tb-1p-4cr-2L. NelsonO. MeyerhofFriesK. M. Pöschmann    
 
ALFRED KASTIL
Jakob Friedrich Fries' Lehre
von der unmittelbaren Erkenntnis

[ 2 / 4 ]

"Das Urteil hängt in zweifacher Weise vom Willen ab. Erstens, insofern es im Bereich unserer Willkür steht, welche Vorstellungen wir im Urteil miteinander verbinden. Und zweitens, weil wir nur insofern wahre Urteile fällen, als es in unserer Absicht liegt, nicht nur dieses oder jenes zu denken, sondern durch das Urteil zu erkennen. Erkenntnis durch Urteile ist nur dadurch möglich, daß wir erkennen wollen, setzt also in der Tat einen Willen zur Wahrheit als Bedingung ihrer Möglichkeit voraus."

"Mit der Ursprünglichkeit des in der Wahrnehmung involvierten Existentialurteils erscheint Reid dann ebenso wie dem ihm hierin durchaus verwandten Fries ihre Unfehlbarkeit gegeben. Sie gilt ihm nicht nur als unmittelbare Überzeugung, sondern als unmittelbares, fragloses Wissen."

"Wie für Fries wird auch für Brentano die Sinnesempfindung nicht erst durch irgendeine Bearbeitung zur Wahrnehmung. Ihre Materie ist eine einfache Anschauung und der Gegenstand der inneren Wahrnehmung nichts anderes als ein psychisches Phänomen, der Gegenstand der äußeren nichts anderes als ein physisches Phänomen, Ton, Geruch und dgl."



II. Kritischer Teil
1. Abschnitt:Kritik der Fries'schen Lehre von der
unmittelbaren Erkenntnis a posteriori


1. Kapitel
Von der Wahrnehmung. Ihre psychologische Unmittelbarkeit
gegenüber den mitteilbaren (sei es thetischen,
sei es prädikativen) Urteilen und Schlüssen

§ 5. Unsere erste Aufgabe soll es sein, uns in die FRIES'sche Psychologie des Wahrnehmens einen genaueren Einblick zu verschaffen. Welcher Klasse psychischer Betätigung ordnet er es zu? Ich glaube ihn richtig dahin zu verstehen, daß der Begriff der Wahrnehmung unter den allgemeineren des Erkennens und dieser wieder unter den noch allgemeineren des Vorstellens fällt.
    "Viele Tätigkeiten des Geistes, die zum Erkennen gehören", belehrt er uns (1), "sind noch keine Erkenntnisse; wenn ich ir nur ins Unbestimmte etwas Rotes, oder Mensch, Blatt denke, so sind dies noch keine Erkenntnisse, sondern nur Tätigkeiten des Geistes, die zum Erkennen angewendet werden können. Alle solche Affektionen oder Tätigkeiten des Geistes heißen im allgemeinen Vorstellungen. ... und Vorstellen macht den allgemeinsten Begriff aus, von dem hier die Rede sein kann."
Es gibt aber zwei Klassen von Vorstellungen:
    a) Vorstellungen, welche für sich noch keine Erkenntnisse sind. Es sind dies die sogenannten problematischen Vorstellungen.

    b) Vorstellungen, welche Erkenntnisse sind.
Beispiele machen den Gegensatz deutlich.
    "Zu meiner Erkenntnis eines bestimmten einzelnen Baumes gehört, daß er mir in der Anschauung gegeben ist, dann daß ich ihn anerkenne als einen Baum. ... Hier sind die einzelnen Anschauungen und Begriffe bloße Vorstellungen, das Ganze zusammen macht die Erkenntnis des Baumes aus. ... Der deutlichste Fall bloßer Vorstellungen, die nicht Erkenntnisse sind, sind bloße Bilder der Phantasie, mythologische Figuren, Dichtungen." (2)
Die Gattung ist also Vorstellen, die Spezies ist Erkennen. Worin liegt aber die spezifische Differenz, d. h. wie unterscheiden sich die Vorstellungen, welche Erkenntnisse sind, von denen, die es nicht sind? Durch ihren assertorischen Charakter, lautet die Antwort:
    "Erkenntnis ist die assertorische Vorstellung, durch welche eine Behauptung begründet wird. Daneben gibt es noch probleamtische Vorstellungen, in welchen nichts behauptet wird." (3)
Und zwar bezieht sich diese Assertion entweder auf das Dasein des Gegenstandes oder auf ein Gesetz, unter dem sein Dasein steht (4). Ersteres ist ohne Zweifel der Fall, wenn ich Gegenstände sehe oder höre, letzteres, wenn ich z. B. urteile: "Alle Körper sind schwer."
    "Ich sage damit zwar nicht, daß es Körper gibt, auch nicht, daß etwas Schweres da ist, aber ich erkenne, daß das Dasein von Körpern überhaupt unter dem Gesetz der Schwere stehe." (5)
Damit ist zugleich die sinnliche Wahrnehmung als ein assertorisches Vorstellen charakterisiert.
    "Daß die Wahrnehmung eine Erkenntnis ist" - bemerkt darum Nelson (6) ganz im Sinne von Fries - "das ist daraus ersichtlich, daß sie sich von bloßen Vorstellungen auf das Deutlichste durch den ihr eigentümlichen assertorischen Charakter unterscheidet. Bloße Erinnerungsbilder und Phantasievorstellungen sind problematisch und weder wahr noch falsch; Wahrnehmungen dagegen enthalten eine Assertion, wenngleich es nicht möglich ist, diese Assertion, wie beim Urteil, vom übrigen Gehalt der Wahrnehmung zu isolieren."
Nun wäre es offenbar übereilt und eine Verführung durch Homonymie [Gleichlaut des Wortes bei verschiedener Bedeutung - wp], wenn wir uns auf das hin schon der Unfehlbarkeit der Sinnesanschauung versichert dächten. Denn vorerst erkennen wir nicht mehr, als daß Wahrnehmung kein problematisches Vorstellen, d. h. keines, dem die Assertion fehlt, ist. Noch aber bleibt die Frage offen, ob sie nicht etwa eine problematische Assertion ist, d. h. eine solche, der es an unmittelbarer Gewißheit und Untrüglichkeit fehlt. Umso eifriger finden wir FRIES und seine Schüler bemüht, diese Lücke durch den Nachweis auszufüllen, daß jener assertorische Charakter der Wahrnehmung in einer Weise eignet, die ihn mit Fehlbarkeit durchaus unverträglich macht. Sie betonen nämlich einmütig die Unmittelbarkeit der Wahrnehmungsassertion und wollen damit, wenn ich recht verstehe, ein doppeltes zum Ausdruck bringen:

1. Zunächst soll durch diese Bestimmung dem Irrtum vorgebeugt werden, als wäre die Assertion hier ähnlich, wie etwa beim prädikativen Urteil, auf eine begriffliche Materie gerichtet. Treffend charakterisiert sie z. B. NELSON "als ein begrifflicher Vermittlung unabhängiges Bewußtsein". (8) Sie steht, meint er, als ein Akt des Vernehmens (nicht des Verstahens), d. h. eines unmittelbaren Auffassens von Gegenständen, frei von jeder begrifflichen Verarbeitung des Aufgefaßten, im Gegensatz zur Reflexions- oder Verstandeserkenntnis, nämlich zum Urteil. Von diesem aber bemerkt er, daß es seinen Gegenstand durch Begriff bestimmt.
    "Ohne Zweifel können wir das Einzelne durch Begriffe bestimmen, aber wir tun dies nur, wenn wir urteilen. Das Urteil aber ist stets eine mittelbare Erkenntnis, der eine unmittelbare Bestimmung des Gegenstandes schon vorhergehen muß. Der Begriff, durch den wir im Urteil erkennen, ist eine für sich problematische allgemeine Vorstellung. Diese allgemeine problematische Vorstellung kann zwar durch die Verbindung anderer ebenfalls allgemeiner und problematischer Vorstellungen gebildet sein; aber jede derartige synthetische Begriffsbildung (Determination) setzt in letzter Linie irgendwelche nicht wieder synthetisch gebildeten Begriffe als ursprüngliche Elemente der Determination voraus; und diese sind, wie die Selbstbeobachtung lehrt, durch Abstraktion aus irgendwelchen nicht allgemeinen und nicht problematischen, sondern individuellen und assertorischen Vorstellungen abgeleitet. Eine solche nicht allgemeine und nicht problematische Vorstellung ist die unmittelbare Erkenntnis, die man Anschauung [kant/weishaupt1] nennt." (9)
Indem NELSON hier die Wahrnehmung als Anschauung bezeichnet, entfernt er sich dem Umfang nach nicht allzuweit vom üblichen Sprachgebrauch der Psychologen. Denn anschaulich pflegen dieses solche Erkenntnisse zu nennen, deren Materie frei von aller Abstraktion und in diesem Sinne gänzlich unbearbeitet und ursprünglich ist. Doch ist es ebenso wenig seine, wie seines Lehrers FRIES Absicht, die Wahrnehmung durch dieses Prädikat von Seiten ihrer Materie zu charakterisieren. Mit anderen Worten: sie nennen zwar dieselben Akte mit dem gleichen Namen, wie andere Psychologen, aber dieser Name bedeutet bei ihnen einen anderen Begriff. Sie sprechen nämlich, wie ich schon in der Einleitung angedeutet habe, von Anschauungen im Gegensatz zu unbewußten ("dunklen") Vorstellungen und Erkenntnissen, indem sie solche zwar im allgemeinen annehmen, aber alle Wahrnehmungen "für unmittelbar bewußt" halten (10). Ich werde erst im zweiten Teil dieser Abhandlung auf diesen Punkt eingehen und vorläufig den Terminus Anschauung, wo ein Mißverständnis möglich scheint, vermeiden. Es stehen für das nichtbegriffliche Vorstellen ja auch andere zu Gebote. Handelt es sich doch um einen Unterschied unserer Vorstellungen, der seit jeher die Aufmerksamkeit der Psychologen und Erkenntnistheoretiker gefesselt hat.

LOCKE faßt ihn als den zwischen Vorstellungen, wobei sich unser Verstand rein passiv verhält (11) und solchen, die er begrifflich bearbeitet (was LOCKE für eine willkürliche Tätigkeit hält) (12). Jene bringt der Geist nicht hervor, ohne sein Zutun bieten sie sich ihm einfach dar, er kann sie ebensowenig modifizieren noch ablehnen, wie ein Stück geschliffenes Glas die Spiegelbildert (13). Solche Ideen nennt LOCKE einfach (simple ideas), im Gegensatz zu den zusammengesetzten (complex ideas), worunter er die - durch Synthesis, Relation und Abstraktion - bearbeiteten versteht (14). Der Engländer bewegt sich dabei im Wesentlichen durchaus auf dem Boden von DESCARTES und ist mit ihm auch darin einig, daß diese begrifflich unbearbeiteten Ideen ansich frei von Irrtum sind. Wahrheit und Irrtum tritt erst dort auf, wo für Affirmation - [Bejahung - wp] und Negation Platz ist (15). Diese aber, die Urteile, haben nie einfache, sondern stets zusammengesetzte Vorstellungen zur Materie.

FRIES, indem er das assertorische Moment in der Wahrnehmung betont, schüfe damit wohl Raum für die Möglichkeit des Irrtums, aber er hält ihn bei völlig unbearbeiteter Materie gleichwohl für ausgeschlossen, ohne daß es sofort ersichtlich wird, worin dieser ihr wertvoller Vorzug eigentlich begründet sein soll.

2. Doch vielleicht gibt uns darüber besser die zweite Bedeutung von "unmittelbar" Aufschluß. Sie ließe sich bestimmter durch das Wort "ursprünglich" ausdrücken. Und zwar erscheint der FRIES-Schule die Assertion im Wahrnehmungsakt dem bloßen Vorstellen gegenüber in einem doppelten Sinn als ursprünglich: Der Zeit nach und der Qualität nach.

a) Der Qualität nach. Das heißt, das Moment der Assertion ist ein elementares Datum unserer inneren Erfahrung, das eine Erklärung im Sinne einer Analyse gar nicht zuläßt. Insbesondere keine Ableitung aus bloßen Vorstellungen. Wer nur problematische Vorstellungen in sich erlebt hätte, dem wäre durch keinerlei Definition begreiflich zu machen, was das ist: Assertion. Sie ist eben, wie überhaupt das "Erkennen",
    "ein unmittelbares Erstes in der inneren Erfahrung, eine Qualität des inneren Sinnes, ebenso wie Farbe eine Qualität des äußeren Sinnes. Qualitäten lassen sich aber nicht erklären, nur anschauen. So wenig man definieren kann, was Farbe ist, ebensowenig kann man definieren, was Assertion ist. Was sie ist, weiß ein jeder nur aus seiner eigenen unmittelbaren inneren Erfahrung, d. h. aus der Anschauung des inneren Sinnes." (16)
Anstelle der Erklärung tritt bei solchen elementaren Daten
    "die bloße Exposition, die den Begriff nicht vor uns (durch Angabe seiner Merkmale) erstehen läßt, sondern voraussetzt, daß man ihn schon hat, und nur Tatsachen zusammenstellt, aus welchen man sich im Hinblick auf denselben orientieren kann, um ein Wort wenigstens in einer bestimmeren Bedeutung zu gebrauchen, als gewöhnlich geschieht." (17)
Wir sehen daraus, wie sehr z. B. einer fehlen würde, der, der gewöhnlichen Theorie folgend, die das Urteil als eine Kombination von Vorstellungen erklären will, die die Wahrnehmung für ein Urteil hält.

Nicht weniger als dieser Ableitungsversuch bewegen sich auch solche in Fiktionen, welche die eigentümliche Beziehung, in die wir als Erkennende zu den Gegenständen treten, als einen Spezialfall allgemeinerer Relationen, etwa des Kausalverhältnisses fassen, und so "etwas erklären" wollen, was als Phänomen sui generis [der Natur der Sache nach - wp] gar keine Erklärung gestattet.
    "So erklären Hume und andere die objektive Bedeutung unserer Vorstellungen dadurch, daß wir zur Empfindung in uns einen Grund der Affektion hinzudenken, als ob nicht schon in der Vorstellung "Grund" ebensowohl das objektive Verhältnis enthalten wäre und diese also der Erklärung ebensosehr bedarf, wie die sinnliche Anschauung." (18)
Auch schon bei LOCKE, und wiederum bei KANT und seinen Nachfolgern glaubt FRIES dieser verkehrten Subsumtion der Erkenntnisrelation unter die Kausalverhältnisse zu begegnen. Der Fehler aber ist überall ein und derselbe:
    "daß man überhaupt nur den Begriff des Erkennens einer weiteren Erklärung unterwerfen will, da er ein Unmittelbares und Erstes in der inneren Erfahrung ist." (19)
Ich werde auf FRIES' wertvolle Polemik gegen beliebte und leider auch heute immer noch im Umlauf befindliche fiktive Erklärungsversuch der Bewußtseinsbeziehung (20) später, in einem anderen Zusammenhang, noch einmal zurückkommen. Hier ist ein zweites Moment von größerem Interesse für uns:

b) Ursprünglich dem bloßen Vorstellen gegenüber ist die Wahrnehmungsassertion nämlich auch in einem zeitlichen Sinn.
    "Erst kommt die Wahrnehmung und dann die problematische Vorstellung aus dieser, aber nicht umgekehrt ... Unser Vorstellen fängt mit Erkennen an und alle problematischen Vorstellungen entwickeln sich erst aus der Erkenntnis nach dem Gesetz des Unbestimmtwerdens der Erinnerungen. Wir können also wohl ein Gesetz der Bildung der problematischen Vorstellungen aus der Erkenntnis aufweisen, aber es gibt umgekehrt kein Gesetz, nach welchem die Vorstellungen im Verlauf des Vorstellens objektiv würden",
heißt es bei APELT (21) und er will damit nichts anderes als die zeitliche Priorität der Wahrnehmungsassertion betonen. Denn er fährt fort:
    "Die Assertion oder die objektive Gültigkeit (22) ist also ursprünglich bei den Vorstellungen und verliert sich erst im Spiel der Assoziationen durch das Unbestimmtwerden der Erinnerungen von denselben."
Kurz, wie NELSON sagt:
    "In der sinnlichen Wahrnehmung liegen nicht verschiedene Vorstellungen, die schon vor der Wahrnehmung vorhanden waren und in der Wahrnehmung nur miteinander verbunden werden ... Und in der Wahrnehmung läßt sich nicht eine bloße Vorstellungsverbindung von einer zu dieser hinzutretenden Assertion unterscheiden." (23)
Hat es denn aber wirklich Psychologen gegeben, welche die Ursprünglichkeit der Wahrnehmungsassertion in diesem Sinne verkannt und ernsthaft gemeint haben, anfänglich sei unsere Sinnesanschauung bloß Empfindung und erst später geselle sich das assertorische Bewußtsein der Objektivität dazu?

Ja, lautet die Antwort, und beide, sowohl die ältere als auch die neue FRIES'sche Schule haben, indem sie solche Vorwürfe erheben, ganz bestimmte Psychologen im Auge.

§ 6. FRIES und APELT wenden sich dabei vorzugsweise gegen solche, welche die Wahrnehmung als ein durch Kausalschlüsse motiviertes Fürwahrhalten der Existenz der wahrgenommenen Gegenstände deuten. Der Fehler ist dem früher erwähnten so verwandt, daß ich nicht mit Bestimmtheit darüber urteilen möchte, ob nicht FRIES selbst (und noch wahrscheinlicher dünkt mir dies von APELT) beide identifiziert. Gleichwohl fallen sie sachlich auseinander.
    "Nehmen wir das Beispiel" - erläutert Fries diesen Fehler - ich sehe einen grünen Baum vor mir und gelange durch die Empfindung zur Erkenntnis desselben. Frage ich nun, wie dies zugeht, so erhalte ich nach gewöhnlicher Relation zur Antwort: der Baum affiziert mein Auge, dadurch erhalte ich die Empfindung des Grünen, und weil diese eine Ursache haben muß, so schließe ich auf den Baum als das Affizierende und als die Ursache jener Empfindung des Grünen. Manche setzen mit Fichte noch hinzu: und wenn ich den Baum grün oder den Zucker süß nenne, so ist dies ganz falsch ausgedrückt, wir selbst sind eigentlich das Grüne und Süße. Ich meine aber: Gott behüte uns vor einem süßen Gemüt, und behaupte, daß diese ganze Erzählung durchaus falsch ist. Der Baum ist grün und der Zucker süß, oder sonst niemand, und wenn ich den Baum anschaue, so sehe ich in der Empfindung unmittelbar etwas Grünes außerhalb von mir, ohne nach einer Ursache meiner Empfindung zu fragen." (24)
§ 7. Neuere Psychologen hat die moderne Friesschule im Auge, wenn sie bemüht ist, die zeitliche Priorität der Wahrnehmungsassertion vor dem bloß problematischen Vorstellen im Sinne ihres Meisters zu verteidigen. Während aber dieser vornehmlich in solchen Autoren Gegner seiner Auffassung erblickte, welche die Wahrnehmung für ein erschlossenes Urteil halten, findet NELSON und ihm folgend neuerdings auch MEYERHOF (25) die Ursprünglichkeit ihres assertorischen Charakters auch schon dort verkannt, wo die Wahrnehmung überhaupt als Urteil gilt. Auch dieser Zusammenhang wird leicht verständlich, sobald man nur auf gewisse Grundzüge der FRIES'schen Urteilslehre achtet. Tritt nämlich, im Unterschied zur Wahrnehmung, beim Urteil die Assertion als etwas Trennbares zur (begrifflichen) Vorstellungsverbindung hinzu (26), so ergibt sich daraus die Frage, wodurch denn das Auftreten und Unterbleiben bzw. der Wechsel der Assertion geregelt wird. Die Lösung erblickt FRIES, zum Teil wenigstens, in der Abhängigkeit des Urteils vom Willen, die ihm in doppelter Hinsicht gegeben scheint, indem der Wille [interesse] sowohl beim Zustandekommen der Urteilsmaterie, als auch bei dem des Urteilsakts selbst beteiligt sein soll.

a) In der ersten Beziehung heißt es schon in seiner kurzen Programmschrift "Die kritische Methode" (27):
    "Jedes Urteil ist ein Akt des Denkens oder der Reflexion und als solcher im Unterschied von der unwillkürlichen Verbindung der Vorstellungen durch Assoziation willkürlich gebildet. In diesem Umstand liegt die Möglichkeit des Irrtums und die Notwendigkeit der Begründung aller Urteile. Denn es fragt sich erst, ob die willkürliche Verbindung der Vorstellungen im Urteil der Regel der Wahrheit gemäß erfolgt ist, ob der Anspruch auf Wahrheit, der die Reflexion vor der Assoziation auszeichnet, zu Recht besteht."
b) Während hier aus dem willkürlichen Charakter der die Urteilsmaterie bildenden Vorstellungsverbindung gefolgert wird, weisen andere Bemerkungen daneben auch auf die Willkür des Assertionsaktes selber hin. So wenn es (28) heißt:
    "Das Urteil hängt in zweifacher Weise vom Willen ab. Erstens, insofern es im Bereich unserer Willkür steht, welche Vorstellungen wir im Urteil miteinander verbinden. Und zweitens, weil wir nur insofern wahre Urteile fällen, als es in unserer Absicht liegt, nicht nur dieses oder jenes zu denken, sondern durch das Urteil zu erkennen. Erkenntnis durch Urteile ist nur dadurch möglich, daß wir erkennen wollen, setzt also in der Tat einen Willen zur Wahrheit als Bedingung ihrer Möglichkeit voraus."
Auf die Willkürlichkeit des Urteils in beiden Beziehungen verweist NELSON u. a. auch bei Gelegenheit einer Polemik gegen RICKERTs Lehre vom "transzendenten Sollen" als erkenntnistheoretischem Kriterium. Er meint, was daran richtig ist, erschöpft sich in folgenden Tatsachen:
    "Zum Urteil gehört außer einer Verbindung von Vorstellungen noch eine zu dieser Vorstellungsverbindung hinzutretende Assertion. Diese Assertion ist es, die auf Wahrheit Anspruch erhebt, und nur sofern dieser Anspruch zu Recht besteht, erkennen wir durch das Urteil. Wir wir aber im Urteil die Vorstellungen verbinden, das hängt zunächst lediglich von unserer Willkür ab. Es muß also, wenn wir durch das Urteil erkennen wollen, irgendein Prinzip geben, durch das der Wille bestimmt wird, gewisse Vorstellungsverbindungen zu bevorzugen und unter allen möglichen Urteilen eine Einschränkung zu treffen, derart, daß den einen die Assertion zuerteil, den andern aber verweigert wird. " (29)
§ 8. Ob es sachlich gerechtfertigt ist, wenn die FRIES'sche Schule hier die bekannte scholastisch-cartesische Lehre (30), wonach jedes judicium [Urteil - wp] ein actus a voluntate imperatus [Akt mit gewollter Wirkung - wp] ist, erneut, und ob insbesondere die Folgerung, welche sie aus der Willkür des Urteils auf seine Begründungsbedürftigkeit zieht, stringent ist, das sind zwei Fragen, die uns an späterer Stelle noch ausführlich beschäftigen sollen. Hier kommt es nur darauf an, die in dieser Schule in letzter Zeit besonders energisch zum Ausdruck gekommene Überzeugung, daß sich die Ursprünglichkeit der Wahrnehmungsassertion nicht mit ihrem Urteilscharakter verträgt, verständlich zu machen. Allerdings fehlt es in der Geschichte der neueren Psychologie nicht an Beispielen, welche geeignet scheinen, dieser Überzeugung ein Fragezeichen anzuheften. Und seltsamerweise ist in diesem Zusammenhang sogar in erster Linie auf einen Philosophen hinzuweisen, der, soweit bei einem Vorgänger KANTs hiervon überhaupt die Rede sein kann, zu den Geistesverwandten von FRIES zählt. Ich meine den Schotten THOMAS REID. Bei diesem finden wir nun Stück für Stück die FRIES'sche Wahrnehmungstheorie vorgebildet und gleichwohl die Wahrnehmung als Urteil klassifiert. Auch REID hat nämlich klar erkannt, daß sich Wahrnehmen vom bloßen Vorstellen durch das Moment der Überzeugung, - er nennt es "conviction", - das ursprünglich und unablösbar in jedem Wahrnehmungsakt eingeschlossen ist, unterscheidet (31).

An der Sinneswahrnehmung, erklärt REID, ist dasjenige, was man Empfindung nennt, keineswegs die einzige Bestimmtheit. Sie hat vielmehr zugleich den Charakter einer unmittelbaren Überzeugung von der Existenz der wahrgenommenen Eigenschaft sei es nun Farbe oder Ton oder Gestalt. (32)
    "Es schließt sich unmittelbar an die Empfindung die Gewißheit an von einem außerhalb von uns existierenden Gegenständlichen, und bei jeder Sinnesempfindung sind wir uns der Präsenz eines solchen gewiß. Dieses Übergehen von der bloß subjektiven Empfindung zu einem gegenständlichen Bewußtsein ist nicht das Resultat einer Folgerung (inferring) oder eines Schlusses (reasoning) sondern unmittelbar gibt (suggests) uns die Empfindung eine solche Gewißheit. Dieses Übergehen ist ebensowenig ein Produkt der Gewohnheit, sondern es ist ursprünglich, instinktartig." (33)
Man sieht schon, REID verkennt die von FRIES verfochtene "Unmittelbarkeit der Wahrnehmungsassertion" nicht im Entferntesten. Gleichwohl nimmt er keinen Abstand, die Sinneswahrnehmung - und zwar gerade mit Rücksicht auf die darin beschlossene conviction - als Urteil (judgement) oder Glauben (belief) zu bezeichnen (34). Speziell gilt ihm die Wahrnehmung als Existentialurteil, das sich unmittelbar auf äußere Gegenstände - und zwar zum Unterschied vom Gedächtnisurteil - auf gegenwärtige bezieht (35). Von der Wahrnehmung ist aber die bloße Vorstellung zu unterscheiden (conceivin, imagining, apprehending), ein Akt des Geistes, wo vom Objekt weder etwas bejaht noch verneint wird, der also kein Urteil involviert (wie die Wahrnehmung) und darum weder wahr noch falsch ist.
    "Wenn Hume die Perzeptionen und die bloßen Vorstellungen als Ideen von verschiedener Stärke ansieht, so hat er den spezifischen Unterschied zwischen beiden übersehen." (36)
Dabei ist es REID sichtlich um ganz dieselben Momente zu tun, die auch für FRIES die Hauptsache sind:

1. Vor allem, um die Ursprünglichkeit der Wahrnehmungsassertion, die er z. B. von LOCKE durchaus verkannt sieht.
    "Nach Locke nämlich sind die ersten Elemente aller Erkenntnis die Ideen, und die Erkenntnis entsteht durch die Kombination der Ideen und durch die Wahrnehmung ihrer Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung, so daß also die bloße Apprehension ohne ein Urteil über Existenz oder Nichtexistenz das Erste wäre. Diese Ansicht ist aber schon deswegen falsch, weil sie das Letzte zum Ersten macht. Wie die Natur uns die konkreten Körper gibt und wir nur durch eine chemische Analyse die einfachen Elemente voneinander sondern, so ist auch das Erste immer eine Überzeugung oder ein Urteil und die einzelnen Apprehensionen [Auffassungen - wp] nur das Resultat einer Analyse desselben." (37)
2. Mit dieser Ursprünglichkeit der in der Wahrnehmung involvierten Existentialurteil erscheint REID dann ebenso wie dem ihm hierin durchaus verwandten FRIES ihre Unfehlbarkeit gegeben. Sie gilt ihm nicht nur als unmittelbare Überzeugung, sondern als unmittelbares, fragloses Wissen. (38)

§ 9. Das Beispiel REIDs belehrt uns darüber, daß es nicht ratsam ist, ohne Weiteres bei einem Autor, der die Wahrnehmung als ein Urteil faßt, auf eine verfehlte Analyse jenes Phänomens zu schließen. Eine Vorsicht, die z. B. jüngst MEYERHOF außer acht gelassen hat. In seinen interessanten "Beiträgen zur Psychologie der Geistesstörungen" (39) hält er es für nötig, die FRIES'sche Lehre von der Unmittelbarkeit der Wahrnehmungsassertion gegen BRENTANO zu verteidigen. Er tut dies im Zusammenhang mit einer Kritik, die er an dessen Einteilung der Bewußtseinsbeziehungen in die drei Grundklassen Vorstellen, Urteilen und Interesse übt.
    "Die Verschiedenheit der Grundklassen Vorstellung und Urteil", bemerkt er, "nimmt Brentano an, weil er die Unterschiede beider weder auf solche der Intensität noch des Gegenstandes zurückführen kann, sondern in der im Urteil ausgesprochenen Anerkennung oder Leugnung eine eigenartige Beziehung auf das Objekt sieht. Indem er aber das Fürwahrhalten für eine zur primären Vorstellung hinzukommende psychologische Qualität hält, muß er folgerichtig auch die Wahrnehmung als Urteil bezeichnen. ... Sein Fehler besteht darin, die Vorstellung als das Ursprüngliche, die Erkenntnis als das Abgeleitete aufzufassen, während tatsächlich die problematische Vorstellung sich psychologisch erst aus der Erkenntnis eines Gegenstandes ableitet."
Jeder Kenner der Psychologie BRENTANOs wird verwundert sein, diesem hier eine Ansicht zugeschrieben zu sehen, von der er so ziemlich das Gegenteil lehrt. Und in der Tat würde der Kritiker diesen Tadel gewiß nicht erhoben haben, wenn er - statt sich von einem ihm fremden Sprachgebrauch beim Terminus Urteil abschrecken zu lassen - in die Einzelheiten von BRENTANOs Urteilslehre sich vertieft hätte (40). Er müßte sonst bei diesem Psychologen die FRIES'sche Analyse des Wahrnehmungsphänomens in allen wesentlichen Stücken wiedergefunden haben:

a) Wie FRIES betont auch BRENTANO, daß das Eigentümliche der Wahrnehmung keine Kombination von Vorstellungen sein kann.
    "Es dürfte nicht leicht etwas geben, was offenbarer und unverkennbarer wäre, als daß eine Wahrnehmung nicht in der Verbindung eines Subjekt- und Prädikatbegriffs besteht oder sich auf eine solche bezieht." (41)
b) Wie für FRIES wird auch für BRENTANO die Sinnesempfindung nicht erst durch irgendeine Bearbeitung zur Wahrnehmung. Ihre Materie ist eine einfache Anschauung und
    "der Gegenstand der inneren Wahrnehmung nichts anderes als ein psychisches Phänomen, der Gegenstand einer äußeren nichts anderes als ein physisches Phänomen, Ton, Geruch und dgl." (42)
c) Aber auch in der positiven Charakteristik des Wesensmerkmales der Wahrnehmung stimmen beide überein. Sie ist nach BRENTANO ein einfaches (thetisches) Anerkennen (43) des angeschauten Gegenstandes, was ganz dasselbe bedeutet, wie bei FRIES "Assertion", nur etwa mit der Nuance, daß jener in der Regel nur die positive Spezies, dieser in bewußter Äquivokation [Gleichsetzung - wp] auch das Gattungsmoment des Behauptens so nennt.

d) Indem BRENTANO jene beiden Momente an der Wahrnehmung vorfindet, erklärt er sie als einen Akt, der sich in doppelter Weise auf seinen Gegenstand bezieht, ihn vorstellend und ihn anerkennend; nicht aber als ein Paar von Akten. Und diese Einheit des Aktes ist hier auch wohl der FRIES'schen Schule nicht entgangen. In der Tat würde, wer sie leugnet, zu ganz bedenklichen Konsequenzen kommen. Müßte er dann doch auch zugestehen, in jeder primitiven Wahrnehmung sei der Sinnesinhalt zweimal vorgestellt, einmal in der Empfindung, das zweite Mal im assertorischen Bestandteil der Wahrnehmung. Denn jede Assertion schließt unumgänglich die Vorstellung des darin Erkannten ein. Ja die Durchdringung der beiden Momente - auch das scheint FRIES bemerkt zu haben - ist bei der Wahrnehmung noch weit inniger als sonst bei Urteilen. Denn während sonst zwischen Vorstellen und Anerkennen wenigstens ein Verhältnis einseitiger Ablösbarkeit besteht, demzufolge zwar kein Glauben ohne Vorstellen, wohl aber ein Vorstellen ohne Glauben möglich ist (44) (ähnlich wie sich KANT das Verhältnis von Raum und Qualität denkt), läßt sich von der Wahrnehmungsassertion die Empfindungsvorstellung nicht isolieren, wird vielmehr von jener in ihrem Sein wesentlich mitbestimmt. BRENTANO hat dieses Verhältnis klarer als irgendein Psychologe vor ihm dahin bestimmt, daß die Anerkennung hier am sinnlichen Charakter der Empfindung und damit - was beim abstrakten Urteilen ganz ausgeschlossen ist - auch an deren Intensitätsdifferenzen teilnimmt. (45)

In seiner Psychologie findet sich die erwähnte Einheit des vorstellenden und erkennenden Aktes vornehmlich in Bezug auf das Urteil der inneren Wahrnehmung ausgeführt.
    "Jeder psychische Akt ist bewußt; ein Bewußtsein von ihm ist in ihm selbst gegeben. Jeder auch noch so einfache psychische Akt hat darum ein doppeltes Objekt, ein primäres und ein sekundäres. Der einfachste Akt, in welchem wir hören, hat z. B. als primäres Objekt den Ton, als sekundäres Objekt aber sich selbst, das psychische Phänomen, in welchem der Ton gehört wird. Von diesem zweiten Gegenstand ist er in dreifacher Weise ein Bewußtsein. Er stellt ihn vor, er erkennt und fühlt (46) ihn. Und somit hat jeder, auch der einfachste psychische Akt eine vierfache Seite, von welcher er betrachtet werden kann. Er kann betrachtet werden als Vorstellung eines primären Objektes, wie z. B. der Akt, in welchem ein Ton empfunden wird, als Hören; er kann aber auch betrachtet werden als Vorstellung seiner selbst, als Erkenntnis seiner selbst und als Gefühl seiner selbst. Und in der Gesamtheit dieser vier Beziehungen ist er Gegenstand sowohl seiner Selbstvorstellung, als auch seiner Selbsterkenntnis, als auch sozusagen seines Selbstgefühls, sodaß ohne weitere Verwicklung und Vervielfältigung nicht bloß die Selbstvorstellung vorgestellt, sondern auch die Selbsterkenntnis sowohl vorgestellt als auch erkannt, und das Selbstgefühl sowohl vorgestellt, als auch erkannt und gefühlt ist." (47)
Die Anwendung auf den Fall, wo auch das primäre Bewußtsein selber ein mehrfaches ist, wie z. B. die äußere Wahrnehmung des Tones notwendig nicht nur ein Tonvorstellen, sondern auch ein Tonglaube ist, ergibt sich nach dem erwähnten Gesetz über die Unmöglichkeit eines Anerkennens, das keine Vorstellung seines Objekts einschließt, ohne weiteres von selbst. Doch mag es dem Verständnis dienlich sein, wenn wir die Einheit des Aktes, wie sie hier besteht, mit einem Fall vergleichen, wo sie nicht ebenso gegeben scheint. Ein solcher ist jenes abstrakte Anerkennung des Gesehenen, Gehörten usw., das die FRIES'sche Terminologie als ein die Wahrnehmung "nachbildendes" Existentialurteil bezeichnen würde. Hier besteht jene Isolierbarkeit in der Tat, wie sie FRIES und BRENTANO mit Recht von der Wahrnehmung selbst entschieden bestreiten. Aber siehe da! Mit der Verdoppelung des anerkennenden Bewußtseins hat sich hier auch das zugrunde liegende Vorstellen verdoppelt. Mit dem spezifischen Unterschied natürlich, wie er eben zwischen einer Anschauung und einem Begriff besteht.

§ 10. Wenn wir uns fragen,, wie bei dieser Sachlage MEYERHOF überhaupt auf den Gedanken verfallen konnte, BRENTANO verkenne, daß unser Bewußtsein mit Assertionen, nicht aber mit bloßen Vorstellungen seinen Anfang nimmt, so dürfte zur Erklärung dieses Mißverständnisses der Hinweis darauf noch nicht genügen, daß er den engeren FRIES'schen Urteilsbegriff vorschnell in BRENTANO hineingelesen und sich dadurch das Verständnis seiner Wahrnehmungstheorie von vornherein unmöglich gemacht hat. Denn zu diesem Moment, das wohl in erster Linie wirksam war, kam bei ihm offenbar noch ein zweites. MEYERHOF hat sich in seiner irrigen Interpretation zudem durch gewisse Redewendungen bestärken lassen, denen er bei BRENTANO begegnete. Indem dieser nämlich gegen die alteingewurzelte Lehre ankämpft, daß das Urteilen wesentlich dieselbe Art der Bewußtseinsbeziehung vom Gegenstand ist wie das Vorstellen, und nur etwa spezielle die Vorstellung einer Synthesis von Begriffen, bedient er sich bildlich ungern des Ausdrucks, im Urteil komme eine ganz neue Art von Bewußtseinsbeziehung zum Vorstellen des Objekts hinzu (48). Ich sage: bildlich, weil diese Worte genetisch klingen, aber keineswegs so gemeint sind. BRENTANO spricht hier nicht anders, als etwa auch ein FRIES'schüler sprechen könnte, um uns vom Standpunkt seines Lehrers den Unterschied zwischen einer Phantasievorstellung und einer Sinneswahrnehmung zu erklären. Dieser Unterschied könnte er sagen, zeige sich darin, daß bei der Wahrnehmung das Moment der Assertion zur Anschauungsvorstellung hinzukommt, welches den Phantasmen fehlt. Mir würde dies zum Verständnis der FRIES'schen Lehre genügen und keineswegs den Irrtum aufkommen lassen, daß sonach unser psychisches Leben mit assertionslosen Vorstellungen beginnt, aus denen später erst Wahrnehmungen werden.

Gleichwohl finde ich es nicht unbegreiflich, daß sich MEYERHOF durch diese an und für sich ganz unverfängliche Ausdrucksweise irreführen ließ, und zwar aus einem ganz bestimmten, historischen Grund. Er hat sich dabei wahrscheinlich einer Kontroverse erinnert, die APELT gegen gewisse, schon von mir einmal erwähnte (weiter oben), fiktive Versuche, die Wahrnehmungsassertion irgendwie aus ihr vorhergehenden Vorstellungselementen "abzuleiten", geführt hat. Über diese Fiktion pflegt nun aber APELT so zu referieren, daß er sie in der Frage formuliert: "Wie kommt die Assertion zur Vorstellung hinzu?" (49) Durch diesen Anklang an die Terminologie APELTs war MEYERHOF beim Studium BRENTANOs von vornherein in eine falsche Richtung gedrängt und konnte leicht auf den Gedanken verfallen, es wären auch diesem Psychologen gegenüber ähnliche Belehrungen angebracht, wie sie APELT über diesen Punkt einem REINHOLD und FICHTE zuteil werden lassen mußte.
LITERATUR - Alfred Kastil, Jakob Friedrich Fries' Lehre von der unmittelbaren Erkenntnis, Göttingen 1912
    Anmerkungen
    1) NK I, 65f
    2) NK I, 65f
    3) NK I, 65f. Vgl. APELT, Metaphysik, Seite 501f.
    4) APELT, Metaphysik 502
    5) FRIES, NK I, 65.
    6) EP 502
    7) EP 461
    8) EP 524
    9) EP 464
    10) NK I, 240; EP 536.
    11) LOCKE, Essay II, 1, § 25.
    12) LOCKE II, 12, § 1.
    13) LOCKE Essay II, 1, § 25
    14) LOCKE, Essay II, 12, § 1.
    15) LOCKE II 32, § 19.
    16) APELT, Metaphysik, § 98.
    17) FRIES NK I, 66
    18) FRIES NK I, 72
    19) FRIES NK I, § 11.
    20) Vgl. auch meine "Studien zur neueren Erkenntnistheorie", I. Anhang (Halle/Saale 1909).
    21) APELT, Metaphysik, 501f. - vgl. FRIES NK I, 191.
    22) Besser wäre "die Assertion oder das Bewußtsein der objektiven Gültigkeit".
    23) EP 502
    24) FRIES, NK I, 87f; APELT, Metaphysik § 88.
    25) vgl. weiter unten § 8.
    26) vgl. die oben zitierten Stellen bei NELSON.
    27) Diese Zeitschrift [Abhandlungen der Fries'schen Schule - wp], Bd. I, Seite 16
    28) EP 500.
    29) EP 493
    30) Vgl. meine "Studien zur neueren Erkenntnistheorie" Bd. I § 3 - 5.
    31) Ich habe keine Ausgabe von REID zur Hand und halte mich an die Darstellung des noch immer unübertroffenen Geschichtsschreibers der neueren Philosophie J. E. ERDMANN (Bd. II, 2. Abt., Seite 416f, wo man - im Anhang - auch eine treffende Auswahl von Belegstellen aus dem Original zusammengestellt findet).
    32) REID, "On the intellectual powers of the man" VIII. ("Über den Geschmack", Zeitschrift für Ästhetik, Bd. 1, Seite 327).
    33) REID bei ERDMANN, a. a. O. Seite 421
    34) REID bei ERDMANN, a. a. O., Seite 422
    35) ebd. Seite 423
    36) ebd. 423 (vgl. Intell. powers VI, Of judgement)
    37) REID bei ERDMANN, a. a. O., Seite 417 (vgl. APELT, Metaphysik, Seite 501f.
    38) REID bei ERDMANN, Seite 424.
    39) Diese "Abhandlungen", Bd. III, Heft 2, Seite 191
    40) Außer dem bisher allein erschienenen Bald der "Psychologie vom empirischen Standpunkt" kommt für die genauere Kenntnis dieser Lehre insbesondere in Betracht BRENTANOs "Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis", Leipzig 1889 (besonders die Anmerkungen und die Beilage). Ferner MARTY "Über subjektlose Sätze" (sieben Aufsätze in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. VIII, Heft 1-3 und Bd. XVIII, Heft 3 und 4, sowie Bd. XIX, Heft 1 und 3); HILLEBRAND, "Die neuen Theorien der kategorischen Schlüsse", Wien 1891. MARTY, "Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie", Bd. I, II. Teil, Kapitel II-VI. - Die für unsere Frage interessanten Kapitel der Psychologie BRENTANOs sind soeben unter dem Titel "Von der Klassifikation der psychischen Phänomene" in neuer, stark vermehrter Auflage erschienen (Leipzig 1911).
    41) FRANZ von BRENTANO, Psychologie I, Seite 278.
    42) BRENTANO, Psychologie I, Seite 278. Vgl. darüber Näheres bei HUGO BERGMANN, "Untersuchungen zum Problem der Evidenz der inneren Wahrnehmung", Seite 2f.
    43) vgl. BERGMANN, a. a. O., Seite 5f.
    44) BRENTANO, Psychologie I, Seite 348. Vgl. MARTY, Sprachphilosophie, Seite 271f.
    45) Vgl. BRENTANOs Lehre von der Intensität sinnlicher Erscheinungen (Untersuchungen zur Sinnespsychologie, Leipzig 1907, Seite 50f)
    46) Vgl. dagegen "Psychologie", a. a. O., Seite 124, wo BRENTANO die Beteiligung des Selbstgefühls auf die Fälle von Lust und Schmerzempfindung beschränkt.
    47) BRENTANO, Psychologie a. a. O., Seite 202f (vgl. 169f)
    48) BRENTANO, Psychologie, Seite 267 und öfter.
    49) APELT, Metaphysik, Seite 502