WindelbandSchopenhauerH. CorneliusNietzsche | ||||
(1788-1860) Über das Fundament der Moral
Nicht besser steht es mit dem "absoluten Wert", der solchem angeblichen, aber undenkbaren Zweck an sich zukommen soll. Denn auch diesen muß ich, ohne Gnade, als contradictio in adjecto stempeln. Jeder Wert ist eine Vergleichsgröße und er steht sogar in doppelter Relation: denn erstens ist er relativ, indem er für jemanden ist, und zweitens ist er komparativ, indem er im Vergleich mit etwas anderem, wonach er geschätzt wird, ist. Aus diesen zwei Relationen hinausgesetzt, verliert der Begriff Wert allen Sinn und Bedeutung. Dies ist zu klar, als daß es noch einer weiteren Auseinandersetzung bedürfte. Wie nun jene zwei Definitionen die Logik beleidigen, so beleidigt die echte Moral der Satz (Seite 65), daß die vernunftlosen Wesen (also die Tiere) Sachen wären und daher auch bloß als Mittel, die nicht zugleich Zweck sind, behandelt werden dürften. In Übereinstimmung hiermit wird, in den "Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre", § 16, ausdrücklich gesagt: "Der Mensch kann keine Pflicht gegen irgendein Wesen haben, als bloß gegen den Menschen"; und dann heißt es § 17: "Die grausame Behandlung der Tiere ist der Pflicht des Menschen gegen sich selbst entgegen; weil sie das Mitgefühl an ihrem Leiden im Menschen abstumpft, wodurch eine der Moralität im Verhältnis zu anderen Menschen sehr diensame, natürliche Anlage geschwächt wird." Also bloß zur Übung soll man mit Tieren Mitleid haben und sie sind gleichsam das pathologische Phantom zur Übung des Mitleids mit Menschen. Ich finde, mit dem ganzen nicht-islamisierten (d. h. nicht-judaisierten) Asien, solche Sätze empörend und abscheulich. Zugleich zeigt sich hier abermals, wie gänzlich diese philosophische Moral, die, wie oben dargelegt, nur eine verkleidete theologische ist, eigentlich von der biblischen abhängt. Weil nämlich (wovon weiterhin) die christliche Moral die Tiere nicht berücksichtigt; so sind diese sofort auch in der philosophischen Moral vogelfrei, sind bloße "Sachen", bloße Mittel zu beliebigen Zwecken, als etwa zu Vivisektionen, Parforcejagden, Stierkämpfen, Wettrennen, zu Tode peitschen vor dem unbeweglichen Steinkarren und dgl. - Pfui! über eine solche Parias-, Tschandalas- und Mlekhas-Moral, - die das ewige Wesen verkennt, welches in allem, was Leben hat, da ist und aus allen Augen, die das Sonnenlicht sehen, mit unergründlicher Bedeutsamkeit hervorleuchtet. Aber jene Moral kennt und berücksichtigt allein die eigene werte Spezies, deren Merkmal Vernunft ihr die Bedingung ist, unter welcher ein Wesen Gegenstand moralischer Berücksichtigung sein kann. Auf so holprigem Wege, ja, per fas et nefas [mit erlaubten und unerlaubten Mitteln - wp], gelangt dann KANT zum zweiten Ausdruck des Grundprinzips seiner Ethik: "Handle so, daß Du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest." Auf sehr künstliche Weise und durch einen weiten Umweg ist hiermit gesagt: "Berücksichtige nicht Dich allein, sondern auch die andern:" und dieses wiederum ist eine Umschreibung des Satzes "Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris" [Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu. - wp], welcher, wie gesagt, selbst wieder nur die Prämissen enthält zu der Konklusion, die der letzte wahre Zielpunkt aller Moral und allen Moralisierens ist: "Neminem laede, imo omnes, quantum potes, juva": welcher Satz, wie alles Schöne, sich nackt am besten ausnimmt. - Nur sind in jene zweite Moralformel KANTs die angeblichen Selbstpflichten, absichtlich und schwerfällig genug, mit hineingezogen. Über diese habe ich mich oben erklärt. Einzuwenden wäre übrigens gegen jene Formel, daß der hinzurichtende Verbrecher und zwar mit Fug und Recht, allein als Mittel und nicht als Zweck behandelt wird, nämlich als unerläßliches Mittel, dem Gesetz, durch seine Erfüllung, die Kraft abzuschrecken zu erhalten, als worin dessen Zweck besteht. Wenn nun gleich diese zweite Formel KANTs weder für die Begründung der Moral etwas leistet, noch auch für den adäquaten und unmittelbaren Ausdruck ihrer Vorschriften - oberstes Prinzip - gelten kann; so hat sie andererseits das Verdienst, ein feines psychologisch-moralisches Apercu [geistreiche Bemerkung - wp] zu enthalten, indem sie den Egoismus durch ein höchst charakteristisches Merkmal bezeichnet, welches wohl verdient, hier näher entwickelt zu werden. Dieser Egoismus nämlich, von dem wir alle strotzen und welchen als unsere partie honteuse [Schambereich - wp] zu verstecken, wir die Höflichkeit erfunden haben, guckt aus allen ihm übergeworfenen Schleiern meistens dadurch hervor, daß wir in jedem, der uns vorkommt, wie instinktmäßig, zunächst nur ein mögliches Mittel zu irgendeinem unserer stets zahlreichen Zwecke zu suchen. Bei jeder neuen Bekanntschaft ist meistens unser erster Gedanke, ob der Mann uns nicht zu irgendetwas nützlich werden könnte: wenn er dies nun nicht kann; so ist er den Meisten, sobald sie sich hiervon überzeugt haben, auch selbst nichts. In jedem andern ein mögliches Mittel zu unseren Zwecken, also ein Werkzeug zu suchen, liegt beinahe schon in der Natur des menschlichen Blicks: ob nun aber etwa das Werkzeug beim Gebrauch mehr oder weniger zu leiden haben werde, ist ein Gedanke, der viel später und oft gar nicht nachkommt. Daß wir diese Sinnesart bei andern voraussetzen, zeigt sich an mancherlei, z. B. daran, daß wenn wir von jemandem Auskunft oder Rat verlangen, wir alles Vertrauen zu seinen Aussagen verlieren, sobald wir entdecken, daß er irgendein, wenn auch nur kleines oder entferntes Interesse bei der Sache haben könnte. Denn da setzen wir sogleich voraus, er werde uns zum Mittel seiner Zwecke machen und seinen Rat daher nicht seiner Einsicht, sondern seiner Absicht gemäß erteilen; selbst wenn jene auch noch so groß und diese noch so klein sein sollte. Denn wir wissen nur zu wohl, daß eine Kubiklinie Absicht mehr wiegt, als eine Kubikrute Einsicht. Andererseits wird in einem solchen Fall, bei unserer Frage: "Was soll ich tun?" dem andern oft gar nichts anderes einfallen, als was wir seinen Zwecken gemäß zu tun hätten: dieses also wird er alsdann, ohne an unsere Zwecke auch nur zu denken, sogleich und wie mechanisch antworten, indem sein Wille unmittelbar die Antwort diktiert, ehe nur die Frage zum Forum seines wirklichen Urteils gelangen konnte und er uns also seinen Zwecken gemäß zu lenken sucht, ohne sich dessen auch nur bewußt zu werden, sondern selbst vermeinend aus Einsicht zu reden, während aus ihm nur die Absicht redet; ja, er kann hierin so weit gehen, ganz eigentlich zu lügen, ohne es selbst zu merken. So überwiegend ist der Einfluß des Willens über den der Erkenntnis. Demzufolge ist darüber, ob einer aus Einsicht oder aus Absicht redet, nicht einmal das Zeugnis seines eigenen Bewußtseins gültig, meistens aber das seines Interesses. Einen anderen Fall zu nehmen: wer von Feinden verfolgt, in Todesangst, einen ihm begegnenden Tabuletkrämer nach einem Seitenweg frägt, kann erleben, daß dieser ihm die Frage entgegnet: "Ob er von seiner Ware nichts brauchen könne?" - Damit soll nicht gesagt sein, daß es sich stets so verhalte: vielmehr wird allerdings mancher Mensch am Wohl und Wehe des andern unmittelbar wirklichen Anteil nehmen oder in KANTs Sprache, ihn als Zweck und nicht als Mittel ansehen. Wie nahe oder fern nun aber jedem Einzelnen der Gedanke liegt, den andern, statt wie gewöhnlich als Mittel einmal als Zweck zu betrachten - das ist das Maß der großen ethischen Verschiedenheit der Charakteres: und worauf es hiherbei in letzter Instanz ankomme, - das wird eben das wahre Fundament der Ethik sein, zu welchem ich erst im folgenden Teil schreite. KANT hat also, in seiner zweiten Formel, den Egoismus und dessen Gegenteil durch ein höchst charakteristisches Merkmal bezeichnet; welchen Glanzpunkt ich umso lieber hervorgehoben und durch Erläuterung in helles Licht gestellt habe, als ich im Übrigen von der Grundlage seiner Ethik leider nur wenig gelten lassen kann. Die dritte und letzte Form, in der KANT sein Moralprinzip aufgestellt hat, ist die Autonomie des Willens: "Der Wille jedes vernünftigen Wesens ist allgemein gesetzgebend für alle vernünftigen Wesen." Dies folgt freilich aus der ersten Form. Aus der gegenwärtigen soll nun aber (laut Seite 71) hervorgehen, daß das spezifische Unterscheidungszeichen des kategorischen Imperativs dieses sei, daß beim Wollen aus Pflicht sich der Wille von allem Interesse lossage. Alle früheren Moralprinzipien wären deshalb verunglückt, "weil sie den Handlungen immer, sei es als Zwang oder Reiz, ein Interesse zu Grunde legten, dies mochte nun ein eigenes oder ein fremdes Interesse sein". (Seite 73) (auch ein fremdes, welches ich wohl zu merken bitte). "Hingegen ein allgemein gesetzgebender Wille schreibe Handlungen aus Pflicht vor, die sich auf gar kein Interesse gründen." Jetzt aber bitte ich zu bedenken, was das eigentlich sagen will: in der Tat nichts Geringeres, als ein Wollen ohne Motiv, also eine Wirkung ohne Ursache. Interesse und Motiv sind Wechselbegriffe: heißt nicht Interesse quod mea interest, woran mir gelegen ist? Und ist das nicht überhaupt alles, was meinen Willen anregt und bewegt? Was ist folglich ein Interesse anderes, als die Einwirkung eines Motivs auf den Willen? Wo also ein Motiv den Willen bewegt, da hat er ein Interesse: wo ihn aber kein Motiv bewegt, da kann er wahrlich so wenig handeln, als ein Stein ohne Anstoß oder Zug von der Stelle kann. Dies werde ich gelehrten Lesern doch nir erst zu demonstrieren brauchen. Hieraus aber folgt, daß jede Handlung, da sie notwendig ein Motiv haben muß, auch notwendig ein Interesse voraussetzt. KANT aber stellt eine zweite, ganz neue Art von Handlungen auf, welche ohne alles Interesse, d. h. ohne Motiv vor sich gehen. Und dies sollten die Handlungen der Gerechtigkeit und Menschenliebe sein! Zur Widerlegung dieser monströsen Annahme bedurfte es nur der Zurückführung derselben auf ihren eigentlichen Sinn, der durch das Spiel mit dem Wort Interesse versteckt war. Inzwischen feiert KANT (Seite 74f) den Triumph seiner Autonomie des Willens, in der Aufstellung eines moralischen Utopias, unter dem Namen eines Reichs der Zwecke, welches bevölkert ist von lauter vernünftigen Wesen in abstracto, die samt und sonders beständig wollen, ohne irgend etwas zu wollen (d. h. ohne Interesse): nur dieses eine wollen sie: daß alle stets nach einer Maxime wollen (d. h. Autonomie). Difficile est, satiram non scribere. [Es ist schwierig, keine Satire darüber zu schreiben. - wp] Aber noch auf etwas anderes, von beschwerlicheren Folgen, als dieses kleine unschuldige Reich der Zwecke, welches man, als vollkommen harmlos, ruhig liegen lassen kann, leitet KANTEN seine Autonomie des Willens, nämlich auf den Begriff der Würde des Menschen. Diese nämlich beruth bloß auf dessen Autonomie und besteht darin, daß das Gesetz, dem er folgen soll, von ihm selbst gegeben ist, - also er zu demselben in dem Verhältnis steht, wie die konstitutionellen Untertanen zu dem ihrigen. Das möchte als Ausschmückung des Kantischen Moralsystems immerhin dastehen. Allein dieser Ausdruck "Würde des Menschen", einmal von KANT ausgesprochen, wurde nachher das Schiboleth [Erkennungszeichen - wp] aller rat- und gedankenlosen Moralisten, die ihren Mangel an einer wirklichen oder wenigstens doch irgendetwas sagenden Grundlage der Moral hinter jenen imponierenden Ausdruck "Würde des Menschen" versteckten, klug darauf rechnend, daß auch ihr Leser sich gern mit einer solchen Würde angetan sehen und demnach damit zufrieden gestellt sein würde. (1) Wir wollen jedoch auch diesen Begriff etwas näher untersuchen und auf Realität prüfen. KANT hat (Seite 79) Würde definiert als "einen unbedingten, unvergleichbaren Wert". Dies ist eine Erklärung, die durch ihren erhabenen Klang dermaßen imponiert, daß nicht leicht einer sich untersteht, heranzutreten, um sie in der Nähe zu untersuchen, wo er dann finden würde, daß eben auch sie nur eine hohle Hyperbel ist, in deren Innerem, als nagender Wurmd die contradiction in adjecto nistet. Jeder Wert ist die Schätzung einer Sache im Vergleich mit einer anderen, also ein Vergleichsbegriff, mithin relativ und diese Relativität macht eben das Wesen des Begriffs Wert aus. Ein unvergleichbarer, unbedingter, absoluter Wert, dergleichen die Würde sein soll, ist demnach, wie so vieles in der Philosophie, die mit Worten gestellte Aufgabe zu einem Gedanken, der sich gar nicht denken läßt, so wenig wie die höchste Zahl oder der größte Raum.
Da stellt ein Wort zu rechter Zeit sich ein." Am Schluß seiner Darstellung (Seite 124) sagt KANT:
Wenn man das zusammenfaßt, so könnte man wirklich auf den Verdacht geraten, KANT habe seine Leser zum Besten gehalten. Wenn nun gleich dieses, dem heutigen Deutschen philosophischen Publikum gegenüber, wohl erlaubt und recht sein möchte; so hatte doch dasselbe sich zu KANTs Zeiten noch nicht so, wie seitdem, signalisiert: und außerdem war gerade die Ethik das am wenigsten zum Scherz geeignete Thema. Wir müssen also bei der Überzeugung stehen bleiben, daß, was weder als möglich begriffen, noch als wirklich nachgewiesen werden kann, keine Beglaubigung seines Daseins hat. Wenn wir nun aber auch nur versuchen, es bloß mittels der Phantasie zu erfassen und uns einen Menschen vorzustellen, dessen Gemütz von einem in lauter kategorischen Imperativen redenden absoluten Soll, wie von einem Dämon besessen wäre, der, den Neigungen und Wünschen desselben entgegen, dessen Handlungen beständig zu lenken verlangte; - so erblicken wir hierin kein richtiges Bild der Natur des Menschen oder der Vorgänge unseres Innern: wohl aber erkennen wir ein erkünsteltes Substitut der theologischen Moral, zu welcher es sich verhält, wie ein hölzernes Bein zu einem lebendigen. Unser Resultat ist also, daß die Kantische Ethik, so gut wie alle früheren, jedes sicheren Fundaments entbehrt. Sie ist, wie ich durch die gleich Anfangs angestellte Prüfung ihrer imperativen Form gezeigt habe, im Grunde nur eine Umkehrung der theologischen Moralund eine Vermummung derselben in sehr abstrakte und scheinbar a priori gefundene Formeln. Diese Vermummumg mußte umso künstlicher und unkenntlicher sein, als KANT dabei zuverlässig sogar sich selber täuschte und wirklich vermeinte, die offenbar nur in der theologischen Moral einen Sinn habenden Begriffe des Pflichtgebots und des Gesetzes unabhängig von aller Theologie feststelen und auf reine Erkenntnis a priori gründen zu können: wogegen ich genugsam nachgewiesen habe, daß jene Begriffe bei ihm, jedes realen Fundaments entbehrend frei in der Luft schweben. Unter seinen eigenen Händen entschleiert sich dann auch gegen das Ende dei verlarvte theologische Moral, in der Lehre vom höchsten Gut, in den Postulaten der praktischen Vernunft und endlich in der Moraltheologie. Doch hat alles dieses weder ihn noch das Publikum über den wahren Zusammenhang der Sache enttäuscht: vielmehr freuten beide sich, alle diese Glaubensartikel jetzt durch die Ethik (wenngleich nur idealiter und für einen praktischen Zweck) begründet zu sehen. Denn sie nahmen treuherzig die Folge für den Grund und den Grund für die Folge, indem sie nicht sahen, daß jener Ethik alle diese angeblichen Folgerungen aus ihr schon als stillschweigende und versteckte, aber unumgänglich nötige Voraussetzungen zugrunde lagen. Wenn mir jetzt, am Schluß dieser scharfen und selbst den Leser anstrengenden Untersuchung, zur Aufheiterung, ein scherzhaftes, ja, frivoles Gleichnis gestattet sein sollte; so würde ich KANTEN, in jener Selbstmystifikation, mit einem Mann vergleichen, der, auf einem Maskenball, den ganzen Abend mit einer maskierten Schönheit buhlt, im Wahn, eine Eroberung zu machen; bis sie sich am Ende entlarvt und zu erkennen gibt - als seine Frau. |