klassen sich gegenseitig voneinander unterscheiden, sind folgende: Bei den Phänomenen der Erkenntnis unterscheidet das Bewußtsein ein erkanntes Objekt vom erkennenden Subjekt ... Beim Gefühl, bei den Phänomenen von Lust und Schmerz ist dies dagegen nicht der Fall. Das Bewußtsein stellt hier nicht den psychischen Zustand sich selbst gegenüber, sondern ist gleichsam mit ihm in eins verschmolzen. Im Gefühl ist daher nichts, als was subjektivisch subjektiv (subjectively subjective) ist" - ein Ausspruch, dessen wir schon einmal Erwähnung getan haben.
Was schließlich LOTZE betrifft, so fehlt es auch bei hm nicht an Zeichen, daß ein bedeutenderes Moment als die bloße Unableitbarkeit der Vermögen ihn die drei Klassen des Vorstellens, Fühlens und Strebens als die verschiedenen Grundklassen der Seelenerscheinungen betrachten ließ. Nur der Umstand, daß die Unmöglichkeit der Ableitung von der Herbartschen Schule geleugnet worden war, führt ihn dazu gerade diesen Punkt mit besonderem Nachdruck zu betonen. LOTZE verkennt so wenig, daß die nicht von einer anderen ableitbaren Fähigkeiten der Seele sich nicht auf eine Dreizahl beschränken: daß er vielmehr ebenso wie wir die Anlagen zum Sehen und Hören als verschiedene ursprüngliche Anlagen betrachtet; und gerade bei seiner Untersuchung über die drei Grundklassen finden wir diese Wahrheit berührt. (26) Warum hat er nun die Vorstellungen von Tönen und Farben dennoch derselben Grundklasse zugeteilt, und ebenso andere Unterschiede, welche man, namentlich innerhalb des Bereichs der Gefühle, leicht als ähnlich unableitbar nachweisen kann, bei seiner Grundeinteilung nicht maßgebend werden lassen? Die Wahrnehmung eines ganz besonders tiefgehenden Unterschiedes, der, zwischen jenen drei Klassen vorhanden, nicht in gleicher Weise in anderen Fällen unmöglicher Ableitung gefunden wird, muß hier bestimmend gewesen sein. Nach dem, was wir bei KANT und HAMILTON gefunden haben, ist es aber von vornherein zu vermuten, daß eine Verschiedenheit der Seelentätigkeiten im Hinblick auf die Beziehung zum Objekt, auch LOTZE dazu führte, gerade diese drei Klassen als die am meisten verschiedenen und als die Grundklassen der psychischen Erscheinungen anzusehen. So bleibt dann nur noch zu untersuchen, ob man wirklich gut getan habe, diesen Gesichtspunkt bei einer Haupteinteilung der Seelentätigkeiten geltend zu machen; so wie, ob die Dreiteilung in Denken, Fühlen, Streben mit den fundamentalen Unterschieden, welche die psychischen Phänomene in dieser Beziehung zeigen, in Wahrheit koinzidiere und sie erschöpfe. Wenn wir am Ende dieses Überblickes über die bisher versuchten Klassifikationen uns selbst über die Frage zu entscheiden haben, werden wir auch diesen Punkt behandeln. § 5. Wie schon bemerkt, ist die eben besprochene Einteilung des Bewußtseins in Vorstellung, Gefühl und Willen in neuerer Zeit sehr allgemein geworden. Auch HERBART und seine Schule haben sie angenommen; und bei den Darstellungen der empirischen Psychologie pflegen die Herbartianer in derselben Weise wie andere sie der Ordnung des Stoffes zugrunde zu legen. Das Unterscheidende bei ihnen ist nur dies, daß sie die beiden letzten Klassen nicht auf besondere Urvermögen zurückführen, sondern aus der ersten ableiten wollen; ein, wie schon wiederholt bemerkt, offenbar vergebliches Bemühen. § 6. Unter den Vertretern der empirischen Schule in England, die in einem gewissen Gegensatz zur Schule HAMILTONs steht, hat ALEXANDER BAIN ebenfalls seine Dreiteilung unter ähnlichen Namen aufgestellt. Er unterscheidet: erstens Gedanken, Verstand oder Erkenntnis (Thought, Intellect or Cognition); zweitens Gefühl (Feeling); und endlich drittens Streben oder Willen (Volition or the Will). Auch hier scheint uns also dieselbe Grundeinteilung zu begegnen, und BAIN selbst beruft sich auf diese Übereinstimmung als auf eine Bestätigung. Wenn man indessen auf die Erklärungen achtet, die BAIN von den drei Gliedern seiner Klassifikation gibt, so zeigt sich, daß die Gleichheit der Ausdrücke eine große Verschiedenheit der Gedanken verdeckt. Unter der dritten Klasse, dem Streben oder Willen, versteht BAIN etwas ganz anderes, als die deutschen Psychologen wie auch HAMILTON mit dem Wort zu bezeichnen pflegen, nämlich das von psychischen Phänomenen ausgehende Wirken. So erklärt er zu Beginn seines umfangreichen Werkes über die Sinne und den Verstand, das Streben oder der Wille umfasse das Ganze unserer Aktivität, so weit sie von unseren Gefühlen geleitet werde. (27) Und weiter unten erläutert er den Begriff also:
So stimmt BAINs Einteilung der Seelenerscheinungen der Sache nach mehr mit der aristotelischen Zweiteilung in Denken und Begehren (an welches letztere sich unter Umständen eine willkürliche Bewegung knüpft) als mit der späteren Dreiteilung in Vorstellen, Fühlen und Begehren zusammen. Was wir Begehren und Wollen nennen, gehört bei BAIN zum Gefühl. Und es erscheint Gefühl und Begehren bei ihm wiederum zu einer Klasse verbunden. Außerdem hat er das Gebiet der Gefühle auch nach einer anderen Seite erweitert, indem er die Sinnesempfindungen, welche nach den meisten Neueren und auch nach ARISTOTELES der ersten Klasse zuzurechnen wären, nit in ihren Bereich zieht. Außer dieser Einteilung gibt BAIN noch eine andere, dies sich mit der vorerwähnten kreuzt. Er scheidet die psychischen Phänomene in primitive und in solche, welche sich aus diesen in einer weiteren Entwicklung ergeben. Zu den ersteren rechnet er die Empfindungen, die aus den Bedürfnissen des Organismus hervorgehenden Begierden und die Instinkte, worunter er die Bewegungen versteht, die man, ohne sie erlernt oder sich angeübt zu haben, ausführt. Diese Zweiteilung hat er in den späteren Ausgaben seines großen psychologischen Werkes, so wie in seinem Kompendium vor allen anderen bei der Anordnung des Stoffs zugrunde gelegt. Die Anregung zu ihr scheint BAIN durch HERBERT SPENCER erhalten zu haben, bei welchem sich eine ähnliche Scheidung in primitive und entwickeltere psychische Phänomene erkennen läßt, wie überhaupt die Idee der Evolution in seinen "Prinzipien der Psychologie" jede andere beherrscht. Die entwickelteren Seelentätigkeiten scheidet SPENCER in kognitive (Gedächtnis, Vernunft) und affektive (Gefühl, Willen) und denkt die Anfänge der einen wie der anderen Klasse in den primitiven Erscheinungen vorhanden, so daß man vielleicht sagen könnte, er lasse mit der ersten eine zweite Einteilung sich kreuzen, welche in ihrer Gliederung an die aristotelische Scheidung von nous und orexis erinnert. (31) § 7. Hiermit können wir unsere Übersicht über die vorzüglichsten Klassifikationsversuche abschließen. Achten wir auf die Prinzipien, welche wir bei ihnen angewandt fanden, so erkennen wir, daß sie von vier verschiedenen Gesichtspunkten aus gemacht wurden. Drei davon waren uns schon bei ARISTOTELES begegnet. Er hatte die psychischen Tätigkeiten geschieden: einmal, insofern er sie teils am Leib haftend, teils nicht an ihn gebunden glaubte; dann, insofern er sie teils dem Menschen mit den Tieren gemein, teils ihm ausschließlich eigentümlich dachte, und endlich nach dem Unterschied der Weise der internationalen Inexistenz oder, wie wir sagen könnten, nach dem Unterschied der Weise des Bewußtseins. Das letzte Einteilungsprinzip sehen wir besonders häufig und zu allen Zeiten angewandt. Hierzu kommt dann noch das Prinzip der zweiten Einteilung von BAIN, welche die psychischen Erscheinungen in primitive und in solche zerlegt, welche sich aus primitiven entwickeln. Wir werden nun in den folgenden Untersuchungen sowohl hinsichtlich des Prinzips als hinsichtlich der Gliederung der Grundeinteilung unsererseits eine Entscheidung zu treffen haben.
1) Dieses Kapitel ist das fünfte des zweiten Buches meiner Psychologie vom empirischen Standpunkt. Die früheren, hier entfallenen Kapitel dieses Buches, auf deren Inhalt manchmal zurückgeblickt wird, handeln: Kap. I vom Unterschied der psychischen und physischen Phänomene, Kap. II und III vom inneren Bewußtsein und Kap. IV von der Einheit des Bewußtseins. 2) Die griechischen Ausdrücke sind to epithymetikon [dem Begehrenden - wp], to thymoeides [dem Muthaften - wp] und to logistikon [dem Vernünftigen - wp]. 3) Buch 1, Kap. 2. § 7 meiner Psychologie vom emp. Standpunkt 4) Schon DEMOKRIT hatte geglaubt, das Denken habe im Gehirn, der Zorn im Herzen seinen Sitz. Die Begierde hatte er in die Leber verlegt. Dies wäre ein unbedeutender Unterschied von der späteren platonischen Lehre. Aber nichts macht wahrscheinlich, daß DEMOKRIT in diesen drei Teilen die Gesamtheit der Seelentätigkeiten begreifen wollte; vielmehr verlangte der Zusammenhang seiner Ansichten, daß er jedes Organ mit besonderen Seelentätigkeiten begabt dachte, und eben darauf scheint eine Stelle PLUTARCHs hinzudeuten. So können wir also überhaupt nicht sagen, daß von DEMOKRIT bereits ein Versuch zu einer Grundeinteilung der psychischen Phänomene gemacht worden sei. 5) Vgl. ZELLERs Bemerkungen in seiner Philosophie der Griechen II, 2. Auflage, Seite 540 6) Vgl. De Anima III, 9. Anf., 10. Anf. 7) WUNDT macht denen, welche Empfinden und höheres Erkennen einander ähnlich finden, den Vorwurf des "Logizismus". Dieser würde, wenn begründet, auch ARISTOTELES treffen. Doch wie käme es dann, daß DESCARTES hier ganz ebenso geurteilt hat, ja daß manche, indem sie die universellen Begriffe ganz leugneten, die betreffenden Denktätigkeiten den empfindenden unterordnen wollten? Freilich war das ein Fehler, aber ein nicht minder großer Fehler würde es sein, wenn einer das, was dem Empfinden und intellektiven Denken gemeinsame ist, in Abrede stellte. 8) Dieser Ausdruck ist in der Art mißverstanden worden, daß man meinte, es handle sich dabei um Absicht und Verfolgung eines Ziels. So hätte ich vielleicht besser getan ihn zu vermeiden. Die Scholastiker gebrauchen weit häufiger noch statt "intentional" den Ausdruck "objektiv". In der Tat handelt es sich darum, daß etwas für das psychisch tätige Objekt und als solches, sei es als bloß gedacht oder sei es auch als begehrt, geflohen oder dergleichen, gewissermaßen in seinem Bewußtsein gegenwärtig ist. Wenn ich dem Ausdruck "intentional" den Vorzug gab, so tat ich es, weil ich die Gefahr eines Mißverständnisses für noch größer hielt, wenn ich das Gedachte als gedacht objektiv seiend genannt hätte, wo die Modernen, im Gegensatz zu "bloß subjektiven Erscheinungen", denen keine Wirklichkeit entspricht, das wirklich Seiende so zu nennen pflegen. 9) ARISTOTELES, De Anima III, 10. Metaphysik A 7 10) Vgl. die oben zitierten Stellen. 11) ARISTOTELES hatte das Begehren zugleich für das Prinzip der willkürlichen Bewegung erklärt. (De Anima III, 10) 12) External - internal affections; intellectual states of mind - emotions. 13) DAVID HUME, Über die menschliche Natur I, Versuch X, Seite 625 (1777 erschienen) 14) In einer Bemerkung über das Erkenntnis-, Empfindungs- und Begehrungsvermögen, die, obwohl erst in den gesammelten Schriften (IV, Seite 122f) gedruckt, aus dem Jahr 1776 stammt, und in den 1785 erschienenen Morgenstunden, Vorlesungen VII (ges. Schriften II, Seite 295) 15) Vgl. darüber JÜRGEN BONA-MEYER, Kants Psychologie, Seite 41f 16) "Alle Seelenvermögen oder Fähigkeiten können auf die drei zurückgeführt werden, welche sich nicht ferner aus einem gemeinschaftlichen Grund ableiten lassen: das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen." (Kritik der Urteilskraft, Einleitung, III.) 17) Ebenda, Anm. 18) Im Abschnitt der Abhandlung über die Philosophie überhaupt, in welchem KANT "Von dem System aller Vermögen des menschlichen Gemüts" handelt und ausführlicher als anderswo seine Lehre vorträgt und begründet, sagt er, man habe von Seiten gewisser Philosophen sich bemüht, die Verschiedenheit des Erkenntnisvermögens, des Gefühles für Lust und Unlust und des Begehrungsvermögens "nur für scheinbar zu erklären und alle Vermögen aufs bloße Erkenntnisvermögen zu bringen". Aber vergeblich. "Denn es ist immer ein großer Unterschied zwischen Vorstellungen, so fern sie, bloß aufs Objekt und die Einheit des Bewußtseins desselben bezogen, zur Erkenntnis gehören, desgleichen zwischen derjenigen objektiven Beziehung, da sie, zugleich als Ursache der Wirklichkeit dieses Objekts betrachtet, zum Begehrungsvermögen gezählt werden, und ihrer Beziehung bloß aufs Subjekt, da sie für sich selbst Gründe sind, ihre eigene Existenz in demselben bloß zu erhalten, und sofern im Verhältnis zum Gefühl der Lust betrachtet werden, welches letztere schlechterdings keine Erkenntnis ist noch verschafft, ob es zwar dergleichen zum Bestimmungsgrund voraussetzen mag." (Kants Werke, Ausgabe ROSENKRANZ I, Seite 586f) 19) Sir WILLIAM HAMILTON, Lectures on Metaphysics II, Seite 423 20) Sir WILLIAM HAMILTON, Lectures on Metaphysics II, Seite 420 21) Sir WILLIAM HAMILTON, Lectures on Metaphysics I, Seite 187; vgl. II, Seite 431 22) HERMANN LOTZE, Mikrokosmus I, Seite 193f 23) JOHN STUART MILL, Deduktive und induktive Logik, Buch III, Kap. 14, § 2 24) Seite 9 meiner Psychologie vom emp. Standpunkt 25) HAMILTON, Lectures on Metaphysics II, Seite 431 26) LOTZE, Mikrokosmus I, Seite 198 27) ALEXANDER BAIN, The Senses and the Intellect, Seite 2 28) ALEXANDER BAIN, The Senses and the Intellect, Seite 4. Vgl. Mental and Moral Science, Seite 2 29) KANT, Kritik der praktischen Vernunft, Vorrede. Vgl. Kritik der Urteilskraft, Einleitung III, Anm. und die oben angeführte Stelle aus der Abhandlung über die Philosophie überhaupt (Seite 241, Anm. 1). 30) Er würde sonst nicht jeden Wunsch und jede Sehnsucht zum Begehren rechnen (was BAIN nicht tut), noch auch die Freiheit in das Begehrungsvermögen verlegen. 31) Vgl. RIBOT, Psychologie Anglaise Contemporaine, Paris 1870, Seite 191, eine Schrift, in welcher insbesondere über HERBERT SPENCERs psychologische Ansichten ein sehr hübscher Überblick gegeben wird. |