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Zur Genealogie der Moral [1/2]
Vorwort 2. - Meine Gedanken über die Herkunft unserer moralischen Vorurteile - denn um sie handelt es sich in dieser Streitschrift - haben ihren ersten, sparsamen und vorläufigen Ausdruck in jener Aphorismen-Sammlung erhalten, die den Titel trägt "Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister" und deren Niederschrift in Sorrent begonnen wurde, während eines Winters, welcher es mir erlaubte, Halt zu machen, wie ein Wanderer Halt macht, und das weite und gefährliche Land zu überschauen, durch das mein Geist bis dahin gewandert war. Dies geschah im Winter 1876-77; die Gedanken selbst sind älter. Es waren in der Hauptsache schon die gleichen Gedanken, die ich in den vorliegenden Abhandlungen wieder aufnehme: - hoffen wir, daß die lange Zwischenzeit ihnen gut getan hat, daß sie reifer, heller, stärker, vollkommener geworden sind! Daß ich aber heute noch an ihnen festhalte, daß sie sich selber inzwischen immer fester aneinander gehalten haben, ja ineinander gewachsen und verwachsen sind, das stärkt in mir die frohe Zuversichtlichkeit, sie möchten von Anfang an in mir nicht einzeln, nicht beliebig, nicht sporadisch entstanden sein, sondern aus einer gemeinsamen Wurzel heraus, aus einem in der Tiefe gebietenden, immer bestimmter redenden, immer Bestimmteres verlangenden Grundwillen der Erkenntnis. So allein nämlich geziemt es sich bei einem Philosophen. Wir haben kein Recht darauf, irgendworin einzeln zu sein: wir dürfen weder einzeln irren, noch einzeln die Wahrheit treffen. Vielmehr mit der Notwendigkeit, mit der ein Baum seine Früchte trägt, wachsen aus uns unsere Gedanken, unsere Werte, unsere Ja und Nein und Wenn und Ob - verwandt und bezüglich allesamt untereinander und Zeugnisse eines Willens, einer Gesundheit, eines Erdreichs, einer Sonne. - Ob sie euch schmecken, diese unsere Früchte? - Aber was geht das die Bäume an! Was geht das uns an, uns Philosophen! ... 3. Bei einer mir eigenen Bedenklichkeit, die ich ungern eingestehe, - sie bezieht sich nämlich auf die Moral, auf alles, was bisher auf Erden als Moral gefeiert worden ist -, einer Bedenklichkeit, welche in meinem Leben so früh, so unaufgefordert, so unaufhaltsam, so in Widerspruch gegen Umgebung, Alter, Beispiel, Herkunft auftrat, daß ich beinahe das Recht hätte, sie mein "A priori" zu nennen, - mußte meine Neugierde ebenso wie mein Verdacht bei Zeiten an der Frage Halt machen, welchen Ursprung eigentlich unser Gut und Böse hat. In der Tat ging mir bereits als dreizehnjährigen Knaben das Problem vom Ursprung des Bösen nach: ihm widmete ich, in einem Alter, wo man "halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen" hat, mein erstes literarisches Kinderspiel, meine erste philosophische Schreibübung - und was meine damalige "Lösung" des Problems anbetrifft, nun, so gab ich, wie es billig ist, Gott die Ehre und machte ihn zum Vater des Bösen. Wollte es gerade s o mein "A priori" von mir? jenes neue, unmoralische, mindestens immortalistische "A priori" und der aus ihm redende ach! so anti-kantische, so rätselhafte "kategorische Imperativ", dem ich inzwischen immer mehr Gehör und nicht nur Gehör geschenkt habe? ... Glücklicherweise lernte ich bei Zeiten das theologische Vorurteil vom moralischen abscheiden und suchte nicht mehr den Ursprung des Bösen hinter der Welt. Etwas historische und philologische Schulung, eingerechnet ein angeborener wählerische Sinn im Hinblick auf psychologische Fragen überhaupt, verwandelte in Kürze mein Problem in das andere: unter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werturteile gut und böse? und welchen Wert haben sie selbst? Hemmten oder förderten sie bisher das menschliche Gedeihen? Sind sie ein Zeichen für Notstand, von Verarmung, von Entartung des Lebens? Oder umgekehrt, verrät sich in ihnen die Fülle, die Kraft, der Wille des Lebens, sein Mut, seine Zuversicht, seine Zukunft? - Darauf fand und wagte ich bei mir mancherlei Antworten, ich unterschied Zeiten, Völker, Ranggrade der Individuen, ich spezialisierte mein Problem, aus den Antworten wurden neue Fragen, Forschungen, Vermutungen, Wahrscheinlichkeiten: bis ich endlich ein eigenes Land, einen eigenen Boden hatte, eine ganz verschwiegene wachsende blühende Welt, heimliche Gärten gleichsam, von denen niemand etwas ahnen durfte ... Oh wie wir glücklich sind, wir Erkennenden, vorausgesetzt daß wir nur lange genug zu schweigen wissen! ... 4. Den ersten Anstoß, von meinen Hypothesen über den Ursprung der Moral etwas zu verlautbaren, gab mir ein klares, sauberes und kluges, auch altkluges Büchlein, in welchem mir eine umgekehrte und perverse Art von genealogischen Hypothesen, ihre eigentlich englische Art, zum ersten Mal deutlich entgegentrat, und das mich anzog - mich jener Anziehungskraft, alles Entgegengesetzte, alles Antipodische hat. Der Titel des Büchleins war "Der Ursprung der moralischen Empfindungen"; sein Verfasser Dr. PAUL RÉE; das Jahr seines Erscheinens 1877. Vielleicht habe ich niemals etwas gelesen, zu dem ich dermaßen, Satz für Satz, Schluß für Schluß, bei mir Nein gesagt hätte wie zu diesem Buch: doch ganz ohne Verdruß und Ungeduld. In dem vorher bezeichneten Werk, an dem ich damals arbeitete, nahm ich gelegentlich und ungelegentlich auf die Sätze jenes Buchs Bezug, nicht indem ich sie widerlegte - was habe ich mit Widerlegungen zu schaffen! - sondern, wie es einem positiven Geist zukommt, anstelle des Unwahrscheinlichen das Wahrscheinlichere setzend, unter Umständen anstelle eines Irrtums einen andern. Damals brachte ich, wie gesagt, zum ersten Mal jene Herkunfts-Hypothesen ans Tageslicht, denen diese Abhandlungen gewidmet sind, mit Ungeschick, wie ich mir selbst am letzten verbergen möchte, noch unfrei, noch ohne eine eigene Sprache für diese eigenen Dinge und mit mancherlei Rückfälligkeit und Schwankung. Im Einzelnen vergleiche man, was ich Menschliches, Allzumenschliches (Seite 68) über die doppelte Vorgeschichte von Gut und Böse sage (nämlich aus der Sphäre der Vornehmen und der der Sklaven); desgleichen Seite 141f über Wert und Herkunft der asketischen Moral; desgleichen Seite 78, 82 und II, 35 über die "Sittlichkeit der Sitte", jene viel ältere und ursprünglichere Art Moral welche toto coelo [völlig - wp] von der altruistischen Wertungsweise abliegt (in der Dr. RÉE, gleich allen englischen Moralgenealogen, die moralische Wertungsweise ansich sieht); desgleichen Seite 74 Wanderer, Seite 29 Morgenröte, Seite 99 über die Herkunft der Gerechtigkeit als eines Ausgleichs zwischen ungefähr Gleich-Mächtigen (Gleichgewicht als Voraussetzung aller Verträge, folglich allen Rechts); desgleichen über die Herkunft der Strafe (Wanderer, Seite 25 und 34, für die der terroristische Zweck weder essentiell, noch ursprünglich ist (wie Dr. RÉE meint: - er ist ihr vielmehr erst eingelegt, unter bestimmten Umständen, und immer als ein Nebenbei, als etwas Hinzukommendes). 5. Im Grunde lag mir gerade damals etwas viel Wichtigeres am Herzen als eigenes oder fremdes Hypothesenwesen über den Ursprung der Moral (oder, genauer: letzteres allein um eines Zweckes willen, zu dem es eins unter vielen Mitteln ist). Es handelte sich für mich um den Wert der Moral, - und darüber hatte ich mich fast allein mit meinem großen Lehren SCHOPENHAUER auseinanderzusetzen, an den sich wie an einen Gegenwärtigen jenes Buch, die Leidenschaft und der geheime Widerspruch jenes Buch wendet (- denn auch jenes Buch war eine "Streitschrift"). Es handelte sich in Sonderheit um den Wert des "Unegoistischen", der Mitleids-, Selbstverleugnungs-, Selbstopferungs-Instinkte, welche gerade SCHOPENHAUER so lange vergoldet, vergöttlicht und verjenseitigt hatte, bis sie ihm schließlich als die "Werte ansich" übrig blieben, aufgrund deren er zum Leben, auch zu sich selbst, Nein sagte. Aber gerade gegen diese Instinkte redete aus mir ein immer grundsätzlicherer Argwohn, eine immer tiefer grabende Skepsis! Gerade hier sah ich die große Gefahr der Menschheit, ihre sublimste Lockung und Verführung - wohin doch? ins Nichts? - gerade hier sah ich den Anfang vom Ende, das Stehenbleiben, die zurückblickende Müdigkeit, den Willen gegen das Leben sich wendend, die letzte Krankheit sich zärtlich und schwermütig ankündigend: ich verstand die immer mehr um sich greifende Mitleids-Moral, welche selbst die Philosophen ergriff und krank machte, als das unheimlichste Symptom unserer unheimlich gewordenen europäischen Kultur, als ihren Umweg zu einem neuen Buddhismus? zu einem Europäer-Buddhismus? zum - Nihilismus? ... Diese moderne Philosophen-Bevorzugung und Überschätzung des Mitleidens ist nämlich etwas Neues: gerade über den Unwert des Mitleidens waren bisher die Philosophen übereingekommen. Ich nenne nur PLATO, SPINOZA, La ROCHEFOUCAULD und KANT, vier Geister so verschieden voneinander wie möglich, aber in einem Eins: in der Geringschätzung des Mitleidens. - 6. Dieses Problem vom Wert des Mitleids und der Mitleidsmoral (- ich bin ein Gegner der schändlichen modernen Gefühlsverweichlichung -) scheint zunächst nur etwas Vereinzeltes, ein Fragezeichen für sich; wer aber einmal hier hängen bleibt, hier fragen lernt, dem wird es gehen, wie es mir ergangen ist: - eine ungeheure neue Aussicht tut sich ihm auf, eine Möglichkeit faßt ihn wie ein Schwindel, jede Art Mißtrauen, Argwohn, Furcht springt hervor, der Glaube an die Moral, an alle Moral wankt, - endlich wird eine neue Forderung laut. Sprechen wir sie aus, diese neue Forderung: wir haben eine Kritik der moralischen Werte nötig, der Wert dieser Werte ist selbst erst einmal in Frage zu stellen - und dazu tut eine Kenntnis der Bedingungen und Umstände not, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben (Moral als Folge, als Symptom, als Maske, als Tartüfferie [Heuchelei - wp], als Krankheit, als Mißverständnis; aber auch Moral als Ursache, als Heilmittel, als Stimulans, als Hemmung, als Gift), wie eine solche Kenntnis weder bis jetzt da war, noch auch nur begehrt worden ist. Man nahm den Wert dieser "Werte" als gegeben, als tatsächlich, als jenseits aller In-Frage-Stellung; man hat bisher auch nicht im Entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, "den Guten" für höherwertig als "den Bösen" anzusetzen, höherwertig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit im Hinblick auf den Menschen überhaupt (die Zukunft des Menschen eingerechnet). Wie? wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre? Wie? wenn im "Guten" auch ein Rückgangssymptom läge, desgleichen eine Gefahr, eine Verführung, ein Gift, ein Narcoticum, durch das etwa die Gegenwart auf Kosten der Zukunft lebte? Vielleicht behaglicher, ungefährlicher, aber auch in kleinerem Stil, niedriger? ... So daß gerade die Moral daran Schuld wäre, wenn eine ansich mögliche höchste Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch niemals erreicht würde? So daß gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre? ... 7. Genug, daß ich selbst, seitdem sich mir dieser Ausblick öffnete, Gründe hatte, mich nach gelehrten, kühnen und arbeitsamen Genossen umzusehen (ich tue es heute noch). Es gilt, das ungeheure, ferne und so versteckte Land der Moral - der wirklich dagewesenen, wirklich gelebten Moral - mit lauter neuen Fragen und gleichsam mit neuen Augen zu bereisen: und heißt dies nicht beinahe so viel wie dieses Land erst entdecken? ... Wenn ich dabei, unter Anderen, auch an den genannten Dr. RÉE dachte, so geschah es, so geschah es, weil ich gar nicht zweifelte, daß er von der Natur seiner Fragen selbst auf eine richtigere Methodik, um zu Antworten zu gelangen, gedrängt werden würde. Habe ich mich darin betrogen? Mein Wunsch war es jedenfalls, einem so scharfen und unbeteiligten Auge eine bessere Richtung, die Richtung zur wirklichen Historie der Moral zu geben und ihn vor einem solchen englischen Hypothesenwesen ins Blaue noch zur rechten Zeit zu warnen. Es liegt ja auf der Hand, welche Farbe für einen Moral-Genealogen hundert Mal wichtiger sein muß als gerade das Blaue: nämlich das Graue, will sagen, das Urkundliche, das Wirklich-Feststellbare, das Wirklich-Dagewesene, kurz: die ganze lange, schwer zu entziffernde Hieroglyphenschrift der menschlichen Moral-Vergangenheit! - Diese war dem Dr. RÉE unbekannt; aber er hatte DARWIN gelesen: - und so reichen sich in seinen Hypothesen auf eine Weise, die zumindest unterhaltend ist, die DARWINsche Bestie und der allermodernste bescheidene Moral-Zärtling, der "nicht mehr beißt", artig die Hand, letzterer mit dem Ausdruck einer gewissen gutmütigen und feinen Indolenz im Gesicht, in die selbst ein Gran von Pessimismus, von Ermüdung eingemischt ist: als ob es sich eigentlich gar nicht lohnt, alle diese Dinge - die Probleme der Moral - so ernst zu nehmen. Mir nun scheint es umgekehrt gar keine Dinge zu geben, die es mehr lohnten, daß man sie ernst nimmt; zu welchem Lohn es zum Beispiel gehört, daß man eines Tages vielleicht die Erlaubnis erhält, sie heiter zu nehmen. Die Heiterkeit nämlich oder, um es in meiner Sprache zu sagen, die fröhliche Wissenschaft - ist ein Lohn: ein Lohn für einen langen, tapferen, arbeitsamen und unterirdischen Ernst, der freilich nicht jedermanns Sache ist. An dem Tage aber, wo wir aus vollem Herzen sagen: "vorwärts! auch unsere alte Moral gehört in die Komödie!" haben wir für das dionysische Drama vom "Schicksal der Seele" eine neue Verwicklung und Möglichkeit entdeckt - und er wird sie sich schon zunutze machen, darauf darf man wetten, er, der große alte ewige Komödiendichter unseres Daseins! ... 8. - Wenn diese Schrift irgendjemandem unverständlich ist und schlecht zu Ohren geht, so liegt die Schuld, wie mich dünkt, nicht notwendig an mir. Sie ist deutlich genug, vorausgesetzt, was ich voraussetze, daß man zuerst meine früheren Schriften gelesen und einige Mühe dabei nicht gespart hat: diese sind in der Tat nicht leicht zugänglich. Was zum Beispiel meinen "Zarathustra" anbetrifft, so lasse ich niemanden als dessen Kenner gelten, den nicht jedes seiner Worte irgendwann einmal tief verwundet und irgendwann einmal tief entzückt hat: erst dann nämlich darf er des Vorrechts genießen, an dem halkyonischen Element, aus dem jenes Werk geboren ist, an seiner sonnigen Helle, Ferne, Weite und Gewißheit ehrfürchtig Anteil zu haben. In anderen Fällen macht die aphoristische Form Schwierigkeit: sie liegt darin, daß man diese Form heute nicht schwer genug nimmt. Ein Aphorismus, rechtschaffen geprägt und ausgegossen, ist damit, daß er abgelesen ist, noch nicht "entziffert"; vielmehr hat nun erst dessen Auslegung zu beginnen, zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf. Ich habe in der dritten Abhandlung dieses Buchs ein Muster von dem dargeboten, was ich in einem solchen Fall "Auslegung" nenne: - dieser Abhandlung ist ein Aphorismus vorangestellt, sie selbst ist dessen Kommentar. Freilich tut, um dergestalt das Lesen als Kunst zu üben, Eins vor allem not, was heutzutage gerade am besten verlernt worden ist - und darum hat es noch Zeit bis zur "Lesbarkeit" meiner Schriften -, zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls nicht "moderner Mensch" sein muß: das Wiederkäuen ... Sils-Maria, Oberengadin im Juli 1887 |