H. Gomperzvon KirchmannE. LaskF. Münch | |||||
Kritik der sogenannten praktischen Erkenntnis [1/3]
Vorwort Ich glaube deshalb, daß man, um auf rechtsphilosophischem Gebiet etwas Wertvolles zu leisten, entweder Philosoph oder Jurist sein muß, oder natürlich am besten: beides; - doch auf keinen Fall "Rechtsphilosoph", also keines von beiden. Damit wollte ich nur andeuten, was seit Jahren der Leitgedanke meiner Ausbildung und das Ziel meiner Arbeit gewesen ist. Dieses Buch ist eine philosophische Abhandlung, indessen als Einleitung zu einer Serie rechtsphilosophischer Studien gedacht. Ich verweise auf das erste Kapitel Nr. 1 der Abhandlung selber, wo man den Grund dafür finden wird, daß ich es für angebracht hielt, diese Serie mit einer Analyse der Begriffe der sogenannten praktischen Erkenntnis einzuleiten. Ein zweiter und dritter Band soll dann zeigen, ob diese Arbeitsidee wirklich fruchtbar gewesen ist. In diesen Bänden wird nämlich eine Analyse der Grundbegriffe der Rechtswissenschaft aufgrund der in der vorliegenden Abhandlung gewonnenen Aufschlüsse über die Natur der sogenannten praktischen Erkenntnis gegeben. Im zweiten Band wird die Rechtswissenschaft insofern sie als (theoretische) Kenntnis einer gegebenen Rechtsordnung erscheint, behandelt; im dritten, insofern sie als praktische Kritik erscheint. In einem vierten Band hoffe ich endlich, die Kritik durch einen positiven Beitrag zur Bestimmung der Aufgabe und Methode der Rechtswissenschaft ausbauen zu können. Dieses Buch ist anti-metaphysisch. Das möchte ich deutlich ausgesprochen haben: mein Buch ist in einer Zeit, in der man die Forderung einer neuen Metaphysik als Schlagwort geprägt hat, ganz unmodern. Was das angeht, so muß ich mich mit dem Glauben an eine Entwicklung der Philosophie trösten, die jenseits aller Modeströmungen liegt, und es sonst der Zeit überlassen, darüber zu urteilen, "wer Recht gehabt hat". Übrigens glaube ich nicht, daß es wirklich so ganz unmodern ist, antimetaphysisch zu sein, wie es ein Blick auf die philosophische Literatur vermuten lassen könnte. Man darf ja nicht vergessen, das für viele, ja vielleicht für die meisten Philosophen Metaphysik ihr eigentliches Handwerk ist, dessen Produkte sie sich je nach den Anforderungen der Zeit als eine Art verfeinerte Religion für die gebildeten Schichten zu liefern verpflichtet fühlen. Ein Zeitbild, das allein von den Philosophen ausgegeben wird, muß deshalb notwendig einseitig werden. Mögen die "Lebensphilosophen" ihren Beruf erfüllen, die "Zeit" können sie nicht annektieren. Dieses Buch ist anti-inellektualistisch, und in dieser Richtung kann ich mich einer gewissen Übereinstimmung mit dem Zeitgeist erfreuen. Es will mit der ganzen intellektualistischen Fälschung der Handlungswirklichkeit abrechnen, die die sogenannte praktische Erkenntnis bedeutet. Es verlangt, daß man dem Kaiser gebe, was des Kaisers ist: Handeln ist nun einmal Handeln und nicht Erkenntnis. Dieses Buch ist AXEL HÄGERSTRÖM zugeeignet, um dankbar anzuerkennen wieviel ich diesem Forscher schulde. Es ist über allem Zweifel erhaben, daß ich ihm Dank schulde, jedoch ist es nicht immer so leicht zu sagen, wo die Grenze zwischen Mein und Dein verläuft, der wir in praktischen Dingen so viel Wert beimessen, die hier aber von keiner größeren Bedeutung ist. Man wird vielleicht erstaunt sein, daß HÄGERSTRÖM in dieser Arbeit so selten zitiert oder als Autorität angeführt ist. Das liegt teilweise an der unsystematischen und schwer zugänglichen Form, in der HÄGERSTRÖMs Arbeit vorliegt; hauptsächlich aber an der Tatsache, daß das, was ich HÄGERSTRÖM verdanke, nicht bestimmte Lehrsätze sind, sondern die wissenschaftliche Methode und eine Menge von Impulsen, die sich einerseits schwierig genau bestimmen lassen, andererseits meistens nicht öffentlich durch gedruckte Publikationen empfangen wurden. Wenn ich ihn unter diesen Umständen als Autorität anführen würde, so würde das bedeuten, daß ich eine Stütze für Theorien proklamierte, für die ich ihn unter keinen Umständen verantwortlich zu machen wagte. Diese Arbeit ist das Resultat von Studien, die durch einige Jahre hindurch mit Hilfe des "I Tilknytnig til Carlsgergfondets Universitetslegat af 25. September 1926 opretede Universitetsstipendium" ausgeführt wurden. Die Kosten der Übersetzung und Drucklegung wurden vom "Carlsbergfond" und dem "Rask-Örsted-Fond" gemeinsam getragen. Es ist mir eine große Freude und Genugtuung, diesen dänischen wissenschaftlichen Institutionen meinen Dank für Förderung und Unterstützung meiner Arbeit ausdrücken zu können. Die Übersetzung einer solchen Arbeit ist eine Aufgabe, die vom Übersetzer nicht allein sprachliches Können, sondern auch sachliches Verständnis und geduldige Gewissenhaftigkeit verlangt. Es ist mir eine Freude, meinen Übersetzern, Dr. phil. HANS WINKLER (der die ersten acht Kapitel übersetzt hat) und Dr. GUNNAR LEISTIKOW (die die letzten fünf übernahm), für die Tüchtigkeit, Gewissenhaftigkeit und das Interesse, womit sie ihre schwierige Arbeit durchgeführt haben, herzlichen Dank zu sagen. Kopenhagen, Mai 1933 Alf Ross
EINLEITUNG 1. Begründung der Bedeutung dieser philosophischen Abhandlung für eine Kritik der Rechtswissenschaft. Der letzte Sinn dieser Untersuchungen, die mit der vorliegenden Abhandlung beginnen, liegt darin, daß sie zu einer Klärung der rechtswissenschaftlichen Begriffsbildung und einem besseren Verständnis der Aufgabe und Methode der Rechtswissenschaft beitragen möchten durch eine Kritik der verschiedenen grundlegenden rechtswissenschaftlichen Begriffe, Problemstellungen und Lehrsätze. Es kann wie eine doktorandenhafte Gründlichkeit erscheinen, wenn die Untersuchung einiger alltäglicher juristischer Begrife (wie z. B. der Begriffe Recht, Pflicht, Rechtsquelle und Widerrechtlickeit) durch eine umfassende philosophische Studie über die sogenannte praktische Erkenntnis eingeleitet wird. Wenn ich gemeint habe, diesen Weg trotz allem beschreiten zu müssen, so ist das der Überzeugung zuzuschreiben, daß unsere juristischen Grundbegriffe infolge ihrer ihrer historischen Entstehung und Entwicklung so fest mit der metaphysischen Vorstellungswelt der sogenannten praktischen Erkenntnis - der Ethik und besonders des Naturrechts - verwachsen sind, daß sich ihr eigentlicher Bedeutungsinhalt heute nicht verstehen läßt, ohne erst diese Vorstellungswelt aufzuzeigen und klarzulegen. Ich kann hier in der Einleitung weder die Richtigkeit dieser Annahme beweisen, noch ihre Fruchtbarkeit als wissenschaftliche Arbeitshypothese begründen. Das muß sich aus der folgenden Darstellung (besonders im 2. und 3. Band) selbst ergeben. Doch kann hier so viel gesagt werden, daß diese Annahme, falls sie richtig sein sollte - falls es sich wirklich so verhält, daß die Rechtswissenschaft ein Begriffssystem ererbt hat, dessen eigentlicher, nicht mehr unmittelbar durchsichtiger Begriffsinhalt einer metaphysischen, der Wirklichkeit inadäquaten Gedankenwelt entsprungen ist - imstande ist, zu erklären, daß die Anwendung eines solchen Begriffssystems in einer Wissenschaft, die in Übereinstimmung mit modernen Gesichtspunkten auf dem Boden der Wirklichkeit zu bauen wünscht, Unklarheiten und Disharmonien hervorbringen muß. Ob nun die juristischen Grundbegriffe wirklich einmal einer wirklichkeitsfremden, mystischen, praktisch-metaphysischen Ideenwelt entsprungen sind oder nicht - wird der Jurist antworten - heute ist jedenfalls all das für unsere Problematik belanglos; denn heutzutage glaubt doch kein Mensch mehr an eine solche Metaphysik, und mit unseren juristischen Grundbegriffen wollen wir ja nur ganz einfach die wahrnehmbaren Tatsachen des Rechts erfassen und zum Ausdruck bringen. Doch ist dieser Einwand nicht stichhaltig: ich behaupte nicht, daß die mystisch-irrealen Vorstellungen vom Recht wirklichvon modernen Menschen gehegt werden, sondern nur, daß solche Vorstellungen in den dunklen, d. h. gewöhlich nicht in ein klares Bewußtsein gebrachten, Voraussetzungen des Rechtsbegriffs implizit liegen. Es bleibt die Frage, wie solche Voraussetzungen möglich und erkennbar sind. Erkennbar sind sie zunächst durch die Funktion des Begriffs, d. h. durch den Inbegriff der Auffassungen, in denen der Begriff vorkommt. Denn für die Begriffe gilt dasselbe wie für die Menschen: das, was sie tatsächlich sind, und das, wofür sie tatsächlich gelten, ergibt sich nicht so sehr aus ihren eigenen Erklärungen darüber, als aus der Art und Weise, in der sie wirklich handeln und fungieren. (1) Die Erkenntnis ihres wahren Wesen ergibt sich nicht unmittelbar, sondern aus einem Schluß - der oft zu überraschenden Ergebnissen führen kann. Wie diese Voraussetzungen möglich sind, woher sie stammen, und durch welche Kraft sie weiterleben können - diese Fragen vermag ich vorläufig nicht zu beantworten. Ihre Beantwortung ist ja eben die Aufgabe der folgenden Untersuchungen. (Vgl. besonders Band II: "Über Wirklichkeit und Gültigkeit in der Rechtslehre", Kapitel 1). Die Vorstellungen, die in dieser Abhandlung analysiert werden sollen, haben das gemein, daß es alles Vorstellungen sind, die irgendwie die allgemeinere Vorstellung einer praktischen Erkenntnis näher spezifizieren oder aufbauen. Die Bestimmung des Gegenstandes der Untersuchung kann also nur durch eine vorläufige und allgemeinere Analyse des Begriffs "praktische Erkenntnis" geschehen, so wie dieser Begriff zur Charakteristik gewisser Wissenschaften, vor allem der Ethik und der Rechtsphilosophie, im Gegensatz zu anderen, den theoretischen Wissenschaften, verwendet wird. Das Wort "praktisch" scheint andeuten zu wollen, daß man das Verhältnis der Erkenntnis zur menschlichen Praxis, d. h. dem Handeln oder der Willensbestimmung, im Auge hat. Aber welches Verhältnis? Eine Erkenntnis läßt sich vor allem dann praktisch nennen, wenn das gewonnene Wissen unter bestimmten Verhältnissen für die menschliche Handlungsweise mitbestimmend werden kann, ein Bestimmungsgrund für den Willen, indem es uns anweist, wie das Ziel, das wir uns gesetzt haben, zu erreichen ist. Jeden Tag werden wir Schritt für Schritt durch unsere wissenschaftlichen Kenntnisse in unserem Leben geleitet. In der Technik, der Heilkunde, in Industrie und Handel, in der Landwirtschaft und in der Erziehung, kurz: auf allen Gebieten der menschlichen Aktivität nützen wir unsere wissenschaftlichen Kenntnisse aus. Es gibt kaum ein Wissen, das unter bestimmten Verhältnissen in diesem Sinn nicht praktisch werden könnte. Aber gerade darum ist es klar, daß das nicht der Sinn sein kann, in dem man von praktischer Erkenntnis im Gegensatz zur theoretischen spricht. (2) Es scheinen für das Verhältnis zur menschlichen Praxis, wodurch ja die Erkenntnis eben praktisch wird, nur zwei Möglichkeiten vorhanden zu sein. Entweder ist das Wissen seinem Inhalt nach Wissen von dem, was der (bedingte oder unbedingte) Bestimmungsgrund oder Zweck des Willens ist. Dieser Grund oder Zweck muß also selbst außerhalb des Wissens liegen; die Erkenntnis wird dann praktisch genannt, weil sie das Wissen von etwas Praktischem ist. Oder das Wissen selber, d. h. seiner tatsächlichen Gegebenheit nach, ist Bestimmungsgrund des Willens. Seinem Inhalt nach muß dann das Wissen, Wissen von etwas anderem sein; und die Erkenntnis wird nicht deshalb praktisch genannt, weil sie als idealer Sinn auf etwas Praktisches geht, sondern, weil sie als reale Gegebenheit praktisch ist und wirkt. Weil aber das Wissen um etwas ansich noch Wille zu etwas ist, kann das Wissen nicht der letzte oder unbedingte Grund des Willens sein, sondern muß notwendig durch einen außerhalb des Wissens selbst gegeben Zweck vermittelt werden. In dieser Bedeutung haben wir oben das technische Wissen als "praktisch" erwähnt. Das Wissen z. B., daß das Wasser bei 100° C kocht, hat seinem Inhalt nach an und für sich keine Relation zum menschlichen Willen. Es ist das Wissen von etwas Theoretischem; aber der Besitz dieses (theoretischen) Wissens kann - vermittelt durch ein außerhalb des Wissens selber liegenden Zweck (nämlich, das Wasser zum Kochen zu bringen), - Bestimmungsgrund für den Willen sein. (3) In welcher dieser beiden Bedeutungen heißt nun die moralische Erkenntnis praktisch im Gegensatz zur theoretischen? Nicht in der letzteren; denn, wie gesagt, kann in diesem Sinne jedes theoretische Wissen praktisch sein oder werden. Außerdem wird sich die Ethik nicht damit begnügen, Mittel zu anderweitig gegebenen Zwecken zu bestimmen. Doch auch nicht in der ersteren Bedeutung, denn die Ethik will nicht nur Wissen von dem sein, was unseren Willen tatsächlich bestimmt. Eine solche Erkenntnis würde also immer noch nur theoretisch aufgefaßt werden: als Psychologie, Physiologie usw. Was ist also gemeint, wenn die moralische Erkenntnis den theoretischen Wissenschaften als praktisch gegenübergestellt wird? Einerseits soll die Ethik mehr sein als eine Technologie; sie soll sich direkt auf den letzten Zweck oder unbedingten Bestimmungsgrund des Willens beziehen. Andererseits soll sie auch mehr sein als ein Wissen von diesem Zweck oder Grund; denn die Ethik will nicht nur beschreiben und erzählen, was tatsächlich vorsichgeht, sondern selber unmittelbar einen Zweck setzen, ein Grund sein. Ganz gleich, unter welchem Namen die praktische Erkenntnis auftritt; ob es sich nun darum handelt, einen Wert, einen Pflichtimperativ, das Gute, eine Norm, das Richtige zu erkennen: in allen Fällen ist der Gedanke der, daß eine unmittelbare Forderung oder Aufforderung an den Willen (ein unmittelbarer Bestimmungsgrund für den Willen) in dieser Erkenntnis liegt, sich in Übereinstimmung mit dem, durch sie angegebenen Ziel oder Bestimmungsprinzip einzustellen. Das heißt: die praktische Erkenntnis ist eine Erkenntnis, die dadurch, daß sie Wissen von einem letzten Zweck, dem unbedingten Grund des Willens ist, zugleich diesen Zweck für den Willen setzt oder diesen Grund selber darstellt. Allein, diese Bestimmung ist insich widerspruchsvoll; denn jedes Wissen ist Wissen von etwas, was also vom Wissen selber verschieden ist und von demselben unabhängig gegeben ist. Soll nun aber das Wissen selber den Zweck setzen (den Grund darstellen), so kann dieser Zweck (Grund) also nicht vor und unabhängig von diesem Wissen gegeben sein; und dieses wiederum also nicht Wissen von diesem Zweck (Grund) sein. Und umgekehrt: soll das Wissen, Wissen von einem Zweck sein, so kann es diesen nicht selber setzen. Das eine schließt das andere aus. Das Ergebnis dieser Analyse ist: der sogenannte Begriff einer praktischen Erkenntnis ist kein echter Begriff, sondern eine Zusammenstellung dialektischer Denkmomente aus zwei verschiedenen Bestimmungen der Relation, in der das Denken zur Praxis stehen kann hergeholt. Die praktische Erkenntnis soll zugleich Wissen um die letzte Zwecksetzung des Willens und diese Zwecksetzung selber enthalten. Weil aber der Zweck schließlich immer im Willen selbst gesetzt sein muß, so bedeutet die sogenannte praktische Erkenntnis eine Erkenntnis, die zugleich ein Wille ist. Es ist hier nicht der Ort, klarzulegen, was der Wille ist; jedenfalls: eine Erkenntnis ist er nicht. Es ist eine Konsequenz dieses Ergebnisses, daß wir von Anfang an erwarten müssen, daß die Urteile der sogenannten praktischen Erkenntnis in Wahrheit keine echten Urteile sind; d. h. Aussagen, die ein Wissen ausdrücken; sondern urteilsmäßig camouflierte Ausdrücke emotionaler Erlebnisse. Im folgenden wird dies genauer bestätigt werden. Die Dialektik im Begriff einer praktischen Erkenntnis kann auch auf andere Weise in Erscheinung treten. Die praktische Erkenntnis will das letzte Ziel oder den absoluten Bestimmungsgrund des Willens bestimmen, während gleichzeitig eingeräumt wird, daß dieses Ziel (dieser Grund) doch nicht dasjenige ist, das psychologisch-willkürlich den Willen bestimmt - denn die praktische Erkenntnis ist keine bloße psychologische Wirklichkeitsschilderung. Erst dadurch, daß man sie in Gegensatz zum wirklichen Verlauf stellt, erhält die praktische Erkenntnis ihren eigentümlichen (fordernden oder auffordernden) Charaktert. Auf der anderen Seite besteht man darauf, daß die praktische Erkenntnis trotzdem eine Erkenntnis ist, also Wissen davon, daß etwas ist, etwas sich auf eine bestimmte Weise verhält. Man wird deshalb zu der Annahme gezwungen, daß etwas Ziel oder Prinzip des Willens ist, obwohl es in der psychologischen Erfahrungswirklichkeit tatsächlich nicht der Fall ist. Das heißt: man wird gezwungen, um diesen Widerspruch zu verdecken, anzunehmen, daß der Wille eigentlich nicht das ist, was er zu sein scheint, oder, daß der psychologische Wille nur die empirische Offenbarung einer metaphysischen Substanz ist, die die "eigentliche" Realität und der absolute Grund des Willens ist. Metaphysisch betrachtet ist der Wille auf das durch die praktische Erkenntnis bestimmte Ziel gerichtet. Empirisch gilt dies dagegen tatsächlich nicht. Und doh - da es nur einen Willen gibt, indem der empirische Aspekt des Willens nur eine Offenbarung der eigentlichen Realität ist - so gilt dies trotzdem auch für den empirischen Willen. Um den Widerspruch zu verdecken, sagt man, daß es "praktisch" (im Gegensatz zu theoretisch) gilt, "gültig ist" oder so ähnlich. Dies bedeutet, daß praktische Erkenntnis notwendig metaphysisch ist, und daß diese Metaphysik, wie alle andere metaphysische Verdoppelung, nur der Ausdruck eines Widerspruchs ist, nämlich einer Identität des Verschiedenen. (Das Metaphysische wird vom Empirischen unterschieden, wird aber doch als identisch mit diesem gedacht.) Das Resultat dieser Ausführungen ist also, daß die Vorstellung von einer praktischen Erkenntnis eine dialektische Vorstellung ist, deren widersprechende Bestandteile wir hier in groben Zügen herausgestellt haben. Und zwar nur in groben Zügen, denn die genauere Darstellung, wie man auf verschiedene Weise versucht hat den Gedankengang durchzuarbeiten, ist ja gerade die Aufgabe der Abhandlung. Im folgenden werden wir Gelegenheit bekommen, ein großes Material zur Bestätigung der angestellten Analyse herbeizuschaffen, die vielen vielleicht im ersten Augenblick unwahrscheinlich erscheinen mag. Hiermit ist der Gegenstand der Untersuchung bestimmt: es sind die Vorstellungen, die auf irgendeine Weise die allgemeinere Vorstellung von einer praktischen Erkenntnis im angeführten Sinn spezifizieren und ausführen.
1) Wir können uns z. B. denken, daß eine bestimmte abergläubische Auffassung vom Wesen des Rechts Veranlassung zu einer solchen Bestimmung der Begriffe Recht und Pflicht gegeben hat, daß sie als korrelat auftreten. Es ist dann wohl möglich, daß diese abergläubischen Vorstellungen später fortfallen, die Begriffe Recht und Pflicht aber weiterhin als korrelat (zueinander) bestimmt werden, trotzdem eine solche Bestimmung infolge einer realen Auffassung vom Wesen der Rechtsverhältnisse unberechtigt sein würde. In solchen Fällen kann man mit voller Berechtigung behaupten, daß die abergläubischen Vorstellungen die Begriffsbildung in den Voraussetzungen bestimmen, trotzdem es niemand mehr unmittelbar einräumen würde. Die Struktur des Begriffs kann sozusagen wie eine starre Form durch die Zeiten stehen bleiben, selbst nachdem der Inhalt, der diese Form einmal mit Leben füllte, ausgestorben ist. 2) Manchmal hat man jedoch geglaubt, den Charakter der Ethik als eine Technologie in dieser Bedeutung bestimmen zu können. Vgl. hierzu III, 7a und b. 3) In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß das Wissen, das in den sogenannten "praktischen" oder "technischen" Disziplinen, in "angewandter Wissenschaft" oder "Kunsttheorie" vorliegt, in seinem Inhalt sich nicht von demjenigen, das in den "reinen" Wissenschaften vorliegt unterscheidet, sondern daß derselbe Inhalt hier nur auf besondere Weise in Übereinstimmung mit den praktischen Interessen ausgewählt, formuliert und konkretisiert ist. |