p-4H. SchwarzW. EnochMFKE. NimzMFKG. K. UphuesCondillac    
 
HUGO BERGMANN
Untersuchungen zum Problem der
Evidenz der inneren Wahrnehmung

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"Soviel ist freilich richtig, daß die Wahrnehmung selbst nicht ihren adäquaten Ausdruck in der Sprache findet, - nicht weil sie kein Urteil, sondern weil sie ein Urteil über anschaulich Vorgestelltes darstellt, das die Sprache zu nennen nicht imstande ist - und daß wir, um doch die Wahrnehmung zu verdolmetschen, von einem Wahrgenommenen allgemeine Begriffe prädizieren und nun diese Prädikationen in Worte kleiden."

"Auch wer nicht glaubt, daß es Farben gibt, wird nicht in Abrede stellen wollen, daß das Urteil, »dies ist gelb«, das ich, auf eine Dotterblume blickend, fälle, in gewisser Weise wahr ist. Es darf nur, um wahr bleiben zu können, nicht interpretiert werden, also nicht: Dies (das Gesehene) ist und ist gelb, sondern: Dieses (das Sehen)  ist und ist ein Gelbsehen."

"Die innere Wahrnehmung ist dem Psychologen unentbehrlich für brauchbare allgemeine Gesetze.Nicht nur erschaut er hier die Hauptbegriffe seiner Wissenschaft, schöpft von hier den Begriff einer Vorstellung, eines Urteils, eines Willensaktes, den Begriff des Gegenstandes als solchen usw. Das könnte er auch ohne die Einsichtigkeit der Wahrnehmung. Indem die innere Wahrnehmung aber evident ist, macht sie Empirie überhaupt erst möglich und eröffnet die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Verarbeitung und Erklärung - der Erfahrung.

Vorwort

Die Schrift, die ich hiermit der Öffentlichkeit übergebe, ist aus dem Bestreben hervorgegangen, die Einwendungen nachzudenken, welche der Lehre von der Einsichtigkeit der inneren Wahrnehmung in den letzten Jahren gemacht worden sind. Sie will diese Lehre verteidigen, indem sie ihre Tragweite umgrenzt. Die Frage, wie weit denn eigentlich die uns gegebene Evidenz a posteriori [im Nachhinein - wp] reicht, warf sich da von selbst auf. Sie ist in den folgenden Untersuchungen nur soweit gelöst, als gezeigt wird, daß die innere Wahrnehmung, wenn man darunter nicht mehr als ein thetisches [dogmatisches - wp] Anerkennen und kein Deuten versteht, jedenfalls ganz in dieses Gebiet gehört. Daneben bleibt es unentschieden, inwiefern man auch für Prädikationen jene Einsichtigkeit in Anspruch nehmen darf.

Man hört vielfach, daß die äußere der inneren Wahrnehmung in Bezug auf ihren Erkenntniswert gleichberechtigt ist. Wollte man mit dieser Ansicht Ernst machen, so müßte man den Qualitäten samt und sonders eine wirkliche Existenz zuschreiben. Daß man dennoch diese Folgerung nicht ziehen will, schien mir nur durch eine Reihe von Mißverständnissen erklärlich, die ich aufzuklären versuche.

Einen größeren Raum nimmt die Erörterung der Frage ein, ob der Gegenstand der einsichtigen inneren Anerkennung zeitlich ausgedehnt erscheint. Was ich hier vorbringe, will nur als erster Ansatz zur Klärung dieses wenig beachteten Problems betrachtet sein. Als sicher ergab sich mir nur, daß die Frage nicht gelöst wird, wenn man dem sich stetig in die Vergangenheit erstreckenden Objekt einen in seiner Evidenz stetig abnehmenden Akt zuordnet. Nam quaecumque lumine naturali mihi ostenduntur, nullo modo dubia esse possunt. [Was immer mir durch ein natürliches Licht gezeigt wird, kann auf keine Weise zweifelhaft sein. - wp]



I. Abschnitt
Der Begriff der Wahrnehmung

§ 1. Die folgende Untersuchung unternimmt es zunächst, die hergebrachte Lehre von der Evidenz der inneren Wahrnehmung gegen neuere Angriffe zu sichern und damit die Möglichkeit von Erfahrung überhaupt zu verteidigen. Indem wir uns zu diesem Zweck vorerst bestreben, den Begriff der Wahrnehmung eindeutig zu umgrenzen, lassen wir uns von zwei Rücksichten leiten: wir wollen nicht durch eine willkürliche Terminologie die Vieldeutigkeit des Namens vermehren und trachten daher, möglichst in Übereinstimmung mit der wissenschaftlich üblichen Gebrauchsweise (1) zu bleiben; und wir wollen zweitens den Begriff so umgrenzen, daß überhaupt von einer evidenten Wahrnehmung gesprochen werden kann. Denn welchen Wert hätte es, die kopernikanische Weltansich jemandem gegenüber zu verteidigen, der unseren Planeten "Sonne" und die Sonne "Erde" nennen wollte?

Wir verstehen unter Wahrnehmung ein einfaches (thetisches), assertorisch [behauptend - wp] bejahendes Urteil über einen anschaulich vorgestellten Gegenstand.

Diese Definition würde sich als Resultat einer Analyse des Wahrnehmungsbegriffs ergeben. Nur freilich ist auch sie nicht imstande, selbst eine eigentliche Vorstellung des zu definierenden zu geben und kann nicht umhin, an die Erfahrung jedes einzelnen zu appellieren. Dies geschieht zumal, indem davon gesprochen wird, daß der Gegenstand, den die Wahrnehmung bejaht, in einer Anschauung vorgestellt sein muß. Denn was dies heißt, muß ein jeder selbst erfahren haben. Wir haben es eben hier mit einer "unmittelbarsten Erkenntnisform" zu tun, die "keine andere Erkenntnisformen voraussetzung, sondern allen anderen zum Grunde liegt". (2) Freilich hat es der arge Zustand der philosophischen Terminologie mit sich gebracht, daß man nun auch den Namen "Anschauung", der wie keiner geeignet ist, das primärste Phänomen zu bezeichnen, vielfach in einer engen Bedeutung gebrauchte, die ihn dann hier unverwendbar macht. Denn oft geschieht es, daß man die innere Sprachform, die in dem Wort "anschauen" verborgen liegt, in eine viel zu enge Verknüpfung mit der Bedeutung bringt und nun nur noch dort von einem Anschauen spricht, wo man es mit einem Sehen oder sonst einem durch eine peripherische Reizung eines sensiblen Nerven zustande gekommenen Phänomen zu tun hat. Die Folge ist, daß man in die Bedeutung des Namens, die deskriptiv schon ganz eindeutig festgestellt ist, genetische Momente hineinträgt, und es nun ganz unvereinbar findet, wenn einer - wie dies ganz richtig ist - von einem deskriptiven Standpunkt auch die Halluzination oder Phantasievorstellung oder gar die unmittelbare Vorstellung eines psychischen Aktes als Anschauung bezeichnet.

Mit einer solchen eingeschränkten Gebrauchsweise des Terminus "Anschauung" erklärt es sich, wenn etwa REHMKE (3) - in der Frage nach der inneren Wahrnehmung gewiß nicht weit von meinem Standpunkt entfernt - von der in der Anschaulichkeit begründeten Gemeinsamkeit des dem Naturwissenschaftler unmittelbar Gegebenen spricht und im Gegensatz dazu vom Psychologen, dem sein individuelles Seelenleben allein und daher nicht anschaulich gegeben ist.

Ich behalte mir also vor, den Namen der Anschauung für alle perzeptiven Phänomene zu behalten, ob sie nun ein psychisches oder ein physisches vorstellen.

Man hat der Ähnlichkeit, die alle diese Erlebnisse auszeichnet, dadurch Rechnung tragen wollen, daß man, wo immer sie auftraten, von einem Sinn sprach, dem sie zukommen. So unterschied man einen inneren neben den äußeren Sinnen. Der wahre Kern dieser Lehre ist eben der, daß es ebenso ein Anschauen von physischen Qualitäten wie eines von psychischen Akten gibt. Dagegen scheint uns der Terminus "Sinn" (4) auf eine physiologische, eigentümlich geordnete Organisation hinzudeuten, die vielleicht nicht immer mitgegeben ist, wo der deskriptive Charakter der Anschaulichkeit vorliegt. Wir haben daher darauf verzichtet, hier von einem "Sinn" zu sprechen, wie wir uns überall davon zurückhalten, genetische Angaben mit deskriptiven zu vermengen. Die Scheidung deskriptiver und genetischer Fragen, wie BRENTANO und HERING sie zuerst in neuerer Zeit erfolgreich anwendeten, hat sich seither trefflich bewährt und soll auch dort nicht verwischt werden, wo vielleicht infolge des Angrenzens an das Gebiet der Physiologie die Verführung hierzu nahe liegt. (5)

§ 2. Mit der Forderung der Anschaulichkeit der dem Wahrnehmungsurteil zugrundeliegenden Vorstellung ist das Zugeständnis verknüpft, daß dieses nicht oder nur angenähert sprachlich wiedergegeben werden kann. Denn die Namen der Sprache bedeuten Begriffe. (6)

Und ferner ist damit gesagt, daß der Gegenstand der Wahrnehmung ein eigentlich vorgestellter sein muß. Nicht als ob es die Anschauungen allein wären, welche ihren Gegenstand eigentlich, das heißt in seinen konstitutiven Merkmalen und nicht durch eine Beziehung vorstellen würden. (7) Auch die unmittelbarsten Abstraktionsakte, die Imperzeptionen (8), gewonnenen einfachen abstrakten Vorstellungen, wie Rotes oder Rundes, stellen ihren Gegenstand eigentlich vor. Wohl aber gibt es abstrakte Vorstellungen, welche ihren Gegenstand als den Terminus einer wirklich bestehenen oder einer möglichen Beziehung vorstellen. Unser Denken hat nämlich - was näher auszuführen hier nicht am Platz ist (9) - die Fähigkeit, die durch Imperzeption gewonnenen Begriffe synthetisch zu verknüpfen und so höhere Begriffsgebilde wie "Rotes-Hierseiendes", "Rotes-Rundes-Hierseiendes" zu kombinieren. Durch eine solche Zusammenfügung enstehen die uns so geläufigen Begriffe wie Mensch, Tier, Tisch, welche eine falsche Theorie der Abstraktion gern als Ausgangspunkt allen Abstrahierens hinstellt. Eine solche Synthese bildet nun aber auch Begriffe, welche nur auf einen Gegenstand Anwendung finden, und speziell auch auf einen, den wir sonst mit einem Schlag - anschaulich - vorzustellen vermögen. Wie denn der Begriff "Hier- und Jetzt Seiendes, so und so Großes, so und so Gefärbtes" nur auf das von mir jetzt Angeschaute passen mag. So kann unser Bewußtsein das unmittelbar Angeschaute sich nun noch einmal zum Gegenstand, und zwar zum einzigen Gegenstand einer Vorstellung machen. Es ist also die Anschauung nicht, wie man glauben möchte, die einzige individuelle Vorstellung vom Gegenstand. Vielmehr kann es neben ihr noch viele durch prädikative Synthese gebildete Vorstellungen geben, die auch nur einen, und zwar denselben Gegenstand haben, wie sie. Dennoch sind sie keine Anschauungen. Denn erstens erschöpft kein einziger dieser Begriffe die Individualität des Gegenstandes - könnte es ihrer doch sonst nicht mehrere geben - und zweitens sind alle diese durch eine prädikative Synthese gebildeten Begriffe der Anschauung gegenüber uneigentlich. Begriffe wie Rotes-Rundes sind gewonnen durch Reflexion auf eine Prädikation, und der Inhalt der Prädikation wird dabei zum Vorstellungsgegenstand und dieser ist nicht denkbar ohne daß die Vorstellung eines Urteilenden mitgedacht werden würde. Rotes-Rundes heißt: "Ein Rotes, dem durch einen Urteilenden das Rund-sein zuerkannt werden kann." Der durch einen synthetischen Begriff gedachte Gegenstand wird also nicht durch innere Merkmale allein, sondern durch die Beziehung zu einem Urteilenden gedacht (10).

Die Anschauung aber konstituiert sich - um ein Wort HUSSERLs (11) zu gebrauchen, auf das wir des öftern zurückkommen werden - nicht in beziehenden oder verknüpfenden Akten, sondern ist in schlichter Weise gegeben. BOLZANO hat hier richtig gesehen, wenn er den Unterschied zwischen Begriffen, die nur einen Gegenstand haben, und den entsprechenden Anschauungen darin sah, daß der Begriff zusammengesetzt, die Anschauung aber einfach ist (12). Sie ist es nicht in dem Sinne, daß das Angeschaute keine Teile hätte, sondern deshalb, weil diese Teile nicht durch einen besonderen Akt der Synthese zusammengedacht werden.

§ 3. Was nun damit gesagt sein soll, daß die Wahrnehmung ein einfaches (thetisches) Urteil sein soll, das wird uns klar, wenn wir uns an BRENTANOs Urteilslehre und insbesondere an die Unterscheidung der einfachen und der Doppelurteile erinnern. (13) Danach stehen den Urteilen, die sich als einfache Anerkennung oder Verwerfung eines gewissen Gegenstandes darstellen (A ist oder ist nicht), andere gegenüber, in welchen ein Gegenstand A anerkannt, ihm aber zugleich ein B zugesprochen wird (A ist B, d. h. A ist und ist B). Zwischen den beiden Teilen des letzteren Doppelurteils besteht eine bloß einseitige Ablösbarkeit. Die elementarsten Urteile nun, die wir fällen, sind einfach Anerkennungen (14). Solche muß es geben: sie sind die Voraussetzung jeder höheren Geistestätigkeit. Man hat sich nun vielfach geweigert, dieser elementaren Tätigkeit den Namen "Wahrnehmung" zu geben und zog die Bezeichnung "Empfindung" vor. So sucht WUNDT die Elemente, aus denen sich die Wahrnehmung zusammensetzt, und nennt sie Empfindungen, so spricht ENOCH davon, daß die Wahrnehmung aus dem Einfachen und Mannigfaltigen, welches die Empfindung liefert, das geordnete Ganze herstellt (15). Wir wollen diesen Autoren nicht widersprechen. Bleiben wir auch bei dem zumal für die elementaren Urteile des inneren Bewußtseins gebräuchlicheren Namen "Wahrnehmung", so stehen wir doch nicht an, zu gestehen, daß bei der Kärglichkeit brauchbarer Namen, welche die Sprache zur Verfügung stellt, der univoke Gebrauch zweier Termini eine nicht zu billigende Verschwendung wäre. Sollte aber die Bezeichnungsweise der angeführten Forscher angenommen werden, so müßte man auch von einer inneren Empfindung sprechen, was heute freilich niemand tut.

Nur das muß unbedingt festgehalten werden: Es handelt sich bei diesen elementaren einfachen Urteilen, wie immer man sie heißen mag, um keine Prädikation, keine Benennung, Klassifikation oder Identifikation, sondern um die schlichte Anerkennung des angeschauten Gegenstandes. Mit jenen aber tritt "ein neues Phänomen" auf (16). Ein Urteil also, wie: dies ist rot, "welches einen gegenwärtig wahrgenommenen Inhalt irgendwie prädiziert", möchten wir also nicht mit CORNELIUS (17) als unmittelbares Wahrnehmungsurteil bezeichnen.

Der Umstand, daß wir bei den schlichten Wahrnehmungsakten einfache eingliedrige Urteile fällen, ist von entscheidender Wichtigkeit für die Urteilstheorie. Er entscheidet für die Idiogenität des Urteils und gegen die Lehre, daß jedes Urteil durch eine Verbindung von Vorstellungen entsteht oder sie zur notwendigen Voraussetzung hat. In der Tat hat kein Vertreter dieser Lehre eine befriedigende Auskunft von der Wahrnehmung zu geben vermocht. Entweder war man genötigt, ihren Charakter als Urteil zu leugnen oder man mußte, um die notwendigen mehreren Vorstellungen aufzubringen, in die Wahrnehmung fremde Elemente hineinlesen. Das erste sehen wir bei VOLKELT. Er hat deutlich die Bedeutung der Wahrnehmung und zumal der evidenten, für die Erkenntnistheorie erkannt. Es ist ihm auch nicht entgangen, daß wir es in ihr nicht mit einer Verknüpfung von Vorstellungen zu tun haben.
    "Die Gewißheit davon, daß ich ermüdet oder frisch bin, die Empfindung hell oder dunkel habe, hat nicht etwa ein einem urteilsmäßigen Verknüpfen der Vorstellungen ihren Grund, sondern sie ruht völlig und in sich." (18)
Aber die wahre Natur des Urteils nicht erkennend, glaubt er der Wahrnehmung den Charakter eines solchen absprechen zu müssen.
    "Die Urteilsverknüpfung ist nur die Form, die sie sich borgt, um sich klarer zum Ausdruck zu bringen. Weit entfernt also, daß die eigentümliche Gewißheit des Selbstinneseins in der Funktion des urteilenden Verknüpfens ganz oder teilweise begründet ist, nimmt sie nur, wenn sie sich als Aussage gestaltet, von der beziehenden Tätigkeit die Form her, gemäß der sie sich streckt und gliedert."
Allein man sieht doch, wie VOLKELT die Schwierigkeit, in die er durch die Identifikation des Urteils mit einer Verknüpfung von Vorstellungen gelangt ist, nur zu verschleiern, nicht zu lösen imstande ist. Soviel ist freilich richtig, daß die Wahrnehmung selbst nicht ihren adäquaten Ausdruck in der Sprache findet, - nicht weil sie kein Urteil, sondern weil sie ein Urteil über anschaulich Vorgestelltes darstellt, das die Sprache zu nennen nicht imstande ist - und daß wir, um doch die Wahrnehmung zu verdolmetschen, von einem Wahrgenommenen allgemeine Begriffe prädizieren und nun diese Prädikationen in Worte kleiden. ("Dies ist rot!") Und hier könnte man ganz gut mit VOLKELT von einem "gliedern" sprechen. Aber um so zuerkennen zu können, müssen wir doch erst anerkannt haben und, wäre die Wahrnehmung nicht selbst ein Urteil, könnte nie die Rede davon sein, daß die einem Urteil entsprechende sprachliche Form sie "klarer zum Ausdruck bringt".

So haben dann auch andere Forscher daran festgehalten, in der Wahrnehmung ein Urteil zu erblicken. Jüngst erst hat dies HEINRICH MAIER (19) wieder betont und auch, daß wir diese "primitivsten Betätigungen des Urteils" in "einer Tiefe zu suchen" haben,, "in welche die Sprache überhaupt nicht hinabreicht." (20) Und doch wiederum glaubt er, es sei dieses Urteil - wie überhaupt jedes - nicht genügend dadurch charakterisiert, daß es ein Akt der Anerkennung, der "Objektiviation" ist. Es gehöre dazu noch "eine Gleichsetzung zwischen dem aufzufassenden Inhalt und dem Inhalt einer reproduzierten Vorstellung". Wäre dies richtig, so käme es aber nie zu einer Wahrnehmung, weil ja eine solche - und zumindest eine - vor sich gegangen sein muß, ehe dem Urteilenden eine reproduzierbare Vorstellung zur Verfügung steht. Und auch die Heranziehung eines primären Gedächtnisses (21) wird nicht imstande sein, die Schwierigkeit zu beseitigen, da doch auch hier die Wahrnehmung eines Gegenstandes dem Eintritt der Vorstellung ins primäre Gedächtnis vorausgegangen sein muß.

§ 4. Wir haben in die Begriffsbestimmung der Wahrnehmung nichts aufgenommen über ihre erkenntnistheoretische Dignität. In der Tat soll im Folgenden von Wahrnehmung gesprochen werden ohne Rücksicht darauf, ob der wahrgenommene Gegenstand existiert. Es scheinen uns ohnehin genug gemeinsame deskriptive Eigentümlichkeiten da zu sein, welche den Gebrauch eines eigenen Klassennamens rechtfertigen. (22)

Es kann also ein Gegenstand wahrgenommen werden, ohne zu existieren. Diese Konsequenz bedarf der Erläuterung, damit man uns nicht eines Selbstwiderspruchs beschuldigt. Wir halten uns dabei an die von MARTY gegebene Charakterisierung alles Psychischen (23). Man hat, so führt er aus, alles Psychische als eine Subjekt-Objektbeziehung und diese als eine wahre Korrelation beschrieben. Das konnte man tun, solange man annahm, es sei bei jedem psychischen Vorgang im Subjekt neben dem realen Vorstellen etc. ein immanentes Objekt gegeben. Hier waren zwei Glieder und zwischen ihnen konnte recht gut eine Relation stattfinden. Indessen ist es der neueren Forschung gelungen, - und insbesondere MARTY hat es a. a. O. eindringlich gezeigt und erst in alle Konsequenzen fortgeführt - nachzuweisen, daß die Annahme eines immanenten Gegenstandes eine fiktive war, überflüssig auf der einen Seite, in sich unmöglich auf der andern. Allein MARTY hat auch gezeigt, welches der wahre Sinn der Rede vom immanenten Gegenstand und einer Subjekt-Objekt-Beziehung war. Danach ist es eine Eigentümlichkeit zunächst des Vorstellens, ein realer Vorgang zu sein, an welchen sich als nichtreale Folge knüpft, daß, falls dasjenige, was man das darin Vorgestellte nennt, existiert, der Vorstellende zu ihm in eine eigentümliche Relation tritt, die sich etwa als eine ideelle Ähnlichkeit (24) oder Adäquation mit demselben bezeichnen läßt. Wenn aber das Vorgestellte nicht existiert - wie bei der Vorstellung eines goldenen Berges - dann kann man zwar nicht mehr von einer ideellen Ähnlichkeit im Sinne einer wahrhaften Relation sprechen, wohl aber von einer solchen im Sinne einer relativen Bestimmung. Das heißt: das Vorstellen ist, soviel an ihm liegt, so beschaffen, daß, wenn der Gegenstand existieren würde, es ihm ideell ähnlich wäre. Das Vorstellen und der Gegenstand könnten nicht zugleich existieren, ohne daß die Relation einer ideellen Ähnlichkeit eine Tatsache würde. Dies ist wohl nur ein negatives oder hypothetisches Prädikat. Aber es kokmmt dem Vorstellen wahrhaft zu, sowie es dem Porträt eines Verstorbenen wahrhaft zukommt, ihm ähnlich zu sein: nicht im Sinne einer Korrelation, wohl aber in dem einer relativen Bestimmung. MARTY zeigt weiter, daß von den Termini einer Relation gilt, daß sie nicht ohne einander sein und vorgestellt werden können, von den Termini einer relativen Bestimmung nur das letztere. Der Gedanke einer relativen Bestimmung ist nicht möglich ohne die Vorstellung der Glieder.

Was hier zunächst vom Vorstellen gesagt ist, überträgt sich analog auf die übrigen Grundklassen psychischer Phänomene. Jede psychische oder Bewußtseinstätigkeit ist in ihrem Wesen eine mögliche oder wirkliche Konformität zu etwas anderem und in der Weise dieser Konformität liegt der Gesichtspunkt für die Scheidung der Grundklassen.
    "Während das Vorstellen wesentlich eine Adäquation mit den Unterschieden des Was eines Objektes ist, ist das Urteilen eine Konformation zu dessen Sein oder Nichtsein, bzw. Dies oder Jenessein und Notwendigkeit oder Unmöglichkeit, kurz mit dem ... Urteilsinhalt ..., das Interesse aber zu etwas, was wir in analoger Weise seinen Inhalt nennen können: nämlich, wenn es sich um Lieben und Hassen handelt, der Wert und Unwert des Objekts, wenn um Vorziehen und Nachsetzen, der Mehr- oder Minderwert desselben." (25)
§ 5. Auf diese Weise erscheinen die psychischen Tatsachen genügen umgrenzt und unterschieden von den physischen Phänomenen, die als lokalisierte Qualitäten charakterisiert sind. Dem Unterschied der beiden Phänomene nun entsprechen Unterschiede der Wahrnehmung. In der äußeren Wahrnehmung haben wir anschauliche Vorstellungen eines physischen Inhalts; sie zeigen uns sinnliche Qualitäten, in eigentümlicher Weise räumlich bestimmt. Aus diesem Gebiet stammen die Begriffe der Farbe, des Schalles, des Raums und viele andere. In der inneren Wahrnehmung wiederum schauen wir psychische Phänomene an, die ihrerseits charakterisiert sind durch die mögliche oder wirkliche ideelle Verähnlichung zu einem Objekt. Von hier entnehmen wir den Begriff des Guten, des Wahren, des Vorzüglichen, der Einsichtigkeit und dgl.

Die Scheidung in eine innere und äußere Wahrnehmung ist also zunächst eine Differenzierung nach den angeschauten Objekten (26). Demgegenüber meinte ENOCH (27), die Definition der inneren Wahrnehmung als Anschauung psychischer Phänomene sei eine Zirkeldefinition, da sich ja die psychischen Tatsachen nicht anders denn als Objekte der inneren Anschauung beschreiben lassen, und ebenso hat PALÁGY gemeint, die Unterscheidung physischer und psychischer Phänomene sei nur der Differenz innerer und äußerer Wahrnehmung zuliebe gemacht. Richtig ist das Umgekehrte: die Sonderung der Wahrnehmungen folgte dem Unterschied der Gegenstände.

Für die innere Wahrnehmung nun nehmen wir Evidenz in Anspruch. Wir haben damit, wie dies ÜBERWEG aussprach, den ersten festen Punkt in der Erkenntnistheorie gewonnen. Den Grund für die Tatsache der Evidenz hat man seit langem in der besonderen Innigkeit gesucht, mit der hier Wahrnehmuen und Wahrgenommenes in einer Realität vereint sind. DESCARTES schon betonte es (28), und seitdem haben BENEKE, ÜBERWEG, VOLKMANN, FRITZ WOLFF, JULIUS BERGMANN, UPHUES und viele andere diese Auffassung vertreten, BRENTANO energisch darauf hingewiesen, daß diese Innigkeit eine reale Einheit sein muß. (29) Denn das Wort des CARTESIUS, Bewußtsein und Objekt in der inneren Wahrnehmung ne sont en effet qu'une même chose [sind in der Tat dieselbe Sache - wp] soll nicht sagen, daß eine sei das andere - wo man von Identität, nicht von Einheit sprechen müßte - es meint auch keine äußerliche Zusammenfügung durch Assoziation, wie etwa ÜBERWEG sich den Vorgang vorstellte; vielmehr soll gesagt sein: ich, der hört und ich, der dieses Hören evident anerkennt, bin individuell derselbe. Innerer Akt und sein Objekt sind eins und nur begrifflich unterschieden. (30)

Dagegen ist der Gegenstand der äußeren Wahrnehmung - wenn er ist - sicherlich nicht eins mit dem wahrnehmenden Bewußtsein, stünde vielmehr zu ihm nur im Verhältnis der Kausation. Da aber verschiedene Ursachen gleiche Wirkungen haben können und der Schluß von der Wirkung auf die Ursache demnach nur Zuverlässigkeit hätte, wenn nur eine Ursache möglich wäre und einleuchten würde, welche es ist, so verbietet sich schon hiernach eine Gleichsetzung von äußerer und innerer Wahrnehmung in Bezug auf ihren Erkenntniswert. (31)

Man wird uns nicht mißverstehen. Wenn wir behaupten, daß im inneren Bewußtsein Wahrnehmen und Wahrgenommenes real eins sind, so soll nicht etwa durch künstliche Annahme die Evidenz einer Wahrnehmung a priori bewiesen werden. Vielmehr ist diese eine Tatsache a posteriori und unsere Behauptung will für sie keinen Beweis erbringen - schon BRENTANO betonte dies (32) -, sondern diese Evidenz durch entsprechende Annahmen verständlich machen und erklären; wie auch der Physiker mit dem Massenanziehungsgesetz die Planetenbewegung nicht beweisen könnte, wäre sie nicht durch Beobachtung festgestellt, wohl aber sie dadurch zu erklären versucht.

Nun dürfen wir uns aber nicht verhehlen, daß die reale Einheit des wahrnehmenden und des wahrgenommenen Bewußtseins wohl eine notwendige Bedingung für das Zustandekommen einer evidenten Wahrnehmung ist, aber nicht die hinreichende. Denn reale Einheit heißt nicht Unablösbarkeit der Teile. Auch mein gegenwärtiges Sehen und Hören sind in der realen Einheit meines gegenwärtigen Bewußtseins vereinigt, dennoch kann das eine aufhören, während das andere fortbesteht. Könnte nicht ebenso mein Hören aufhören, mein Wahrnehmen des Hörens fortbestehen? Damit wäre seine Evidenz für diesen Fall aufgehoben. So scheint dann die reale Einheit des primären und sekundären Bewußtseins wohl auszureichen, um die Evidenz, wenn sie da ist, zu erklären, nicht aber, sie für immer zu verbürgen.

Umso notwendiger erscheint nun eine Untersuchung der Fälle, aus denen man blinde oder falsche innere Wahrnehmungsakte hat deduzieren wollen. Wir werden einen großen Teil der vorliegenden Arbeit diesem Zweck widmen. Und sollte das Ergebnis dieser Untersuchung sein, daß ein solcher Fall nicht nachgewiesen worden ist, trotz der zahlreichen Versuche, die man gemacht hat: so wird das Bestehen eines oder eigentlich zweier (33) Gesetze mehr und mehr wahrscheinlich, daß zwischen innerem Bewußtsein und seinem Objekt nicht nur eine reale Einheit, sondern eine gegenseitige Unablösbarkeit besteht. Die Versuche, ein unbewußtes Bewußtsein nachzuweisen, sind bisher nicht gelungen (34). Auch hier besteht a priori die Möglichkeit eines bewußtlosen Aktes wie in unserem Fall die einer sozusagen aktlosen Bewußtheit. Und wenn keines von beiden bisher nachgewiesen worden sein sollte, so wäre es schwer, hier nicht an ein entsprechendes Gesetz zu glauben, das unser psychisches Leben beherrscht. Ein solches Gesetz der Unablösbarkeit zwischen innerem Bewußtsein und seinem Objekt würde, falls es besteht, nun auch die hinreichende Bedingung für die Evidenz jeder inneren Wahrnehmung darstellen.

§ 6. "Anschauungen sind blind. Daher ist es eben ... notwendig, ... seine Anschauungen sich verständlich zu machen, d. h. sie unter Begriffe zu bringen." (35) Wir haben schon davon gesprochen, daß die einfache Thesis, die wir wahrnehmend vollziehen, die Grundlage wird, um dem so anerkannten Gegenstand in Prädikationen etwas zuzuerkennen. Und wir haben auch schon davor gewarnt, diese Prädikationen mit der Wahrnehmung zu verwechseln. Es wird hier notwendig sein, noch einiges von ihnen zu sagen.

Da ist zunächst der Unterschied zwischen den auf äußere und den auf innere Wahrnehmung gebauten Prädikationen bemerkenswert. Denn da die äußere Wahrnehmung das Dasein des anerkannten Gegenstandes nicht verbürgt, so ist auch die Wahrheit aller Prädikationen, die man von diesem Gegenstand macht, abhängig davon, ob durch eine weitere Untersuchung, die mehr Sache des Physikers ist als des Philosophen, das Dasein dieses zunächst nur blind bejahten Gegenstandes bestätigt wird oder nicht. Und es scheint, daß diese Untersuchungen wohl kaum unsere äußere Wahrnehmung rechtfertigen werden. Denn wohl kommt man immer mehr davon ab - wie es früher üblich war - die Materie als ganz qualitätslos hinzustellen. Aber wenn auch die Krisis der Physik in der letzten Zeit das Resultat haben dürfte, der qualitativen Betrachtung zu ihrem Recht zu verhelfen (36), darin stimmt man wohl zum großen Teil überein, daß es nicht die von uns angeschauten Qualitäten oder zumindest bei weitem nicht alle sind, welche der Materie wirklich zukommen (37). Wie dem auch sei! Die in der äußeren Wahrnehmung involvierten Anerkennungen sind jedenfalls von zweifelhafter Richtigkeit und die auf sie gebauten Zuerkennungen daher nicht weniger. Wenn das "dies" nicht existiert, das wir in der Wahrnehmung anerkennen, dann ist es auch nicht so oder so bestimmt, und Urteile wie "dies ist grün" oder "dies ist bitter" werden selbst falsch.

Sind also alle Aussagen des Naturforschers, der eine Blume als gelb, ein Mineral als salzig schmeckend beschreibt, falsch oder bloß wahrscheinlich und stehen hinter den Prädikationen des Psychologen an Sicherheit zurück? Wir sind weit entfernt, einem solchen Psychologismus (38) das Wort zu reden. Es ist nur notwendig, die einzelnen Feststellungen der beschreibenden Naturwissenschaft in eine entsprechende Form zu bringen, um ihnen das Subjekt zu geben, dessen Dasein untrüglich feststeht und von dem sie nun prädizieren mögen. Auch wer nicht glaubt, daß es Farben gibt, wird nicht in Abrede stellen wollen, daß das Urteil, "dies ist gelb", das ich, auf eine Dotterblume blickend, fälle, in gewisser Weise wahr ist. Es darf nur, um wahr bleiben zu können, nicht interpretiert werden, also nicht: Dies (das Gesehene) ist und ist gelb, sondern: Dieses (das Sehen) ist und ist ein Gelbsehen. So hat auch JULIUS BERGMANN geurteilt:
    "Daß alle Körper schwer sind, würde, wenn das Dasein von Körpern nur ein Schein sein sollte, nur dann wahr sein,, wenn damit ein Gesetz nicht über das Verhalten der Körper, sondern über den Zusammenhang unserer ... Wahrnehmungen ... gemeint wäre." (39)
Wir haben freilich bisher erst davon gesprochen, daß eine evidente Wahrnehmung den Gegenstand verbürgt, von dem nun vielleicht evidente Prädikationen ausgesagt werden können. Aber nichts aheben wir noch darüber entschieden, ob es solche evidente Prädikationen gibt, und ob vielleicht in ihnen eine dritte Erkenntnisquelle zu finden ist - neben den a priorischen Evidenzen und der a posteriorischen einsichtigen inneren Wahrnehmung. Man hat vielfach versucht - so MEINONG (40), wenn ich recht verstehe - diese Prädikationen sämtlich auf die beiden anderen Erkenntnisarten zurückzuführen. Ob diese Zurückführung gelungen ist, darüber soll gleich einiges gesagt werden. Genug, daß jedenfalls die Wahrnehmung selbst nicht mit der Prädikation identisch ist und aus der Evidenz der einen nicht unmittelbar die der andern folgt, ebensowenig wie aus falschen Deutungen - und solche gibt es zweifellos - eine falsche Wahrnehmung zu erschließen ist.

§ 7. Indessen glaube ich nicht - um gleich darauf zurückzukommen -, daß es gelingen wird, die zahlreichen evidenten Prädikationen, in denen wir das innerlich Geschaute nun noch weiter deuten und bestimmen, zurückzuführen auf ein Zusammenwirken der beiden anderen Erkenntnisquellen: innere Anschauung und apriorische Urteile. BRENTANO hat von den letzteren gezeigt, daß sie sämtlich einen negativen Charakter haben, derart, daß sie eine unmögliche Materie verwerfen. Es lassen sich hierbeit (41) drei Typen unterscheiden: die verworfene Materie kann nämlich entweder widersprechend sein (A-non A ist nicht) oder widerstreitend (Ein rotes Grünes ist nicht) oder es wird a priori verneint, daß ein Korrelat ohne das andere sein könnte. In allen drei Fällen ist die Materie durch eine prädikative Synthese von Begriffen entstanden (42). Die evidente Wahrnehmung aber liefert Anschauungen. Bevor also die apriorischen Einsichten zur Verarbeitung des anschaulich Gegebenen verwendet werden können, muß feststehen, daß das Angeschaute zum Umfang dieses oder jenes Begriffs gehört. Es stellt sich also doch wohl die Notwendigkeit ein, neben der evidenten Wahrnehmung und apriorischen negativen Urteilen als dritte Erkenntnisquelle evidente Prädikationen zuzugeben, deren Subjekt das innerlich Angeschaute bildet.

Wenn MEINONG (a. a. O.) ein Beispiel aus der äußeren Erfahrung heranziehend - worin wir ihm nur mit der im vorigen Paragraphen angeführten Beschränkung folgen können - meint: daß das "Angeschaute" z. B. grün ist, folgt a priori aus dem Verhältnis von Ganzem und Teil, weil das Grün im angeschauten Komplex enthalten ist, so sagen wir: Gewiß gilt a priori, daß ein Ganzes nicht ohne seine Teile sein kann, aber daß eben Grün ein "Teil" des Angeschauten ist und ihm zugesprochen zu werden verdient, steht eben in Frage und muß erst durch eine einsichtige Prädikation verbürgt werden.

Wenn aber hier auch eine unmittelbare Evidenz gegeben sein sollte, dann möchten wir nicht raten, sie als Einsicht der Wahrnehmung zu bezeichnen. Denn durch viele Züge bleiben einsichtige Wahrnehmungen und Prädikation getrennt. Das eine Mal liegt ein einfaches, das andere Mal ein Doppelurteil vor. Das erstere ermöglicht Erfahrungen überhaupt, das letztere verarbeitet diese Erfahrung und ist dem ersten supraponiert [übergeordnet - wp]. Die Irrtumslosigkeit innerer Perzeption scheint ein allgemeines Prinzip zu sein, während das Bestehen blinder und falscher Prädikationen neben den evidenten außer Zweifel ist (43). Wir haben nur die unmittelbare Evidenz von Urteilen verteidigt, welche die imperzipierten Begriffe dem perzipierten Komplex zusprechen, doch selbst hier kann es vorkommen, daß man fälschlich glaubt, etwas aus einem Ganzen imperzipiert zu haben.

Dazu kommt Folgendes, das ebenfalls gegen die allzuweite Fassung des Terminus spricht: Bei einem Akt und seinem sich-selbst-Erfassen in innerer Perzeption haben wir es wahrscheinlich mit einer unablösbaren Einheit und einer bloß begrifflichen Scheidung zu tun. Nicht so ist es etwa beim Vorstellen und Wünschen, beim Sehen und Hören. Der Vorstellende ist wohl real eins mit dem Wünschenden, der Hörende mit dem Sehenden. Dennoch kann er aufhören, das eine, und fortfahren, das andere zu sein. Sprach man oben von einem Akt mit zwei Seiten, so wird man hier von zwei Akten sprechen müssen (44).

Dasselbe aber gilt vom Verhältnis der inneren Perzeption zur Prädikation. Die innere Anschauung dauert fort, während die Apperzeptionen und Prädikationen mannigfach wechseln und einander ablösen, so daß wir es nicht mit einem, sondern mit mehreren Akten zu tun haben.

§ 8. Die letzten Ausführungen zeigen schon, daß wir durchaus nicht geneigt sind, etwa für alle Beschreibungen und Klassifikationen des Psychologen die Einsichtigkeit des inneren Bewußtseins anzurufen. Wir legen nicht umsonst Gewicht auf diese Feststellung. Denn in der Tat glaubt zum Beispiel EWALD, diese Ansicht in der Lehre von der inneren Evidenz finden zu können und als "qualitativen Psychologismus" brandmarken zu müssen. Danach sollen wir in der inneren Wahrnehmung "die Gesetzmäßigkeit unseres eigenen Seelenlebens" anschauen (45), die "Notwendigkeit", die "Logizität" des psychischen Seins unmittelbar erleben.

Und EWALD steht nicht allein. Wir werden noch zahlreiche Argumente gegen unseren Satz antreffen, dadurch entstanden, daß man - die Verwirrungen der herrschenden Urteilstheorie geben genuß Anlaß dazu - die Prädikation mit der Position verwechselte. Aber selbst darin stimmen viele mit EWALD überein,, daß sie das Prinzip der Evidenz innerer Wahrnehmung für die Proklamation der Untrüglichkeit aller Aussagen des Psychologen halten. SYDNEY HERBERT MELLONE - um seinen Aufsatz über die Natur des Selbstbewußtseins (46) hier zu nennen - ist mit mir einer Meinung, daß before any fact can be known to any extent, or thought about [:Prädikation] ... ist must be felt [bewußt]. [Bevor irgendeine Tatsache in irgendeinem Ausmaß gewußt werden oder überhaupt nur daran gedacht/bezeichnet werden kann, muß sie bewußt gemacht sein. - wp] Dennoch bemüht er sich noch zu zeigen, daß das so Gegebene vom Psychologen erst discriminated [differenziert - wp] und interpreted werden muß, und daher von einer immediate certainty [unmittelbaren Gewißheit - wp] und einem absolutely self-evidencing character keine Rede sein kann.

Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß dies nicht unsere Auffassung der Sache ist. Wohl hat man manchmal - so BENEKE - die Forderung einer "rein auf unser Selbstbewußtsein gegründeten Psychologie" erhoben (47) und sofern damit gemeint sein sollte, daß wir die Gesetze der Psychologie einfach anschauen und es neben der Wahrnehmung keiner weiteren Interpretation bedarf, stimmen wir EWALD und SAMUEL in der Verurteilung dieser Auffassung ohne weiteres zu. Auf eine so extreme Ansicht würde PAUL STERNs Wort vom naiven Realismus der inneren Wahrnehmung zutreffen. (48)

Freilich ist es nun merkwürdig, wenn gerade von denen, welche die unzureichende Kraft der Anschauung so energisch betont haben und die also auf die Verarbeitung ein großes Gewicht legen sollten, nun wiederum gegen die Möglichkeit einer solchen Stellung genommen wird. So stellt SAMUEL fest, daß die Methode der Introspektion nicht bei allen Forschern das gleiche Resultat hervorgebracht hat und schließt:
    "Wenn wir ein gewisses Beobachtungsmaterial erst sichten, prüfen, wenn man gewisse Methoden der Erfahrung oder Beobachtung erst anwenden zu müssen glaubt, etc. etc., all das hat ja gar keinen Sinn, wenn jeder Akt innerer Wahrnehmung schlechthin evident und untrüglich wäre." (49)
Unsere Ausführungen haben demgegenüber gezeigt, wie die innere Wahrnehmung - wenn sie auch erst verarbeitet werden muß, um dem Psychologen brauchbare allgemeine Gesetze zu liefern (50) - ihm dennoch ganz unentbehrlich ist. Nicht nur erschaut er hier die Hauptbegriffe seiner Wissenschaft, schöpft von hier den Begriff einer Vorstellung, eines Urteils, eines Willensaktes, den Begriff des Gegenstandes als solchen usw. Das könnte er auch ohne die Einsichtigkeit der Wahrnehmung. Indem die innere Wahrnehmung aber evident ist, macht sie Empirie überhaupt erst möglich (51) und eröffnet die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Verarbeitung und Erklärung - der Erfahrung.
LITERATUR - Hugo Bergmann, Untersuchungen zum Problem der Evidenz der inneren Wahrnehmung, Halle/Saale 19083
    Anmerkungen
    1) Über die verschiedenen Gebrauchsweisen des Terminus "Wahrnehmung" siehe EISLER, Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Eine ziemlich vollständige Übersicht bei DIEM, Das Wesen der Anschauung (1899).
    2) ÜBERWEG, System der Logik, 1865, Seite 64.
    3) REHMKE, Psychologie, 1894, Seite 12/13.
    4) Zur Geschichte des Terminus "innerer Sinn" vgl. VAIHINGER, Kommentar zu Kants "Kr. d. r. V.", Bd. II, Seite 125f (1892); RADEMAKER, Kants Lehre vom inneren Sinn (1908), bes. § 2.
    5) Jüngst betonten wieder CORNELIUS (Psychologie als Erfahrungswissenschaft, 1897, Seite 182) und PFÄNDER (Phänomenologie des Wollens, 1900, Seite 25), daß auch bei der Untersuchung der Empfindung diese Sonderung durchzuführen ist. Vgl. auch EISENMEIER, Helligkeitsfrage (1905) Seite 2, Anm. 1; STUMPF, Zur Einteilung der Wissenschaften (1906), Seite 31; MARTY, Untersuchung zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie, Bd. I (1908), Seite 52f; MESSER, Empfindung und Denken (1908) Seite 12f.
    6) Vgl. MARTY, a. a. O., Seite 433f (im Folgenden zitiert als "Sprachphilosophie".
    7) MARTY, a. a. O., Seite 456, 458
    8) MARTY, a. a. O., Seite 436 A.
    9) Vgl. MARTY, Über subjektlose Sätze, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 19, Seite 76f.
    10) MARTY, Sprachphilosophie I, Seite 438f, 445, 457. Vgl. auch STUMPF, Erscheinungen und psychische Funktionen, (1906) Seite 33; BÜHLER, Über Gedanken (Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. IX, Seite 358).
    11) HUSSERL, Logische Untersuchungen II (1901) Seite 617/18.
    12) BOLZANO, Wissenschaftslehre I (1837), Seite 328.
    13) BRENTANO, Psychologie I, Seite 276f. Ursprung sittlicher Erkenntnis, Seite 57. HILLEBRAND, Die neuen Theorien der kategorischen Schlüsse (1891) Seite 95f. Die Bezeichnung "thetische Urteile" stammt von MARTY, Subjektloses Sätze, a. a. O., Bd. 19, Seite 298.
    14) BRENTANO, Psychologie I, Seite 279.
    15) WUNDT, Physiologische Psychologie I, (1893), Seite 281; ENOCH, Der Begriff der Wahrnehmung (1890), § 24. Ebenso SCHRADER, Grundlegung der Psychologie des Urteils (1903) Seite 68; AMESEDER, Über Vorstellungsproduktion, in den Untersuchungen zur Gegenstandstheorie (1904), Seite 484f; EBBINGHAUS, Grundriß der Psychologie (1908) Seite 97; GEYSER, Lehrbuch der Psychologie (1908); MESSER, Empfindung und Denken (1908). F. E. O. SCHULTZE setzt den Wahrnehmungen als von komplexer Natur die "Erscheinungen" entgegen (Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. VIII, Seite 300). Ferner gebrauchen insbesondere die Physiologen vielfach "Empfindung", wo wir "Wahrnehmung" sagen.
    16) MARTY, Farbensinn, Seite 40f. Vgl. auch UPHUES, Psychologie des Erkennens I, Seite 169; RIEHL, Philosophischer Kritizismus II (1879), Seite 43.
    17) CORNELIUS hat hier in BOLZANO einen Vorgänger, der solche Urteile gleichfalls für unmittelbar erklärte und für irrtumslos hielt (Wissenschaftslehre § 42, Seite 181).
    18) JOHANNES VOLKELT, Quellen der menschlichen Gewißheit (1906) Seite 11
    19) HEINRICH MAIER, Psychologie des emotionalen Denkens (1908) Seite 165.
    20) MAIER, a. a. O., Seite 149
    21) MAIER, a. a. O., Seite 167, Anmerkung
    22) Daß die Ableitung des Wortes "wahrnehmen" von "wahr" etymologisch falsch ist, ist schon oft gesagt worden. MEINONG, der (Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens, 1906, Seite 35) nur evidente Wahrnehmungen als solche bezeichnet, muß doch wieder den Terminus "Aspekt" für "wahrnehmungsartige Erlebnisse" bilden. Vgl. auch HUSSERL, Logische Untersuchungen II, Seite 327.
    23) MARTY, Sprachphilosophie I, Kap. VI
    24) Ideelle Ähnlichkeit - nicht etwa Ähnlichkeit im gewöhnlichen Sinne; sondern die Ähnlichkeit, wie sie eben nur zwischen der Idee oder der Vorstellung und ihrem Gegenstand besteht. Vgl. über BIELs "naturalis similitudo" weiter unten § 17.
    25) MARTY, a. a. O., Seite 425
    26) MESSER, a. a. O., Seite 8
    27) ENOCH, Begriff der Wahrnehmung (1890); PALÁGY, Logik auf dem Scheideweg (1903) Seite 96. SAMUEL gar meint (Hat die innere Wahrnehmung einen Vorzug etc., 1907, Seite 117), um zu wissen, ob meine Wahrnehmung eine innere oder äußere ist, müßte ich die vollständige Kenntnis dessen haben, was von innen, was von außen kommt, "eine Erkenntnis, die schließlich ans Mystische streift". Bei ihm wie auch schon bei CORNELIUS (Einleitung in die Philosophie, 1902, Seite 178), erregt die Bezeichnung "physisch" und "psychisch" für die beiden so verschiedenen Klassen von Phänomenen Anstoß. Doch handelt es sich bei der Wahl dieser Namen durchaus nicht um irgendeine Vorwegnahme metaphysischer Untersuchungen.
    28) Vgl. HERMANN SCHWARZ, Umwälzung der Wahrnehmungshypothesen, 1895, Seite 174.
    29) BENEKE, System der Metaphysik, Seite 68/69. (Vgl. SAMUEL, a. a. O., Seite 20) VOLKMANN, Psychologie II, 1876, Seite 178; JOHANN WOLFF, Bewußtsein und sein Objekt, Seite 603; JULIUS BERGMANN, Der Gegenstand der Wahrnehmung und das Ding-ansich, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 100, Seite 55; UPHUES, Psychologie des Erkennens I, Seite 161; BRENTANO, Psychologie, Seite 182f.
    30) Wenn PALÁGY (a. a. O., Seite 91) hervorhebt, eine bewußtlose Empfindung und eine empfindungslose Bewußtheit könnten sich nicht zu einem Bewußtsein von Empfindung addieren und (Seite 96) mit der Zweizahl von Begriffen sei noch keine Zweizahl von Tatbeständen gegeben, so hat er sicher Recht. Aber er hat offenbar für die Evidenz einer inneren Wahrnehmung gesprochen und gesegnet, wo er fluchen sollte.
    31) BRENTANO, Psychologie I, Seite 184
    32) BRENTANO, ebd.
    33) vgl. unten § 10.
    34) BRENTANO, Psychologie, Seite 133f; MARTY, Sprachphilosophie I, Seite 243, Anm.
    35) KANT, Kritik der reinen Vernunft, Ausgabe KEHRBACH, Seite 77
    36) FRISCHEISEN-KÖHLER, Die Realität der sinnlichen Erscheinungen, Annalen der Naturphilosophie, Bd. VI, 1907, Seite 306
    37) STUMPF, Zur Einteilung der Wissenschaften, 1906, Seite 13f.
    38) EWALD, Kants Methodologie, 1906, Seite 52.
    39) JULIUS BERGMANN, Gegenstand der Wahrnehmung etc., a. a. O., Seite 40) Die allgemeinen Gesetze der Naturwissenschaften freilich sind Verwerfungen unmöglicher Gegenstände. Nur so ist von ihrer Allgemeinheit Rechenschaft zu geben. Ihrer Aufstellung aber gehen die einzenlen Feststellungen voraus, von denen wir reden.
    40) MEINONG, a. a. O., Seite 21
    41) MARTY, Sprachphilosophie I, Seite 64/65.
    42) MARTY, a. a. O., Seite 436 Anm., bezeichnet als die Elemente der durch eine Synthese gebildeten Vorstellungen die imperzeptiven, kompzerzeptiven und reflexiven Begriffe, nicht aber die anschaulichen oder perzeptiven Vorstellungen.
    43) MARTY, a. a. O., Seite 424
    44) MARTY, a. a. O., Seite 424
    45) EWALD, a. a. O., Seite 51f.
    46) Mind, 1901, Seite 318f; PALÁGY, Logik auf dem Scheideweg, Seite 104f; RENNER, Philosophische Wochenschrift, Bd. III, 1906, Seite 194. Ich stimme also ganz mit DÜRR darin überein, daß es ein vollständiges Mißverständni ist, zu meinen, daß die für Anschauungen einer gegenwärtigen psychischen Wirklichkeit in Anspruch genommene Evidenz "allen Sätzen der Psychologie oder vielleicht gar nur solchen zukommt" (Grenzen der Gewißheit, Seite 99). Vgl. auch EBBINGHAUS in der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 1895, Seite 200; STUMPF, Zur Einteilung der Wissenschaften, 1906, Seite 5.
    47) vgl. die zitierte Schrift SAMUELs, Seite 63.
    48) PAUL STERN, Das Problem der Gegebenheit, 1903, Seite 11.
    49) SAMUEL, a. a. O., Seite 129; KÜLPE, Philosophie der Gegenwart, zweite Auflage, Seite 107.
    50) Nicht nur, weil sie anschaulich ist, muß die innere Wahrnehmung vom Psychologen in Begriffen erst interpretiert werden, auch sonst muß sie mannigfach ergänzt werden. Sagt sie ja doch nichts über die vergangenen und nichts über die fremden Bewußtseinserscheinungen usw. All das ist ja im Streit um die Tragweite der inneren Beobachtung oft gesagt worden. (vgl. KÜLPE, Einleitung in die Philosophie, dritte Auflage, 1903, Seite 273f und die ganze bei SCHRADER, a. a. O., Seite 17 aufgezählte Literatur.
    51) JULIUS BERGMANN, Gegenstände der Wahrnehmung, Seite 74f; VOLKELT, Das Recht des Individualismus, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 111, Seite 3. Vgl. auch MARTY, Sprachphilosophie I, Seite 13 und 318.