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JOSEF EISENMEIER
Die Psychologie und ihre
zentrale Stellung in der Philosophie

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"Die philosophischen Leistungen bieten in ihrer Aufeinanderfolge das Schauspiel eines immer wiederkehrenden Auf und Ab: Irrtümer, die längst als solche erwiesen sind, tauchen stets von Neuem in wenig verändertem Gewand auf, finden eine eifrige Anhängerschaft und gelten mitunter durch längere Zeit als abschließende Weisheit; und auch Wahrheiten, die schon vor Jahrhunderten mit den triftigsten Argumenten bewiesen worden sind, werden immer wieder geleugnet und bekämpft, als wäre noch nie ein brauchbares Wort zu ihrer Begründung und Verteidigung gesprochen worden."

"Man erinnere sich nur daran, wie hartnäckig Francis Bacon, der sogenannte Begründer der induktiven Forschungsmethode, Galileis Lehren bekämpfte. Sein mittelalterliches Denken stand dieser neuen, epochemachenden Erscheinung ganz verständnislos gegenüber. Er schreibt 1617 an einen Freund: Ich wollte, die Astronomen Italiens hielten sich etwas mehr an die Erfahrung und Beobachtung, anstatt uns mit chimärischen und verrückten Hypothesen zu unterhalten."

"Es ist nur eine gelehrte Fiktion, daß der echte Mann der Wissenschaft ausschließlich durch die reine Forscherfreude bestimmt wird. Ich denke da natürlich nicht an jene Fälle, wo die wissenschaftliche Leistung nur durch grobpraktische Motive veranlaßt und gerichtet wird. Aber auch der vorbildliche Forscher wird in seinem Tun und Lassen nur durch Interessen, wenn auch hohe und ideale Interessen, bestimmt; er ist nie und nimmer eine bloße Erkenntnismaschine."

Vorwort

Die hier angeführten Gedanken sind schon seit einigen
Jahren bei mir ausgereift. Sie verdanken ihre Entste- hung also nicht dem kürzlich geführten Streit; aber wohl wären sie ohne ihn zumindest nicht gesondert dargestellt worden. Ich vermißte überall eine energische Betonung der inneren Gründe für das Zusammengehen der Philosophie und der Psychologie; diesem Mangel wollte ich abhelfen. Trotzdem möchte ich nicht, daß die folgenden Blätter geradezu als Streitschrift gewertet würden. Ich wollte vielmehr Positives leisten und ein einwandfreies Programm wissenschaftlich-philosophischer Forschung entwerfen. Wegen dieser positiven Tendenz habe ich es mir auch fast durchwegs versagt, andere Auffassungen ausführlich zu bekämpfen; und damit hängt es zusammen, daß auch die Literatur wenig berücksichtigt zu sein scheint. Sie ist es nicht. Hätte ich aber alle Polemik, die ja in reichster Fülle zu Gebote stünde, aufnehmen wollen, dann wäre das beabsichtigte Programm wohl in der Masse der Streitgründe erstickt. Ich habe darauf verzichtet, einen umfangreichen Band zu schreiben, und hoffe trotzdem, daß bei so grundlegenden Fragen niemand im Zweifel sein wird, wie weit die gegenseitige Übereinstimmung reicht, und wo die wesentlichen Differenzen beginnen. Auch diejenigen Punkte, betreffs welcher meine Darstellung nicht überzeugend wirken sollte, müssen sich schließlich mit wissenschaftlichen Gründen zu einer abschließenden Klarheit führen lassen.



1. Das Verhältnis der Philosophie
zur Psychologie

§ 1. Kein anderer Forschungszweig sieht sich so ungeheuren Schwierigkeiten gegenüber wie die Philosophie. Vielleicht gerade deswegen tritt zu diesen Hemmnissen der Forschung, die in der Natur ihres Gegenstandes begründet sind, noch ein neues, künstlich geschaffenes hinzu. Nicht nur, daß in der Philosophie fast alle Problemstellungen und folgerichtig auch alle Problemlösungen strittig sind; auch die philosophischen Leistungen bieten in ihrer Aufeinanderfolge das Schauspiel einer immer wiederkehrenden Auf und Ab: Irrtümer, die längst als solche erwiesen sind, tauchen stets von Neuem in wenig verändertem Gewand auf, finden eine eifrige Anhängerschaft und gelten mitunter durch längere Zeit als abschließende Weisheit; und auch Wahrheiten, die schon vor Jahrhunderten mit den triftigsten Argumenten bewiesen worden sind, werden immer wieder geleugnet und bekämpft, als wäre noch nie ein brauchbares Wort zu ihrer Begründung und Verteidigung gesprochen worden. Ja, was dem Außenstehenden besonders unerklärlich erscheinen muß, nicht einmal über den Gegenstand und die Aufgaben, noch auch über die Methoden philosophischer Forschung sind die Ansichten der Philosophen einig. Weder die Zeitgenossen stimmen da überein, noch auch läßt sich ein stetiger Fortschritt in der Klärung dieser Probleme feststellen.

Auch betreffs unserer Frage nach dem Verhältnis der Psychologie zur übrigen Philosophie gilt das eben Ausgeführte. Es hat Zeiten gegeben, in welchen man dieses Problem gar nicht kannte; dann wieder hat man die psychologische Forschung ganz vom philosophischen Betrieb ausgeschaltet; später wieder wurden die psychologischen Probleme in ihrer hohen Bedeutung für alle Philosophie anerkannt und wieder verkannt und schließlich wurde ihnen jeder Wert abgesprochen usw. Wir brauchen sogar nur wenige Jahre zurückgehen, und genügend Dokumente dieses Schaukelspiels stehens uns zur Verfügung.

Im Jahr 1896 erschien ein kleines Schriftchen von FELIX KRUEGER mit dem Titel: "Ist Philosophie ohne Psychologie möglich? Eine Erwiderung." Offenbar war es des Verfassers Absicht, nur gegen die unpassende Schreibweise eines jungen Philosophen aufzutreten, der sich ein Urteil über die richtige und zweckmäßige Methode philosophischer Forschung anmaßte, während er doch durch die autoritative Begründung seiner Behauptungen sich selbst als ganz unwissenschaftlichen Geist charakterisierte. Ganz deutlich argumentiert KRUEGER hauptsächlich gegen die scheinwissenschaftliche Philosophie; mit den wissenschaftlichen Philosophen fühlt er sich offenbar ganz eines Sines, wenn er lehrt, Philosophie als Wissenschaft sei ganz unmöglich ohne Psychologie, ferner wissenschaftliche Psychologie und empirische Psychologie seien identische Begrifffe. Und er hatte alles Recht zu einer solchen Zuversicht. Denn alle führenden Geister der damaligen philosophischen Welt und wohl auch alle jungen Adepten der Philosophie standen auf dem gleichen Standpunkt. Die psychologische Forschung wurde als die Grundlage aller Philosophie angesehen, und ebenso verstanden alle unter der Psychologie nur die empirische Psychologie. Das schien nun ein für allemal Gemeingut aller wissenschaftlichen Philosophie geworden zu sein und man sollte erwarten, daß heute - nach 18 Jahren - diese Erkenntnis nicht nur weiter festgehalten wird, sondern auch schon mannigfacht weitergeführt und praktisch verwertet worden ist.

Stattdessen wurde in jüngster Zeit - allerdings mehr durch praktische als durch theoretische Erwägungen veranlaßt - wiederum eine lebhafte Debatte über die Stellung der Psychologie zur Philosophie geführt, geradeso als wäre nie ein klärendes Wort zu dieser Frage gesprochen worden.

§ 2. Zwar ist zunächst nur von der sogenannten experimentellen Psychologie die Rede gewesen. Aber daß die Psychologie überhaupt gemeint war und gemeint sein muß, läßt sich ja leicht zeigen. HILLEBRAND (1) hat dies schon ausgeführt und auch von anderen Teilnehmern an der Debatte ist die Psychologie nicht erkennbar von der experimentellen Psychologie getrennt worden; zumindest nicht, soweit die einzigmögliche, wissenschaftlich allein berechtigte Psychologie in Frage kommt; und das kann nur die empirische Psychologie sein. Allerdings, wer auch heute noch von einer aprioristischen, spekulativen Behandlung psychologischer Fragen Ergebnisse erwartet, der kann von einer anderen, sogenannten rationalen Psychologie sprechen, die er dann etwa im Rahmen der Philosophie duldet. Für die philosophie Wissenschaft aber ist die spekulative Psychologie endgültig abgetan, mag sie nun reine oder rationale oder philosophische Psychologie oder wie auch immer genannt werden. Die wissenschaftliche Psychologie ist die empirische; eine andere gibt es nicht, wie KRUEGER (2) in Übereinstimmung mit allen wissenschaftlichen Psychologen betont:
    "Die Psychologie ist eine empirische oder Erfahrungswissenschaft; denn von Tatsachen der Erfahrung hat sie auszugehen. Die empirisch gegebenen Bewußtseinserscheinungen will sie beschreiben und klassifizieren; sie will durch Analyse und Vergleichung kompliziertere Phänomene auf einfachere zurückführen, zusammengehörige unter gemeinsame Bezeichnungen begrifflich zusammenordnen; schließlich strebt sie, und darin besteht ihre eigentliche Aufgabe, das psychische Leben in seiner ganzen Mannigfaltigkeit als ein gesetzmäßiges zu begreifen." (3)
Die wissenschaftliche, d. h. also die empirische Psychologie kann unmöglich eine Spaltung in einen experimentellen und in einen nicht-experimentellen Teil anerkennen. Die induktive Methode aller empirischen Wissenschaften kennt als Hauptrüstzeuge zur Feststellung der Tatsachen, aus welchen die Gesetze abzuleiten sind, eben die Beobachtung und das Experiment. Das Experiment aber ist nichts anderes als die künstliche Erzeugung der Tatsachen zum Zweck einer besseren Beobachtungsmöglichkeit. Von einem guten Experiment verlangt man daher mit Recht, es soll uns die Tatsachen in solcher Weise vorführen, daß für uns auch ganz besonders günstige Beobachtungsbedingungen vorliegen. Darin besteht ja hauptsächlich die Überlegenheit des Experiments gegenüber der bloßen Beobachtung, die den Forscher wiederholt vor die schwierigsten Aufgabe stellt, wenn er die einzelnen Tatsachen isolieren und aus den natürlich gegebenen verwickelten Komplexen herauslösen will. Begreiflicherweise strebt daher alle empirische Forschung danach, für die Anwendbarkeit des Experiments den allerbreitesten Raum zu gewinnen; und als besonders günstig wird die Lage jener empirischen Disziplin betrachtet, welche alle oder doch zumindest die meisten Tatsachen ihres Forschungsgebietes dem Experiment unterwerfen kann. Wo sich ein Tatsachengebiet der experimentellen Behandlung als unzugänglich erweist, da wird dieser Umstand immer wieder bedauert, und man empfindet es als einen Mangel und als eine besondere Schwierigkeit, wenn man auf die bloße Beobachtung angewiesen bleibt.

Soll das nun alles bei der empirischen Psychologie anders sein? Hier soll plötzlich das Experimentieren "eine banausische Kunst" sein, unwürdig des echten, höher veranlagten Forschers, gut genug aber für den "wissenschaftlichen Handwerker"? (4)

Daß solche Urteile heute immer noch möglich sind, zeugt nicht im mindesten gegen die Bedeutung des psychologischen Experimentes, aber laut und vernehmlich für den zurückgebliebenen Zustand wissenschaftlich-philosophischer Forschung. Auch die anderen empirischen Disziplinen haben Zeiten erlebt, in welchen ihnen gegenüber ganz ähnliche Urteile ausgesprochen wurden; aber diese Zeiten gehören endgültig der Vergangenheit an. Man erinnere sich nur z. B. daran, wie hartnäckig FRANCIS BACON, der sogenannte Begründer der induktiven Forschungsmethode, GALILEIs Lehren bekämpfte. Sein mittelalterliches Denken stand dieser neuen, epochemachenden Erscheinung ganz verständnislos gegenüber. Er schreibt im Jahr 1617 an einen Freund:
    "Ich wollte lieber, die Astronomen Italiens hielten sich etwas mehr an die Erfahrung und Beobachtung, anstatt uns mit chimärischen und verrückten Hypothesen zu unterhalten." (5)
Andere Erfahrungswissenschaften machten den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit später durch, die Physiologie erst im 19. Jahrhundert; und die Psychologie und mit ihr die Philosophie scheint ihn eben erst zu erleben HELMHOLTZ (6) berichtet uns aus seinen jungen Jahren:
    "Ein durch bedeutende literarische Tätigkeit berühmter, als Redner und geistreicher Mann gefeierter Professor der Physiologie jener Zeit hatte einen Streit über die Bilder im Auge mit dem Kollegen von der Physik. Der Physiker forderte den Physiolgen auf, zu ihm zu kommen und den Versuch zu sehen. Der letztere wies dieses Ansinnen entrüstet zurück: ein Physiologe habe mit Versuchen nichts zu tun, die seien gut für den Physiker. Ein anderer bejahrter und hochgelehrter Professor der Arzneimittellehre, der sich viel mit der Reorganisation der Universitäten beschäftigte, um die gute alte Zeit wieder zurückzuführen, drang inständigst in mich, die Physiologie zu teilen, den eigentlich gedanklichen Teil selbst vorzutragen und die niedere experimentelle Seite einem Kollegen zu überlassen, den er dafür als gut genug ansah. Er gab mich auf, als ich ihm erklärte, ich selbst betrachtete die Experimente als die eigentliche Basis der Wissenschaft."
Man braucht nur einige Worte durch andere zu ersetzen und der ganze Bericht HELMHOLTZs stimmt für die heutigen Zustände in der Psychologie. Nur der "gedankliche Teil" soll eines wirklich bedeutenden, philosophischen Psychologen würdig sein; "den Versuch zu sehen" oder gar selbst anzustellen, muß der "reine" Philosoph "entrüstet zurückweisen". Freilich, auch für die Psychologie muß und wird eine Zeit kommen, wann man von derlei Ansichten nur unter dem Titel "Es war einmal" wird berichten dürfen. Wir wollen hoffen, daß dieser Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit der Psychologie recht bald seinen definitiven Abschluß findet. Dann wird es unter allen Psychologen als selbstverständlich gelten, daß die wissenschaftliche, also empirische Psychologie sich immer und überall, wo es nur angeht, des Experiments bedient.

Es ist ja bekannt, daß erst wenige psychische Tatsachengruppen dem Experiment unterworfen werden konnten. Bei allen anderen sind bis zum heutigen Tag noch keine brauchbaren Experimentiermethoden erfunden worden. Vielleicht gelingt aber später auch hier die Anwendung des Experiments. Mag das aber wie auch immer werden: eines ist jedenfalls sicher: ist ein Gebiet psychischer Tatsachen nachweisbar einer experimentellen Behandlung fähig, dann wäre es in Widerspruch mit aller induktiven Forschungsmethode, wenn die psychologische Wissenschaft auf die experimentelle Behandlung dieses Gebietes von vornherein verzichten würde. In jeder anderen empirischen Disziplin wäre es selbstverständlich, daß man sich solche Schranken weder auflegen soll noch darf. Empirisch forschen heißt eben so weit wie möglich experimentieren. Grenzen für die Anwendbarkeit des Experiments sind nur einerseits unser positiver Machtbereich, andererseits sehr wohl begründete moralische Rücksichten. Wo die Mittel zur künstlichen Erzeugung der Tatsachen fehlen, da kann ich nicht experimentieren; wo durch das Experiment das Ziel der Ethik gefährdet ist, da soll ich nicht experimentieren. Wo aber das Experiment möglich und erlaubt ist, kann nur die experimentelle Behandlung des betreffenden Problems wissenschaftlich genannt werden. Jede andere Methode steht dann nicht mehr auf der Höhe der zeitgenössischen Wissenschaft, ist ein Relikt aus früheren Stadien wissenschaftlichen Betriebes. Wer heutzutage z. B. Sinnespsychologie betreiben will ohne Verwendung des Experiments, der befindet sich eben in einem Stadium sinnespsychologischer Forschung, das Jahrzehnte hinter uns liegt; fast könnte man sogar sagen: Jahrtausende. Denn auch von ARISTOTELES schon sind kleine sinnespsychologische Experimente überliefert.

Allerdings dürfen wir uns keinen Jllusionen hingeben. Wir müssen vielmehr gestehen, daß noch weite Partien der Psychologie sich bisher der Anwendung des Experiments unzugänglich gezeigt haben. Das ist wohl zunächst nur eine Folge des zurückgebliebenen Zustandes aller psychologischen Forschung. In vielen Fällen jedoch wird dieser Mangel wohl dauernd bestehen bleiben; zumindest müssen wir mit dieser Möglichkeit rechnen. Ich bin überzeugt, daß gerade die sehr eng begrenzte Anwendbarkeit des psychologischen Experiments die stärkste Stütze geliefert hat für die heute noch bestehenden spekulativen Tendenzen und füür die meistens im Verborgenen blühende, bisweilen aber auch öffentlich kundgegebene Geringschätzung aller experimentell-psychologischen Forschung. Schon ein altes Sprichwort lehrt ja: "Was man wünscht, das glaubt man gern." Wir aber müssen dessen ungeachtet oder vielleicht gerade deshalb immer wieder feststellen, ein wie geringer Teil der psychologischen Probleme bis zum heutigen Tag einer experimentellen Behandlung unterworfen werden konnte. Auch ist der echten wissenschaftlichen Psychologie sicher nicht damit gedient, wenn man dort, wo keine brauchbaren Experimentiermethoden bekannt sind, Scheinexperimente einführt, welche jedenfalls die psychologische Erkenntnis nicht fördern können, dafür aber geradezu Propaganda machen für jene "reine", nicht-experimentelle Psychologie. Die Erfahrungswissenschaft hat ja noch andere Forschungsmethoden zur Verfügung, die ganz brauchbare Mittel zum Erkenntniserwerb sind, wenn sie auch nicht die großen Vorzüge des Experiments aufweisen. Vor allem sind die reinen Beobachtungsmethoden hierher zu zählen. Es gibt auch andere Zweige empirischer Forschung, wo ein Experimentieren fast vollständig ausgeschlossen ist, ohne daß doch deshalb auf spekulative Methoden rekurriert oder gar an der der Möglichkeit der Erkenntnisgewinnung gezweifelt worden wäre. Man denke etwa nur an das Beispiel der Astronomie. Fast nie ist da ein Experiment möglich. Wir sind fast immer auf die bloße Beobachtung der Erfahrungstatsachen angewiesen, wie sie der von uns unbeeinflußte Naturablauf bietet. Und doch, welche großartige Entwicklung hat diese Disziplin genommen! Freilich sind ihre Tatsachen und daher auch ihre Gesetze unvergleichlich einfacher als die der Psychologie. Aber auch die komplizierten Tatsachen des psychischen Geschehens müssen sich einer systematischen, methodischen und zielbewußten Behandlung enthüllen, mögen sie nun mit künstlichen Mitteln erzeugt und beobachtet werden oder uns bloß in ihrem unbeeinflußten Verlauf zugänglich sein.

Entscheidend ist nur, daß wir niemals die Methoden der empirischen Forschung verlassen; der Erfolg muß über kurz oder lang der unsere werden. Halten wir diesen Grundsatz fest, dann ergibt sich ohne weiteres der Weg, wie psychologische Probleme zu lösen sind. Zunächst sind die psychischen Tatsachen festzustellen, möglichst exakt zu beschreiben, zu analysieren und durch eine zweckmäßige Klassifikation übersichtlich zu ordnen. Den Weg hierzu liefert die Beobachtung und das Experiment. Erst wenn diese deskriptive Arbeit mit aller Gewissenhaftigkeit erledigt ist, dann können wir uns unserem eigentlichen Ziel zuwenden, nämlich die psychischen Tatsachen zu erklären, d. h. sie als Ausfluß bestimmter Notwendigkeiten zu erkennen. Diese genetisch-erklärende Arbeit muß ebenso systematisch erledigt werden, indem zunächst nur die spezielleren Gesetze festgestellt und erst aufgrund der völlig gesicherten speziellen Notwendigkeiten die umfassenderen und allgemeinsten Gesetze des psychischen Lebens gewonnen werden. Kurz gesagt: auch für die Psychologie gilt nur die induktive Logik, wobei die induktiven Methoden selbstverständlich dem besonderen Gegenstand der Forschung sorgfältig anzupassen sind. Es würde hier zu weit führen, diese spezielle psychologische induktive Methodik zu schildern. Uns handelt es sich ja nur darum, den empirischen Charakter der Psychologie zu betonen und gegen allgemeine Mißdeutungen zu verteidigen.

Es gibt sicher nicht zwei Arten von Psychologie: eine experimentelle und eine "höhere", "philosophische" Psychologie. Nur eine wissenschaftliche Psychologie besteht zu Recht, jene, die durchwegs mit den Methoden empirischer Forschung arbeitet, als auch immer experimentiert, wo dies möglich und zulässig ist. -

Oder will man der Trennung der Psychologie in einen experimentellen und einen nicht-experimentellen Teil in dem Sinne das Wort reden, daß jene psychischen Tatsachengebiete, für welche noch keine brauchbare Experimentiermethode bekannt ist, prinzipiell anderen Forschern überantwortet werden sollen, hingegen nur die experimentell festgestellten Tatsachen und Gesetze den experimentellen Psychologen? Daraufhin müßte ja, bei einer weiteren Entwicklung der Experimentiermethoden, die experimentelle Psychologie immer mehr anwachsen, andererseits das Arbeitsgebiet jener Psychologen, welche bloß beobachten, immer mehr zusammenschrumpfen.

Ebensowenig kann aber doch gemeint sein, dieselben Probleme seien von verschiedenen Forschern in verschiedener Weise zu behandeln, so daß der experimentelle Psychologe die psychischen Tatsachen und Gesetze etwa mit dem Experiment, der nicht-experimentelle Psychologe hingegen dieselben Tatsachen und Gesetze mit der bloßen Beobachtung festellen sollte.

Man mag die Sache drehen und wenden wie man will: es läßt sich der Forderung, die "philosophische" Psychologie von der experimentellen zu trennen, kein brauchbarer Sinn geben. Es bleibt nur die Alternative übrig: Entweder ist alle Psychologie von der Philosophie abzutrennen, oder die ganze Psychologie gehört zur Philosophie, mag sie nun Experimente anstellen oder mit bloßer Beobachtung arbeiten oder sonstwie den empirischen Tatsachen und Gesetzen ihres Forschungsgebietes nachgehen. Dies müssen wir uns ständig vor Augen halten, wenn wir überhaupt Klarheit darüber gewinnen wollen, ob die Trennung der Psychologie von der Philosophie zu befürworten sein soll oder nicht.

Von der Philosophie! Ja, von welcher Art Philosophie? So könnte man nun fragen. Offenbar ist doch die Antwort auf unsere Frage ganz beeinflußt vom philosophischen Standpunkt des Antwortenden; und - so könnte es scheinen - vor allem sei dieser philosophische Standpunkt zu charakterisieren und gegenüber anderen zu verteidigen. Doch liegt es mir fern, mich hier mit allen möglichen Definitionen der "Philosophie" und der berüchtigten "philosophischen Standpunkte" auseinandersetzen zu wollen. Ganz aussichtslos wäre es ja, da eine Einigung durch das theoretische Abwägen des Für und Wider erzielen zu wollen. Schließlich ist es ja Geschmackssache, ob man mit dem Namen "Philosophie" eine Begriffsdichtung beehren will und nur nach einer solchen "Philosophie" strebt - oder ob man die Philosophie als Wissenschaft auffaßt und daher von ihr verlangt, sie solle Erkenntnisse anstreben, triftige Gründe für ihre Aufstellungen liefern und nichts als gesicherte Wahrheit ausgeben, was nicht nach allen Regeln exakter Forschung als solche gelten kann. Ich reflektiere nur auf die wissenschaftliche Philosophie und will nur für diese entscheiden, ob sie ohne die Psychologie existieren kann.

Für jene dichterische, spekulative, sogenannten reine "Philosophie" mögen ganz andere Beziehungen gültig sein. Ich will darüber weder Behauptungen aufstellen, noch auch bekämpfen. Mit dem Wesen dieser "Philosophie" mag es ja harmonieren, wenn die ganze exakt-empirische Forschungsmethode der modernen Psychologie als zu nüchtern, handwerksmäßig, phantasielos und unwürdig der hohen und höchsten Probleme, mit denen sich diese "Philosophie" mit Vorliebe beschäftigt, angesehen wird. Ihren großen Aufgaben kann sie offenbar viel besser gerecht werden mit der phantasievollen, von der Nüchternheit der Tatsachen nie angekränkelten spekulativen Methodik älterer philosophischer Richtungen. Der wissenschaftlichen Philosophie liegt es sicher fern, an dieser Art "Philosophie" mitarbeiten zu wollen. Sie hat ihr ebenso nichts zu bieten, wie sie auch nichts von ihr zu erwarten hat; (7) sie will eben nur Wissenschaft sein und unsere Erkenntnis fördern. Diese reinliche Scheidung ist äußerst zweckmäßig. Denn "reine Wissenschaft und reine Dichtung dauern ewig weiter, nur die prinzipielle Vermischung führt zum Untergang". (8) Dies soll auch im weiteren Verlauf unserer Untersuchung ständig festgehalten werden. Wir wollen also ausschließlich erwägen, ob ein Zusammengehen wissenschaftlicher Philosophie und wissenschaftlicher Psychologie zu fordern ist oder nicht.

§ 3. Sowohl Psychologen wie auch Philosophen wollen das einigende Band zwischen Philosophie und Psychologie durchschneiden, freilich aus wesentlich verschiedenen Gründen.

Einzelne Vertreter der Psychologie - man könnte sie die nur-experimentellen Psychologen nennen - leugnen jede Existenzberechtigung der Philosophie oder identifizieren doch alle Philosophie mit jener "reinen Dichtung", welche mißbräuchlich auch "Philosophie" genannt wird. Nur die Psychologie scheint ihnen einer wissenschaftlichen Behandlung fähig zu sein. Ja, manchmal glaubt man sie so verstehen zu müssen, als wollten sie die psychologische Wissenschaft auf jenen engen Kreis von Aufgaben einschränken, welche einer experimentellen Bearbeitung fähig sind. Offensichtlich ist eine derartig begründete Trennung von Psychologie und Philosophie unhaltbar. Die wissenschaftliche Philosophie kennt eine Menge echter Probleme, wenn auch nur verhältnismäßig wenige einwandfreie Lösungen ihrer Probleme. Die wissenschaftliche Psychologie ist in der gleichen Lage und zieht in den Kreis ihrer Untersuchungen alle echten psychologischen Fragen. Die erwähnten Befürworter der Trennung von Psychologie und Philosophie sind in jenes Fahrwasser eines übertriebenen Spezialistentums gelangt, das nur von den eigenen Spezialinteressen, Spezialmethoden und Spezialkenntnissen Notiz nimmt, nur diese wertet und gar nicht für möglich hält, daß anderwärts auch irgendetwas Bedeutendes geleistet werden könnte. Sie gelten wohl keinem Vorurteilsfreien als maßgebende Richter. Denn wer wollte einen solchen Forscher einen wissenschaftlichen Kopf nennen?

Man mißverstehe mich nicht. Auch ich schätze den kolossalen Wert der wissenschaftlichen Arbeitsteilung und befürworte die weitestgehende Spezialisierung. Auch in der Philosophie muß die Arbeitsteilung immer mehr zur Geltung kommen, je größer der Umfang gesicherter Erkenntnisse und neuer Probleme wird. Die Psychologie allein ist heute schon ein so stattlicher Komplex von Fragen geworden, daß unmöglich ein einzelner Psychologe sich der Erforschung aller wissenschaftlich-psychologischen Probleme widmen kann. Es muß vielmehr auch hier die Spezialisierung noch weitergehen. Um nur eines zu erwähnen, verweise ich darauf, welchen Umfang heute schon die Lehre von der Empfindung, die sogenannte Sinnespsychologie, angenommen hat. Hier ist ein so deutlich differentes Gebiet psychischer Tatsachen vorliegend, daß es nur selbstverständlich ist, wenn die Sinnespsychologie sich als fast ganz selbständiges Gebiet von anderen Teilen psychologischer Forschung abgelöst hat. Ganz spezifische Kenntnisse werden vom Sinnespsychologen verlangt, er hat ganz spezielle Methoden für sein Forschungsgebiet erfinden müssen und muß beständig an der Ausbildung und Vervollkommnung dieser Methoden arbeiten. Dabei nützt dem Kenner der sinnespsychologischen Methoden dieses Wissen fast gar nichts, wenn er an die Bearbeitung anderer Gebiete des psychischen Geschehens herantritt. Mag er die Lehre von der Begriffsbildung in Angriff nehmen oder sich der Erforschung des Urteilsgebietes widmen oder etwa das Gemütsgebiet zu seinem Studium machen, immer wieder steht er ganz neuen Fragen gegenüber, die anders behandelt und anders gelöst sein wollen als die sinnespsychologischen Probleme. Ja, es ist sogar schon zuviel verlangt, wenn von einem einzigen Forscher die volle Vertrautheit mit allen sinnespsychologischen Problemen gefordert wird, oder gar eine wirkliche Forscherarbeit auf allen Gebieten der Empfindungslehre. Nirgends hängt die Möglichkeit erfolgreicher Forschung mehr von den natürlichen Anlagen des Forschers ab als gerade bei der Sinnespsychologie Der eine kann ein ausgezeichneter Vertreter der psychologischen Optik sein, wird aber nie als Tonpsychologe Erfolge erzielen können. Ja, sogar für die Erforschung der sogenannten niederen Empfindungen ist eine besondere Veranlagung vonnöten. Folgerichtig ist auch die Sinnespsychologie heute schon in eine Reihe von Spezialdisziplinen zerfallen, die sich nebeneinander entwickeln und ganz verschiedenen Forschern ihre sehr ungleiche Vervollkommnung verdanken.

Es ist also klar: Auch der Psychologe hat nicht die Verpflichtung, alle Gebiete der psychologischen Forschung gleichmäßig zu beherrschen und zu pflegen. Ja, er wird hierzu immer weniger imstande sein, je weiter sich die psychologische Erkenntnis ausbreitet.

Damit ist jedoch keineswegs befürwortet, hier nun ein ödes Spezialistentum walten zu lassen, so daß sich etwa der eine Spezialist um die Ergebnisse der übrigen psychologischen Forschung überhaupt nicht zu kümmern hätte, als wäre sein spezielles Arbeitsgebit wie mit einer chinesischen Mauer von anderen Arbeitsgebieten abgeschlossen. Die Geschichte der Wissenschaft lehrt eindringlich, daß ein solches übertriebenes Spezialistentum sich noch immer gerächt hat. Die allzugroße Einseitigkeit hatte fast immer Sterilität im Gefolge, und daher waren dann die Ergebnisse auch der Spezialforschung immer dürftiger. Daneben erwuchs aber ein noch viel größerer Schaden für die gesamte Wissenschaft. Indem sich der einzelne Spezialforscher wenig oder gar nicht um die Ergebnisse anderer Forschungszweige kümmerte, konnte es geschehen, daß jede Spezialdiszipli ihre eigenen Irrtümer ungestört weiterverfolgte und sich mit Scheinerklärungen befriedigte, ja diese sogar für allgemeingültig und abschließend hielt, während doch daneben eine andere Spezialdisziplin zu ganz anderen Resultaten gelangt war. Niemand sorgte für die Vereinheitlichung dieser Einzelergebnisse, und so entstand ein unentwirrbares Durcheinander von Theorien, die unmöglich alle zusammen richtig sein konnten. Trat nun irgendein wissenschaftliches Ereignis ein, welches auch die verhärtetsten Spezialisten zwang, auf die Ergebnisse anderer Disziplinen zu reflektieren, so war zunächst die volle Ratlosigkeit die Folge. Dann aber sank das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der wissenschaftlichen Forschungsmethoden so rapide, daß sich wieder einmal der unsinnigste Skeptizismus breitmachte. Es bedurfte einer intensiven Anstrengung, um solche wissenschaftliche Krisen zu überwinden und das verlorene Vertrauen zurückzuerobern.

Will die Wissenschaft solche Krisen vermeiden, dann muß sie sich vor übertriebenem Spezialistentum hüten. Ihre Parole muß sein: Trotz weitestgehender Arbeitsteilung, die sich ja viel zu sehr bewährt hat, als daß sie jemals aufgegeben werden könnte, ist von den einzelnen Forschern eine möglichst universelle Durchbildung zu verlangen und immer wieder von Neuem zu vervollkommnen. Nur so lassen sich die Schäden der wissenschaftlichen Spezialisierung vermeiden oder doch in ungefährlichen Grenzen halten.

Auch die Psychologie muß diesem Prinzip treu bleiben. Sie muß und wird sich immer weiter spezialisieren. Aber jeder Psychologe soll über alle Gebiete der psychologischen Forschung nach Kräften orientiert sein und zumindest den Hauptergebnissen anderer Gebiete seine volle Aufmerksamkeit zuwenden.

Wenn erst einmal alle Psychologen für das gesamte Arbeitsgebiet der Psychologie interessiert sind, dann können ihnen auch nicht die großen Zusammenhänge ihrer Wissenschaft mit der philosophischen Forschung verborgen bleiben, und von dieser Seite wenigstens werden dann sicher alle Rufe verstummen, die heute für die Trennung der Psychologie von der Philosophie erschallen. -

Andere Autoren gehen von der Philosophie aus und treten für die Loslösung der Philosophie von der Psychologie ein, indem sie behaupten, die Psychologie habe bis zum heutigen Tag noch nichts zur Klärung philosophischer Fragen beigetragen und es sei daher auch fernerhin keine derartige Leistung von ihr zu erwarten. Dieser Schluß scheint mir übereilt zu sein. Wäre es selbst richtig, daß die Psychologie noch in keiner Weise an der Lösung philosophischer Probleme erfolgreich mitgearbeitet habe, dann dürften wir noch immer nicht folgern, daß dies auch in Zukunft ausgeschlossen bleiben muß. Es wäre ja noch zu beweisen, daß auch verbesserte Forschungsmethoden und ein erweiterter Erkenntnisschatz der Psychologie gar nichts zum Nutzen der in einem engeren Sinne philosophischen Forschung zu leisten vermögen. Wer hat aber jemals einen solchen Beweis geführt? Ja, das große Gegenteil ist richtig. Aller philosophische Fortschritt ist bedingt durch die Ausbildung der psychologischen Erkenntnis, wie ich im weiteren Verlauf dieser Untersuchung noch ausführen werde. Dieser Satz bestünde auch dann zu Recht, wenn die heutige Psychologie tatsächlich noch gar keine philosophische Einsicht vorbereitet und erzeugt hätte, wenn wir alles erst von der Vervollkommnung der psychologischen Wissenschaft zu erwarten hätten. - Nun steht aber auch die Behauptung, die Psychologie habe noch nichts für die philosophische Erkenntnis geleistet, im Widerspruch zu allbekannten Tatsachen; Tatsachen, die auch im größten Eifer des Streits eigentlich nicht ignoriert werden dürften. Mit mehr Recht könnte man behaupten, daß alles, was die Philosophie an sicheren Erkenntnissen bisher erworben hat, psychologischer Vorarbeit zu verdanken ist. Nur darf man nicht meinen, es sein ein ausschließliches Privileg der psychologischen Spezialisten, die psychischen Tatsachen und Gesetze zu erkennen. An der Grundlegung und Ausbildung der modernen Sinnespsychologie z. B. haben die Physiologen den hervorragendsten Anteil. Andere Zweige psychologischer Forschung wiederum sind von Vertretern anderer Disziplinen gefördert worden und naturgemäß am meisten von den Philosophen selbst. Ob nun aber ein psychologisches Problem von einem Physiker oder einem Pädagogen aufgerollt worden ist, ob seine Lösung einem Pädagogen oder einem Erkenntnistheoretiker oder einem Chemiker zu verdanken ist, kann nicht entscheiden gegen die psychologische Natur der betreffenden Frage. Mag unsere Erkenntnis psychischer Tatsachen und Gesetze woher auch immer rühren, sie bleibt doch ein psychologisches Wissen und ist den Ergebnissen psychologischer Forschung zuzurechnen. Andererseits verdient jemand, der sich Psychologe nennt, diesen Titel nicht, wenn wir ihm gar keinen Fortschritt in der psychologischen Erkenntnis verdanken; noch weniger natürlich, wenn er - ein gar nicht so seltener Fall - fiktive Probleme untersucht und unbrauchbare Methoden verwendet.

Nur die tatsächliche psychologische Erkenntnis hat für die Philosophie Bedeutung gehabt und wird sie immer behalten. Ich will in diesen einleitenden Erörterungen nicht zu ausführlich werden und daher auch nicht etwa eine Aufzählt der psychologisch-philosophischen Leistungen liefern. Es genügt schon der Hinweis auf einige wenige Beispiele, wie sie z. B. HILLEBRAND (9) anführt. Schon eine einzige Tatsache widerlegt ja die Behauptung von der Wertlosigkeit der Psychologie für die philosophische Erkenntnis.

Vergebens würde man in der Literatur nach stichhaltigen Gründen für die Trennung von Psychologie und Philosophie suchen. Triftige Argumente können ja auch gar nicht für diese Forderung beigebracht werden.

§ 4. Damit soll nun aber nicht gesagt sein, daß alle Gründe, welche gegen eine Trennung von Psychologie und Philosophie vorgebracht wurden, haltbar sind. Nach WILHELM WUNDT sollen, um nur eines zu erwähnen, die Erkenntnistheorie und die Metaphysik "den Zugang zu den Grundproblemen der Psychologie" (10) liefern und "die Auseinandersetzung mit der Erkenntnistheorie den Anfang einer jeden wissenschaftlichen Psychologie bilden" (11). Ja, WUNDT scheint der Ansicht zu huldigen, daß die Forschungsergebnisse der Psychologie geradezu durch den sogenannten philosophischen Standpunkt des betreffenden Psychologen wesentlich bestimmt würden und fordert daher von den Psychologen ein gründliches Studium der spezifisch philosophischen Probleme, damit die Psychologie nicht von "unfreifen metaphysischen Anschauungen" (12) zu ihrem Schaden beeinflußt wird. Die Psychologie hat als echte empirische Wissenschaft von gar keinen vorher gefaßten Anschauungen auszugehen, sie bedarf überhaupt keiner vorhergehenden Auseinandersetzungen mit der Erkenntnistheorie oder der Metaphysik oder irgendeines anderen wissenschaftlichen Fragenkomplexes; für sie wie für jede andere empirische Disziplin bilden den einzigen Ausgangspunkt die Tatsachen der Erfahrung. Diese hat sie zu registrieren, zu beschreiben und zu analysieren und schließlich gesetztlich zu erklären. Das ist ihre ganze Aufgabe und ihr einziges Ziel. Ob die psychischen Tatsachen erkennbar sind, in welchem Verhältnis und Zusammenhang sie zu anderen Tatsachengebieten stehen, darüber stellt sie keine vorgängigen Untersuchungen an, da sie ja eine empirische Wissenschaft sein will und derartige Überlegungen doch nur spekulativen Charakter tragen könnten. Auch keine andere empirische Disziplin tut so etwas. Die Erkennbarkeit der psychischen Tatsachen und Gesetze und die hierfür brauchbaren Erkenntnismethoden ergeben sich im Lauf der Forschung selbst; ebenso gehören begründete Ansichten über die Beziehungen der psychischen zu anderen Tatsachen zu den Ergebnissen, nicht zu den Voraussetzungen der psychologischen Forschung. An und für sich ist der ganze Betrieb der Psychologie von allem unabhängig, was außerhalb ihres Tatsachengebietes liegt. Ja, wer die Frage nach dem Verhältnis von Psychologie und Philosophie rein theoretisch, ohne Rücksichtnahme auf die wirkliche Praxis, behandeln wollte, könnte mit vollem Recht behaupten, die wissenschaftliche Psychologie sei von aller Philosophie geradeso unabhängig wie von jeder anderen Disziplin. Denn sie bedarf absolut keiner philosophischen Voraussetzungen, noch auch ändert der Hinblick auf die Philosophie und deren Bedürfnisse irgendetwas an ihren gesicherten Ergebnissen.

§ 5. Trotzdem wäre eine solche Auffassung - wenn ich paradox reden soll - zumindest unpsychologisch. Denn sie würde ja eine volle Verkennung der menschlichen und also auch der Forschernatur beinhalten. Hieße das doch, im Psychologen einen von gar keinen Interessen bestimmten Forscher sehen, der nur der Freude an der Erkenntnis lebt und zwar einer Freud, die alle psychologischen Erkenntnisse unterschiedslos mit gleicher Intensität umfaßt. Vor allem aber dürfte ihn niemals der Gedanke an die Bedeutung einer psychologischen Erkenntnis für andere theoretische Probleme oder gar für praktische Fragen bestimmen, gerade dieser psychologischen Erkenntnis eifriger nachzugehen. Einen solchen Forscher gibt es aber nirgends und auch nicht unter den Psychologen.

Es ist nur eine gelehrte Fiktion, daß der echte Mann der Wissenschaft ausschließlich durch die reine Forscherfreude bestimmt wird. Ich denke da natürlich nicht an jene Fälle, wo die wissenschaftliche Leistung nur durch grobpraktische Motive veranlaßt und gerichtet wird. Aber auch der vorbildliche Forscher wird in seinem Tun und Lassen nur durch Interessen, wenn auch hohe und ideale Interessen, bestimmt; er ist nie und nimmer eine bloße Erkenntnismaschine.

Auch der Psychologe wird zur Behandlung seiner Probleme durch Interessen gelenkt. Diese bewirken es, daß gerade bestimmte psychologische Fragen immer wieder allen Forschereifer in Anspruch nehmen, daß andere Fragen verhältnismäßig vernachlässigt werden, daß sich der eine Psychologe mehr diesen, der andere mehr jenen Untersuchungen widmet. Diese Interessen sind teils theoretische, teils praktische; sie sind aber durchwegs identisch mit den Interessen der philosophischen Disziplinen. Die praktischen Interessen, welchen die Ethik, die Logik, die Ästhetik nachgeht, geben den Impuls zur Erforschung all jener psychologischen Gesetze, welche die Ethik, Logik und Ästhetik auszubauen gestatten; und die theoretischen Interssen der Metaphysik liefern andere starke Triebkräfte, welche die psychologische Forschung immer wieder zur Lösung bestimmter psychologischer Fragen hindrängen. Bedarf es noch einer besonderen Begründung, warum sich gerade eine Psychologie des Rechts, der Sprache, der Religion usw. entwickelt hat? Zu deutlich spricht alles dafür, daß die Psychologie fast ausschließlich von den gleichen Interessen in Forschungsrichtung und Forschungsumfang beherrscht wird wie die Philosophie. Ohne den Anstoß seitens der Philosophie und des durch sie repräsentierten Interessenkomplexes würde die Psychologie trotz aller theoretischen Unabhängigkeit zusammenschrumpfen und ganz verkümmern. Durch die Loslösung von der Philosophie hätte sich die Psychologie den Lebensnerv durchschnitten.

Dies ist der einzige - aber vollkommen genügende - Grund, weshalb die Psychologie sich nicht von der Philosophie trennen soll und darf. Nicht also irgendwelche philosophischen Voraussetzungen, von denen die Psychologie ausgehen muß - es wären ja notwendig lauter Vorurteile -, rechtfertigen den innigen Zusammenhang psychologischer und philosophischer Forschung, sondern nur die kräftigen Impulse, welche die Psychologie seitens der philosophischen Interessen ständig empfängt. Hiervon abgesehen ist die Psychologie eine ganz selbständige, in jeder Hinsicht unabhängige und in sich geschlossene Wissenschaft, die nur eine Aufgabe kennt: psychische Tatsachen beschreiben und erklären.

§ 6. Einen ganz anderen Charakter nimmt das Verhältnis zwischen Psychologie und Philosophie an, wenn wir es vom Standpunkt der Philosophie betrachten. Eine wissenschaftliche Philosophie ohne Psychologie ist ganz unmöglich. Sie muß bei allen ihren Untersuchungen von psychologischen Voraussetzungen und Erkenntnissen ausgehen und diese ihren Forschungszwecken gemäß verarbeiten. Fehlen diese psychologischen Vorarbeiten vollständig, dann kann auch gar keine Philosophie erstehen; sind sie unvollkommen gegeben, dann ist auch das philosophische Ergebnis mangelhaft; geht schließlich die Philosophie von falschen psychologischen Voraussetzungen aus, dann kann sie nur zu philosophischen Irrtümern gelangen. Die ganze Geschichte der Philosophie liefert hierfür deutliche Belege. Man erinnere sich nur an das katastrophale Ende der spekulativen Philosophie im 19. Jahrhundert. Wie CARL STUMPF (Die Wiedergeburt der Philosophie, 1907, Seite 6) treffend ausführt, kam auch damals erst "von einer in naturwissenschaftlichem Geist betriebenen Psychologie neues Leben in die Philosophie".

Ja, man könnte eher und mit viel mehr Recht zugeben, daß die einzelnen philosophischen Disziplinen, die Ethik, die Logik, die Ästhetik usw. ganz voneinander abgetrennt werden, als daß irgendeine philosophische Disziplin sich von der psychologischen Forschung unabhängig machen dürfte. Denn alle haben in der Psychologie ihr gemeinsames Fundament; im Übrigen aber ist jede philosophische Disziplin ein selbständiger Bau, und nur wenige Verbindungsbrücken führen von einem zum andern hinüber. Man könnte sogar berechtigte Zweifel erheben, ob der Fragenkomplex, der gewöhnlich unter dem Namen "Philosophie" zusammengefaßt wird, eine einheitliche Wissenschaft im gewöhnlichen Sinn darstellt. Es läßt sich beweisen, daß nur ein ganz äußerlicher Zusammenhang alle diese Probleme umfaßt; sie zeigen weder eine besondere innere Verwandtschaft, noch ein anderes Merkmal, das gewöhnlich die Zugehörigkeit zu ein und derselben Disziplin rechtfertigt. Man muß sich nur klarmachen, wodurch die Wissenschaft als solche und die Einheitlichkeit einer wissenschaftlichen Disziplin charakterisiert wird.

§ 7. Alle Wissenschaft kennt nur ein Ziel und das ist der Erwerb von Erkenntnissen. Bloße Meinungen, Vorurteile, bloß auf Autorität gegründete Annahmen von haben im Wissenschaftsgebäude keinen Platz. Schon der Name sagt, daß die Wissenschaft nach Wissen strebt. Wissen aber heißt erkennen, d. h. mit Evidenz urteilen.

Oft wird behauptet, das Ziel der Wissenschaft bildet die Wahrheit. Doch ist das nur teilweise richtig. Selbstverständlich wollen alle, die echte Wissenschaft treiben, Wahrheiten entdecken, feststellen und begründen. Aber dem Wissenschaftler genügt es nicht, überhaupt in irgendeiner Weise wahr zu urteilen. Wiederholt sind ja auch blinde, evidenzlose Urteil wahr und bewähren sich infolgedessen immer wieder. Mannigfache Quellen für solche wahre Urteile gibt es: Autoritäten, Gewohnheiten, Instinkte usw. Wohlgemerkt: ein solches Urteil kann wahr sein; wir wissen aber nicht, ob es tatsächlich wahr ist. Die angeführten Momente und alle ähnlichen liefern keine Gewähr dafür, daß wir sicher wahr urteilen. Das ist es aber gerade, was die Wissenschaft fordert. Sie will dessen sicher sein, daß sie die Wahrheit besitzt. Jeder mögliche Zweifel an der Zuverlässigkeit ihrer Ergebnisse soll ausgeschlossen sein. Eine solche absolute Gewähr für das sichere Erfassen der Wahrheit liefert in der Regel nur die Evidenz unserer Urteile, und deshalb strebt die Wissenschaft für gewöhnlich und im letzten Grund überhaupt nach evidenten Urteilen, d. h. nach Erkenntnissen (13).

Die Wahrheiten leuchten aber auf zweierlei Art ein: Entweder sind die wahren Urteile ohne weiteres, ohne jede Vermittlung und Begründung evident, oder ist die Erkenntnis der Wahrheit mehr oder weniger vermittelt. Jene unmittelbar einleuchtenden Wahrheiten - man nennt sie wohl auch Selbstverständlichkeiten - sind schon deshalb in der Regel kein Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, weil sie eben ganz mühelos zugänglich sind. Sie spielen im Wissenschaftsbetrieb nur insofern eine Rolle, als sie die Grundlage bilden, auf der sich die abgeleiteten Erkenntnisse aufbauen. Denn schließlich führt alles Erkennen, wenn auch oft auf einem weiten Umweg, zu jenen Selbstverständlichkeiten zurück. Die wissenschaftliche Forschung setzt also ihr Bemühen vorzüglich in den Erwerb der abgeleiteten Erkenntnis. Sie sucht die Gründe, die Beweise zu gewinnen für solche Wahrheiten, die eben nicht von vornherein jedem einleuchten. Je schwieriger die Beweisführung ist, je verwickelter die Begründung, umso erstrebenswerter erscheint dem Forscher die Erkenntnis.

Daneben beeinflußt noch ein zweites Moment die Wertung der wissenschaftlichen Einsichten. Die Erkenntnis einer einzelnen, speziellen Tatsache ist sicher niemals zu verachten, auch für den Mann der Wissenschaft nicht; schon deshalb nicht, weil ja der größte Teil aller wissenschaftlichen Errungenschaften auf der Erkenntnis der Einzeltatsachen beruth und nur durch sie erst ermöglicht ist. Doch scheint jedem eine solche sozusagen individuelle Einsicht ganz unbedeutend gegenüber der Erkenntnis des allgemeinen Gesetzes, unter welches die Einzeltatsache fällt. Mit der Einsicht in dieses Gesetz, das die einzelne Tatsache ebenso wie alle anderen individuellen Tatsachen gleicher Art beherrscht, besitze ich ja nicht nur die Erkenntnis des Gesetzes, sondern implizit auch die Erkenntnis aller Einzeltatsachen und natürlich auch die jener vorher angezogenen Tatsache. Es ist daraus leicht erklärlich, warum die Erkenntnis des Allgemeinen der des Besonderen vorgezogen wird, ferner warum die Wissenschaft vorzüglich nach der Erkenntnis der Gesetze strebt, aber auch warum ein erkanntes Gesetz umso höher gewertet wird, je allgemeiner und umfassender es ist.

Kaum bedarf es einer besonderen Erwähnung, daß die Gesetze gewöhnlich umso schwieriger und umständlicher zu begründen sind, je allgemeinere Notwendigkeiten sie darstellen. Der größte Teil unseres Wissens ist ja induktiv gewonnen. Von der Tatsachenerkenntnis ausgehend, haben wir zunächst irgendwelche ganz untergeordnete Spezialgesetze eingesehen; aus solchen Spezialgesetzen sind allgemeinere Gesetze abgeleitet worden; immer höher sind wir auf dieser Stufenleiter der wohlbegründeten Verallgemeinerung gestiegen, bis wir etwa hier oder dort die oberste Stufe erklommen und ein allgemeinstes Gesetz gefunden haben, das alle Gesetze niederer Ordnung, aber auch alle einschlägigen Tatsachen umfaßt.

Weil nun meistens - nicht immer - die allgemeinste Erkenntnis auch die schwierigste ist und der umständlichsten Begründung bedarf, darum scheint es so oft, als würden unsere Erkenntnisse nur nach einem Maßstab gewertet. Es ist aber ebenso eine halbe Wahrheit, wenn behauptet wird, die allgemeinere Erkenntnis werde der weniger allgemeinen immer vorgezogen; wie es auch nur eine halbe Wahrheit ist, die schwerer zu erwerbende Erkenntnis werde jederzeit höher geschätzt, als die leichter zugängliche. Nur wenn beide Maßstäbe gleichmäßig nebeneinander gebraucht werden, gelangt man zu einer Auslese jener Erkenntnisse, die von der Wissenschaft besonders hoch gewertet werden. Ja, nicht einmal dann sind wir genügend orientiert. Noch ein anderes Moment spielt bei der Wertung wissenschaftlicher Erkenntnis eine Rolle und vielleicht sogar die allerentscheidenste.

Wir brauchen ja nur die wissenschaftlichen Untersuchungen ganz flüchtig zu durchmustern und wir müssen sofort bemerken, wie wenig sich die wissenschaftliche Anstrengung auf den Erwerb bestimmter - wenngleich sehr allgemeiner und doch auch ungemein schwierig zu begründender - Erkenntnisse richtet. Das dreidimensionale System unseres Raumes ist Gegenstand zahlloser wissenschaftlicher Arbeiten gewesen und noch immer werden diesem speziellen System mit unvermindertem Eifer neue und neue Untersuchungen gewidmet. Man vergleiche demgegenüber die geringe Zahl jener Arbeiten, die sich mit mehrdimensionalen Mannigfaltigkeiten beschäftigen. Wäre nur die Allgemeinheit der Erkenntnis entscheidend, müßte sich alle wissenschaftliche Bemühung hier dem Studium der n-dimensionalen Mannigfaltigkeit zuwenden. Und sicher sind diese Untersuchungen auch schwieriger und müßten daher aus einem doppelten Grund besonders eifrig von der Wissenschaft in Angriff genommen werden.

Nichts von all dem ist zu beobachten. Immer wieder konzentriert sich der wissenschaftliche Eifer vorzüglich auf das dreidimensionale Raumsystem.

Wie ist das zu erklären? Es existiert eben noch ein dritter, vor allem entscheidender Maßstab für die Wertung unserer Erkenntnisse, nämlich die praktische Brauchbarkeit derselben. Ich will zwar nicht behaupten, daß gar nie eine Erkenntnis rein um der Erkenntnis willen angestrebt wird, und daß immer nur die Rücksicht auf den praktischen Nutzen die Forschung richtunggebend bestimmt. Solches wäre sicher verkehrt und ließe sich durch zahlreiche Tatsachen widerlegen. Meistens liegt ja dem Forscher der Gedanke ganz fern, ob und wie sich die angestrebte Erkenntnis etwa praktisch verwerten lassen wird. Vielmehr bestimmt gerade die bedeutendsten Geister direkt nur der reine Erkenntnisdrang und nur die ungetrübte Freude an der schließlichen Erkenntnis als solcher. Aber auf Umwegen findet da ganz von selbst eine stille Auslese statt. Die realen Forderungen des Lebens, die an den Menschen herantreten, die harte Not und Bedrängnis, die auf ihn einstürmen, regeln mit so elementarer Kraft die Richtung der Forschung, daß daneben alle individuellen Motive, die den einzelnen Forscher bei seiner Arbeit beeinflussen, nur ganz schwächlich zur Geltung kommen. Immer wieder wird zwar der Fall eintreten, daß ein Mann ganz weltfremde Erkenntnisse mit heißem Bemühen verfolgt und auch erreicht, und es ist gut so. Denn wiederholt ist eine solche Erkenntnis nur scheinbar weltfremd gewesen und hat sich im weiteren Verlauf auch für die Praxis als äußerst fruchtbar erwiesen. Aber doch haftet allen derartigen Untersuchungen etwas von einer Absonderlichkeit und Geringwertigkeit an. Zumindest geht die allgemeine Schätzung dahin. Man staunt solche Forschungsergebnisse an, aber nur wie geistreiche Schrullen eines gelehrten Kopfes, welche für die übrige nüchterne Menschheit ohne Bedeutung sind. Andere mögen in einer solchen Erkenntnis eine ganz interessante Wucherung am Erkenntnisbaum erblicken, die nicht so sehr an und für sich begrüßenswert ist, als gerade deshalb, weil dadurch die gesunde Vollkraft des Baumes, ja sein mächtiger Kraftüberschuß bewiesen ist und wir daher nicht befürchten müssen, es könnten in absehbarer Zeit der gesunde Stamm und die wertvollen Triebe zu wenig gedeihen.

Ich meine nicht etwa, die Rücksicht auf die praktische Brauchbarkeit der Erkenntnisse beeinflußt oder soll so weit die Forschung beeinflussen, daß nur unsere allernächsten praktischen Ziele die Auswahl der anzustrebenden Erkenntnisse bestimmen. Das wäre sicher der Tod aller echten Wissenschaft. Als direkte psychologische Motivation für den Forscher brauchen und sollen derartige Rücksichten überhaupt nicht in Betracht kommen; zumindest nicht als ausschließlich bestimmende Motive; denn es ist ja nicht zu leugnen, daß sich auch durch das Streben nach ganz kleinen, praktischen Zielen wiederholt eine ganz ansehnliche Förderung unseres Wissens ergeben hat. Aber wenn immer und überall nur solche Rücksichten eine Rolle gespielt hätten, dann wären gerade die größten Taten der Wissenschaft nicht errungen worden. Es ist vielmehr diese Rücksicht auf die praktische Brauchbarkeit nur - wie gesagt als allgemeines Regulativ des Forschungsumfanges und der Forschungsrichtung anzusehen. Dieses Regulativ ist ja selbst das Ergebnis einer ganzen Reihe gleichgerichteter Kräfte. Man denke nur daran, wie wenig Beachtung beim breiten Publikum alle jene Erkenntnisse finden, die nicht irgendwelchen greifbaren praktischen Zwecken dienen. Was aber solchen Zwecken dient, wird mannigfach gefördert und kann schon deshalb gründlicher und besser erforscht werden. Ja noch mehr. Die allgemeine Aufmerksamkeit, das allseitige Interesse, das solchen handgreiflich praktischen Zwecken entgegengebracht wird, lenkt naturgemäß auch die Aufmerksamkeit der Forscher selbst diesen Fragen zu. Zu leicht wird ein solches Problem zur Tagesfrage und auch der wissenschaftliche Forscher lebt ja unter und mit den Menschen, und immer wieder tritt an ihn das Verlangen hrean, zu einer brennenden Tagesfrage Stellung zu nehmen.

Dazu kommt nun ein zweites. Der Forscher ist an eine ganz bestimmte, eng begrenzte Tatsachenwelt gebunden. Notwendigerweise muß sich der Umfang und die Art der ihm zugänglichen Tatsachen auch in seinen Forschungsergebnissen ausprägen. Es wäre eine Banalität, wollte man erst konstatieren, daß z. B. ein etwaiger Marsbewohner vor allem den Mars studieren würde mit allem, was sich auf ihm und um ihn beobachten läßt, und schon deshalb eine ganz andere Wissenschaft ausgebaut hätte als wir Erdenbewohner. Diese Abhängigkeit der Forschung von der realen Mit- und Umwelt wird als so selbstverständlich angesehen, daß ein Gelehrter, der etwa in Mittelböhmen wohnt und sich ohne jede Reise zu einem besonderen Kenner der Philippinen entwickelt, allgemein wie ein Portentum [Wunderwesen - wp] angestaunt wird.

Die vielgeschmähten praktischen Interessen sind also der der allermächtigste Forschungsimpuls und das anziehungskräftigste Forschungsziel. Sie bestimmen in unverkennbarer Weise Richtung und Umfang der wissenschaftlichen Forschung.
LITERATUR - Josef Eisenmeier, Die Psychologie und ihre zentrale Stellung in der Philosophie, Halle/Saale 1914
    Anmerkungen
    1) FRANZ HILLEBRAND, Die Aussperrung der Psychologen, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 67, Leipzig 1913
    2) FELIX KRUEGER, Ist Philosophie ohne Psychologie mögliche, München 1896, Seite 25.
    3) KRUEGER, a. a. O., Seite 18. - Selbstverständlich will ich nicht behaupten, daß KRUEGER der einzige oder auch nur der Erste ist, der in dieser Weise eine korrekte Definition des Charakters und der Aufgaben wissenschaftlicher Psychologie geliefert hat. Nur wegen ihrer bündigen Fassung habe ich KRUEGERs Worte hierher gesetzt, und auch deshalb, weil gerade diese Worte in einem Streit gebraucht worden sind, der seinem Inhalt nach die heute geführte Debatte schon vorweggenommen hat.
    4) vgl. WILHELM WUNDT, Die Psychologie im Kampf ums Dasein, Leipzig 1913, Seite 9. - Mit dieser Charakteristik scheint mir WUNDT den Gedankengang zahlreicher Gegner der experimentellen Psychologie ganz zutreffend wiedergegeben zu haben.
    5) FRANCIS BACON, Neues Organon (übersetzt von KIRCHMANN, Berlin 1870, Seite 9
    6) HERMANN von HELMHOLTZ, Das Denken in der Medizin, Rede gehalten in Berlin 1877.
    7) Selbstverständlich bestreite ich nicht, daß die "reinen Philosophen" auch für die wissenschaftliche Psychologie in Frage kommen, insofern sie interessante psychologische Beobachtungsobjekte sind. Bestimmte psychische Tatsachenkomplexe mögen sich etwa gerade nur hier verwirklicht finden, in unserer übrigen Erfahrung aber gar nirgends mehr wiederkehren.
    8) CARL STUMPF, Die Wiedergeburt der Philosophie, Berlin 1907, Seite 13
    9) FRANZ HILLEBRAND, Die Aussperrung der Psychologen, 1913, Seite 12f. Das hier angeführte erste Beispiel, nämlich das Gesetz cder spezifischen Sinnesenergien, ist geradez ein klassischer Beleg für die Bedeutung der psychologischen Forschung für die Philosophie. - Die vielfachen Zusammenhänge zwischen Psychologie und Philosophie haben sogar manche Autoren, die eine Abtrennung der empirischen Psychologie von der Philosophie herbeisehenen, zu der - schon kritisierten - Spaltung der Psychologie in einen philosophischen und einen nichtphilosophischen Teil verführt. Wenn z. B. OSWALD KÜLPE (Einleitung in die Philosophie, 1895, Seite 69f) die "einzelwissenschaftliche" der "philosophischen" Psychologie gegenüberstellt, so tut er das doch nur aus dem Grund, weil er einsieht, daß eine ganze Reihe im engeren Sinne philosophische Fragen einer psychologischen Vorarbeit dringend bedarf, ja daß geradezu diese psychologische Arbeit immer als ein integrierender Bestandteil der philosophischen Forschung gegolten hat und gelten wird. Nur verlangt er sonderbarerweise, daß gerade diesen Teil der psychologischen Arbeit immer die Philosophen leisten sollten, hingegen hätten sich die Psychologen gerade nur auf jene Gebiete zu beschränken, die keine erkennbare Beziehung zu philosophischen Problemen aufwiesen. KÜLPEs Standpunkt ist deutlich unhaltbar; es gehören alle jene Probleme, die er der "philosophischen" Psychologie zuweist, zu den Aufgaben der empirischen Psychologie; jedes wissenschaftliche Ergebnis bezüglich dieser Fragen ist ein Erfolg der Psychologie und ein neuer Beweis für den hohen Wert der psychologischen Forschung als Vorstufe philosophischer Erkenntnis.
    10) WILHELM WUNDT, Die Psychologie im Kampf ums Dasein, Leipzig, 1913, Seite 30.
    11) WUNDT, a. a. O. Seite 31.
    12) WUNDT, a. a. O. Seite 24
    13) Über Möglichkeiten, wie die geforderte Garantie für eine sichere Wahrheit wissenschaftlicher Ergebnisse auch ohne Evidenz erreicht wird, ist in § 18 ausführlicher besprochen. Das dort Ausgeführte ändert offenbar nichts an der Stichhaltigkeit der obigen Erörterungen.