ra-2p-4WindelbandH. RitterG. StörringM. SchelerNietzscheP. Rée    
 
FRANZ BRENTANO
Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis
[1/3]

"Die Gebote der Logik sind natürlich gültige Regeln des Urteilens, d. h. man hat sich darum an sie zu binden, weil das diesen Regeln gemäße Urteilen sicher, das von diesen Regeln abweichende Urteil dem Irrtum zugänglich ist; es handelt sich also um einen natürlichen Vorzug des regelgemäßen vor dem regelwidrigen Denkverfahren. Um einen solchen natürlichen Vorzug und eine darin gründende Regel, nicht aber um ein Gebot fremden Willens wird es sich also auch bei Sittlichem handeln müssen."

Vorwort

Was ich hier vor ein größeres Publikum bringe, ist ein Vortrag, den ich am 23. Januar 1889 in der Wiener Juristischen Gesellschaft hielt. Er führte den Titel "Von der natürlichen Sanktion für recht und sittlich". Diesen habe ich, um den Inhalt deutlicher hervortreten zu lassen, vertauscht, sonst aber kaum ein Änderung getroffen. Nur zahlreiche Anmerkungen wurden hinzugefügt und ein früher schon veröffentlichter Aufsatz "Miklosich über subjektlose Sätze" beigegeben. In welcher Weise er sich mit scheinbar so fern abliegenden Untersuchungen berührt, wird man in ihrem Verlauf von selbst erkennen.

Den Anlaß zu diesem Vortrag gab eine Einladung, die Baron von HYE als Obman der Gesellschaft an mich gerichtet hatte. Es war sein Wunsch, daß das, was JHERING in seiner Rede "Über die Entstehung des Rechtsgefühls" vor wenigen Jahren hier besprochen hatte, im selben Kreis auch von einem anderen Standpunkt beleuchtet werden möge. Man würde irren, wenn man um des zufälligen Anstoßes willen den Vortrag für ein flüchtiges Werk der Gelegenheit hielte. Er bietet Früchte von jahrelangem Nachdenken. Unter allem, was ich bisher veröffentlicht habe, sind seine Erörterungen wohl das gereifteste Erzeugnis.

Sie gehören zum Gedankenkreis einer "Deskriptiven Psychologie", den ich, wie ich nunmehr zu hoffen wage, in nicht ferner Zeit seinem ganzen Umfang nach der Öffentlichkeit erschließen kann. Man wird dann an weiten Abständen von allem Hergebrachten und insbesondere auch an wesentlichen Fortbildungen eigener, in der "Psychologie vom empirischen Standpunkt" vertretener Anschauungen genugsam erkennen, daß ich in meiner langen literarischen Zurückgezogenheit nicht eben müßig gewesen bin.

Auch in diesem Vortrag wird dem Philosophen vom Fach manches sofort als neu auffällig sein. Dem Laien mag sich bei der Raschheit, mit der ich ihn von Frage zu Frage führe, manche Klippe, die umschifft, mancher Abgrund, der umgangen werden mußte, zunächst ganz und gar verbergen; wenn irgendwer, mußte ich, bei so gedrängter Kürze, eines Wortes von LEIBNIZ gedenken und wenig auf widerlegen, viel auf darlegen bedacht sein. Bei einem Blick in die Anmerkungen - obwohl sie, hierfür alles zu leisten, einer hundertfältigen Vermehrung bedürften - wird dann auch ihm etwas mehr von den Abwegen offenbar, die so viele verlockten und den Ausgang aus dem Labyrinth nicht finden ließen. Bis dahin wäre es mir nur willkommen - ja ich würde darin die Krone meines Strebens sehen - wenn ihm alles Gesagte so selbstverständlich erschiene, daß er sich mir dafür nicht einmal zu Dank verpflichtet glaubte.

Keiner hat die Erkenntnisprinzipien der Ethik so bestimmt, wie es hier aufgrund neuer Analysen geschehen mußte; keiner insbesondere, der das Gefühl bei der Grundlegung beteiligt glaubte, so prinzipiell und vollständig mit dem ethischen Subjektivismus gebrochen. Nur HERBART nehme ich aus. Aber er verirrt sich ins  Ästhetische  und alsbald finden wir ihn soweit vom Weg abgekommen, daß er in der theoretischen Philosophie der unversöhnliche Feind des Widerspruchs - es in der praktischen Philosophie verträgt, wenn die höchsten, allgemeingültigen Ideen miteinander in Konflikt geraten. Immerhin bleibt seine Lehre in gewisser Hinsicht der meinigen wahrhaft verwandt, während von anderer Seite andere berühmte ethische Versuche sich mannigfach mit ihr berühren.

In den Anmerkungen wird auch einzelnes schärfer bestimmt, dessen genaueste Durchführung für den Vortrag zu langwierig geworden wäre. Manchem schon erhobenen Einwurf trete ich entgegen, manchem zu erwartenden Bedenken suche ich vorzubeugen. Auch hoffe ist, man werde sich für einige historische Beiträge interessieren; so namentlich für die Untersuchungen über DESCARTES, wo ich seine Lehre von der Evidenz auf ihre Ursachen zurückführe und auf zwei sehr bedeutende Gedanken hinweise, welche der eine verkannt, der andere kaum bemerkt, beide nicht genügend gewürdigt worden sind. Ich meine seine Grundeinteilung der psychischen Phänomene und seine Lehre von der Beziehung der Liebe zur Freude und des Hasses zur Traurigkeit.

Mit mehreren hochangesehenen und von mir gewiß nicht am wenigsten geschätzten Forschern der Gegenwart stoße ich polemisch zusammen; am härtesten wohl mit solchen, deren vorgängiger Angriff mir die Verteidigung aufnötigt. Ich hoffe, sie betrachten es nicht als eine Verletzung  ihrer  Ansprüche, wenn ich der Wahrheit, der wir gemeinsam dienen, nach Kräften zu ihrem Recht zu verhelfen suche. Auch darf ich versichern, daß mir, wenn ich selbst freimütig spreche, auch jedes aufrichtige Wort des Gegners immer von Herzen willkommen ist.



1. Die Einladung zu einem Vortrag, welche die Juristische Gesellschaft an mich ergehen ließ, verpflichtete mich umso mehr als sie in kräftigen Worten einer Überzeugung Ausdruck gab, die leider im Schwinden begriffen scheint. Hörte man doch jüngst von Vorschlägen zur Reform der juridischen Studien (und sie sollten sogar von Universitätskreisen ausgegangen sein), die geradezu meinten, man könne die Wurzeln, welche die Jurisprudenz in das Gebiet der praktischen Philosophie und in das der vaterländischen Geschichte senkt, abschneiden, ohne daß der Organismus wesentlichen Schaden leiden würde.

Was die Geschichte betrifft, so ist mir, ich gestehe es, dieser Rat zunächst völlig unbegreiflich; was aber die Philosophie anlangt, so kann ich ihn nur etwa damit entschuldigen, daß die Männer, die gegenwärtig die juridischen Lehrstühle einnehmen, einen tiefen, traurigen Eindruck von den Verirrungen jüngst vergangener Dezennien empfangen haben. So soll sie ein persönlicher Vorwurf nicht treffen. Tatsächlich aber waren jene Ratschläge ebenso weise, wie wenn eine medizinische Fakultät aus ihrem obligaten Studienplan die Zoologie und die Physik und Chemie zu streichen beantragen wollte.

Wenn LEIBNIZ in seiner  Vita a se ipso lineata  von sich erzählt: "Ich gewahrte, daß mir aus meinen vorausgegangenen Studien der Geschichte und Philosophie eine große Erleichterung zur Erlernung der Rechtswissenschafte erwuchs"; und wenn er in seinem  Specimen difficultatis in jure  die Vorurteile der zeitgenössischen Juristen beklagend, ausruft: "O, daß daoch die Rechtsbeflissenen von ihrer Verachtung der Philosophie zurückkämen und einsähen, daß ohne Philosophie die meisten Fragen ihres Jus ein Labyrinth ohne Ausgang sind": was würde er, wenn er heute auferstände, zu diesen rückläufigen Reformbewegungen sagen?

2. Der würdige Obmann der Gesellschaft, der sich einen so frischen, freien Sinn für die wahren wissenschaftlichen Bedürfnisse seines Standes bewahrt hat, äußere mir auch über das zu wählende Thema seine besonderen Wünsche. Die Frage nach dem Bestand eines natürlichen Rechtes, sagte er, sei ein Gegenstand, der sich im Kreis der Juristischen Gesellschaft eines vorzüglichen Interesses erfreue und er selbst sie begierig zu sehen, in welcher Weise ich zu den Ansichten, die JHERING vor einigen Jahren hier ausgesprochen hat, (1) Stellung nehmen werde.

Gerne willigte ich ein und haben darum als Thema meines Vortrags die natürliche Sanktion für recht und sittlich bezeichnet, indem ich dadurch zugleich andeuten wollte, in welchem Sinne allein ich an ein natürliches Recht glaube.

3. Denn eine zweifache Bedeutung kann hier mit dem Wort "natürlich" verknüpft werden:
    1. kann es soviel sagen wie "naturgegeben", "angeboren", im Gegensatz zu dem, was erst durch Ableitung oder Erfahrung in geschichtlicher Entwicklung erworben wird;

    2. kann es, im Gegensatz zum willkürlich, durch positiven Machtspruch Bestimmten, die Regel bedeuten, welche an und für sich und ihrer Natur nach als richtig und bindend erkennbar ist.
JHERING hat im einen wie im andern Sinn das natürliche Recht verworfen. (2) Ich meinerseits stimme ihm mit ebenso kräftiger Überzeugung in dem  einen  Punkt zu, wie ich ihm im anderen widerspreche.

4. Ich bin vollkommen mit JHERING einig, wenn er nac hdem Vorlauf von JOHN LOCKE alle angeborenen Moralprinzipien leugnet.

Noch mehr, mit ihm glaube ich weder an das barocke  jus naturae  noch an das  jus gentium,  [Recht der Völker - wp] an ein Recht, welches durch die allgemeine Übereinstimmung der Völker als natürliches Vernunftrecht gekennzeichnet ist, wie die römischen Rechtslehrer es faßten.

Man braucht nicht tief in die Zoologie und Physiologie hineingeblickt zu haben, um die tierische Lebewelt nicht mehr bei der Aufstellung sittlicher Normen als Kriterium zu benützen, wenn man auch nicht gerade mit ROKITANSKY soweit gehen wird, das Protoplasma mit seinem aggressiven Charakter für ein ungerechtes und böses Prinzip zu erklären.

Was aber jenen gemeinsamen Rechtskodex aller Völker anlangt, so war der Glaube daran ein Wahn, der sich in der antiken Welt halten mochte; die moderne Zeit aber, die bei erweitertem ethnographischen Horizont die barbarischen Sitten zum Vergleich heranzieht, kann dagegen in jenen Satzungen nicht mehr ein Produkt der Natur, sondern nur noch ein den fortgeschritteneren Völkern gemeinsames Kulturprodukt erkennen.

In all dem bin ich also mit JHERING einverstanden; und ich stimme ihm auch wesentlich zu, wenn er behauptet, es habe Zeiten ohne jeden Anflug von ethischer Erkenntnis und ethischem Gefühl gegeben; jedenfalls war damals nichts der Art ein Gemeingut.

Ja ich erkenne unbedenklich an, daß dieser Zustand auch dann noch fortdauerte, als sich größere Gesellschaften mit staatlicher Ordnung gebildet hatten. Wenn JHERING zu diesem Zweck auf die griechische Mythologie und ihre Götter und Göttinnen ohne jedes moralische Denken und Fühlen hinweist, indem er meint, aus dem Leben der Götter könne man auf das Leben der Menschen in der Zeit der Mythenbildung schließen, (3) so bedient er sich eines Beweismittels, das schon ARISTOTELES in seiner Politik in ähnlicher Weise verwertete (4). Also auch das müssen wir ihm zugeben und werden darum auch nicht mehr leugnen, daß die ersten politischen Satzungen mit unterstützender Strafgewalt ohne jeden Einfluß eines ethischen Rechtsgefühls festgestellt worden sind. Es gibt also keine natürlichen sittlichen Vorschriften und Rechtssätze in dem Sinne, daß sie uns mit der Natur selbst gegeben, daß sie uns angeboren wären; in dieser Hinsicht haben JHERINGs Ansichten unseren vollen Beifall.

5. Aber nun tritt die andere, viel wichtigere Frage an uns heran: gibt es eine unabhängig von aller kirchlichen und politischen und überhaupt von aller sozialen Autorität durch die Natur selbst gelehrte sittliche Wahrheit? gibt es ein natürliches Sittengesetz in dem Sinne, daß es, seiner Natur nach allgemeingültig und unumstößlich, für die Menschen aller Orte und aller Zeiten, ja für alle Arten denkender und fühlender Wesen Geltung hat und fällt seine Erkenntnis in den Bereich unserer psychischen Fähigkeiten? - Hier sind wir an der Stelle, wo ich mit JHERING uneins bin. Dem "Nein", das er auch hier spricht, setze ich ein entschiedenes "Ja" entgegen. Und wer von uns hier im Recht ist, das wird hoffentlich unsere heutige Untersuchung über die natürliche Sanktion für sittlich und recht ins klare setzen.

Jedenfalls ist mit der Entscheidung der vorigen Frage, wie auch immer JHERING selbst das Gegenteil zu glauben scheint, (5) dieser in gar keiner Weise präjudiziert. Es gibt angeborene Vorurteile; diese sind natürlich im ersten Sinne: aber es fehlt ihnen die natürliche Sanktion; sie haben, wahr oder falsch, zunächst keine Gültigkeit. Es gibt andererseits viele Sätze, die, auf natürlichem Weg erkannt, als unumstößlich feststehn, allgemeingültig für alle denkenden Wesen, die aber, wie z. B. Schon der pythagoreische Lehrsatz, nichts weniger als angeboren sind, sonst hätte nicht der beglückte erste Entdecker dem Gott seine Hekatombe [Opfer von 100 Rindern bei den alten Griechen - wp] geopfert.

6. In dem Gesagten habe ich klar genug zu erkennen gegeben, wie ich, wenn ich von natürlicher Sanktion spreche, den Begriff der Sanktion fasse. Dennoch wird es gut sein, noch einen Augenblick zu verweilen, um eine andere, ungenügende Fassung auszuschließen.

"Sanktion" heißt "Festigung". Ein Gesetz kann nun in einem doppelten Sinn gefestigt werden:
    1. indem es als solches festgestellt wird, wie wenn die Bestätigung eines Gesetzentwurfs durch die höchste legislative Autorität ihm Gültigkeit verleiht;

    2. indem es durch Beifügung von Straf-, vielleicht auch Lohnbestimmungen wirksamer gemacht wird.
Im letzteren Sinn hat man in der antiken Zeit von Sanktion gesprochen. Im ersteren ist bekanntlich in der modernen Zeit das Wort üblicher; man nennt ein Gesetz "sanktioniert", wenn es durch die allerhöchste Bestätigung Gültigkeit erlangt hat.

Offenbar setzt die Sanktion im zweiten Sinn die im ersten Sinn voraus und diese ist das Wesentlichere; denn ohne sie wäre das Gesetz gar nicht wahrhaft Gesetz. Und eine solche natürliche Sanktion wird darum auch vor allem ein Bedürfnis sein, wenn überhaupt etwas von Natur aus als recht oder sittlich gelten soll.

7. Vergleich man nun damit, was die Philosophen über die natürliche Sanktion des Sittlichen gesagt haben, so bemerkt man leicht, wie sie oft das Wesentlichste übersahen.

8. Manche meinen, sie hätten für eine gewisse Verhaltensweise eine natürliche Sanktion gefunden, wenn sie nachweisen, daß ein gewisser Drang des Gefühls, so zu verfahren, sich im Menschen zu entwickeln pflege; wie z. B., da jeder andern diene, um Gegendienste zu empfangen, zuletzt sich eine Gewohnheit herausbilde, solche Dienste zu leisten, auch wo an gar keine Vergeltung gedacht werden kann. (6) Das wäre dann die Sanktionierung der Nächstenliebe.

Aber diese Behauptung ist gänzlich verfehlt. Ein solcher Drang wäre wohl eine Kraft, die wirkt, doch nimmermehr eine Sanktion, die gültig macht. Auch die lasterhafte Neigung entwickelt sich nach denselben Gesetzen der Gewohnheit und übt als Drang oft die unbeschränkteste Herrschaft aus. Der Drang des Geizigen, der ihn für die Anhäufung von Reichtümern die größten Opfer bringen und die härtesten Grausamkeiten begehen läßt, ist gewiß keine Sanktion seines Verhaltens.

9. Auch Motive der Hoffnung und Furcht, daß ein gewisses Betragen, z. B. eine Berücksichtigung des allgemeinen Besten, uns anderen und Mächtigen angenehm oder unangenehm machen werde, hat man oft als Sanktion dafür bezeichnen wollen. (7) Aber es ist offenbar, daß sich dann auch die feigste Kriecherei, die servilste Speichelleckeri einer natürlichen Sanktion rühmen könnte. Tatsächlich bewährt sich die Tugend am meisten da, wo weder Einschüchterungen noch Verheißungen sie vom rechten Weg ablenken.

10. Manche sprechen von einer Erziehung, welche der Mensch, der ja zu den Lebewesen gehört, die in Gesellschaft zu leben pflegen, durch die, mit welchen er umgeht, empfängt. Wiederum und wiederum wird eine Forderung, ein Gebot: du sollst! an ihn gerichtet. Es liegt in der Natur der Sache, daß gewisse Handlungen ganz besonders oft und allgemein von ihm gefordert weden. Und da bildet sich dann eine Assoziation zwischen der Handlungsweise und dem Gedanken: "Du sollst!". Dabei mag es sein, daß er sich als die gebietende Macht die Gesellschaft, in welcher er lebt oder auch unbestimmter etwas Höheres, als die eigene, einzelne menschliche Person, also, man könnte sagen, etwas in gewisser Weise Übermenschliches denkt. Dieses für ihn daran geknüpfte Soll wäre nun die Sanktion des Gewissens. (8)

Es läge also hier die natürliche Sanktion in der auf natürlichem Weg sich entwickelnden Überzeugung vom Gebot eines mächtigeren Willens.

Aber es ist offenbar, daß in einer solchen Überzeugung von einem Gebot des Mächtigeren noch nichts gegeben ist, was den Namen der Sanktion verdient. Sie hat auch derjenige, welcher sich in den Händen eines Tyrannen oder einer Räuberbande weiß. Mag er Folge leisten, mag er Trotz bieten: ihr Gebot ist nicht, was der geforderten Handlung eine Sanktion, ähnlich der des Gewissens, erteilte. Auch wenn er gehorcht, gehorcht er aus Furcht, nicht weil er das Gebot als zu Recht bestehend betrachtete.

Nein, der Gedanke, es sei von jemandem geboten, kann die natürliche Sanktion nicht sein. Bei jedem Gebot eines fremden Willens erhebt sich die Frage: ist es berechtigt oder unberechtigt? Und die Frage richtet sich dann nicht auf ein anderes, vielleicht noch von größerer Macht unterstütztes Gebot. Denn dann würde sie wiederkehren und wir würden von einem Gebot zum nächsten einem Gebot folgen und dann zu einem dritten Gebot gelangen, welches dem Gebot, dem Gebot zu folgen, zu gehorchen geböte und so fort ins Unendliche.

Also, wie der Drang eines Gefühls und die Furcht und Hoffnung auf Vergeltung, so kann auch der Gedanke an ein Willensgebot unmöglich die natürliche Sanktion für recht und sittlich sein.

11. Doch es gibt Gebote auch noch in einem wesentlich anderen Sinn; Gebote in der Bedeutung, in welcher man von Geboten der Logik spricht für unser Urteilen und Schließen. Nicht vom Willen der Logiker (denen wir in gar keiner Weise die Treue geschworen haben) ist dabei die Rede. Die Gebote der Logik sind natürlich gültige Regeln des Urteilens, d. h. man hat sich darum an sie zu binden, weil das diesen Regeln gemäße Urteilen sicher, das von diesen Regeln abweichende Urteil dem Irrtum zugänglich ist; es handelt sich also um einen natürlichen Vorzug des regelgemäßen vor dem regelwidrigen Denkverfahren. Um einen solchen natürlichen Vorzug und eine darin gründende Regel, nicht aber um ein Gebot fremden Willens wird es sich also auch bei Sittlichem handeln müssen. Und das ist, was KANT, aber auch die Mehrzahl der großen Denker vor ihm energisch betont haben, was aber trotzdem noch immer von vielen - und leider auch gerade von Anhängern der empirischen Schule, der ich selbst angehöre - nicht recht verstanden und gewürdigt wird.

12. Worin aber soll dieser eigentümliche Vorzug des Sittlichen, der ihm die natürliche Sanktion gibt, liegen? Manche dachten ihn sozusagen äußerlich; sie glaubten, es sei der Vorzug schöner Erscheinung. Die Griechen nannten das edle, tugendhafte Betragen  to kalon,  das Schöne und den vollkommenen Ehremann den  kalokagathos;  doch hat von den antiken Denkern keiner diesen ästhetischen Standpunkt maßgebend gemacht. Dagegen hat unter den Modernen in England DAVID HUME (9) von einem moralischen Schönheitssinn gesprochen, der über sittlich und unsittlich entscheidet und in jüngerer Zeit, unter den Deutschen HERBART (10) die Ethik als einen Zweig der Ästhetik untergeordnet.

Ich will nun nicht leugnen, daß der Anblick der Tugend eine erfreulichere Erscheinung als die der sittlichen Verkehrtheit ist. Aber unmöglich kann ich zugeben, daß hierin der einzige und wesentliche Vorzug des sittlichen Verhaltens besteht. Es wird vielmehr ein innerer Vorzug sein, der das sittliche Wollen vor dem unsittlichen auszeichnet, ähnlich wie es ein innerer Vorzug ist, der das wahre und einsichtige Urteilen und Schließen von den Vorurteilen und Fehlschlüssen unterscheidet. Auch hier läßt sich nicht leugnen, daß ein Vorurteil, ein Fehlschluß etwas Unschönes, ja oft etwas lächerlich Beschränktes an sich haben, was von der MINERVA so schlecht Begünstigten in unvorteilhaftester Positur vor uns erscheinen läßt: aber wer möchte darum die logischen Regeln unter die ästhetischen zählen und die Logik zu einem Zweig der Ästhetik machen?(11) Nein, der eigentliche logische Vorzug ist kein Vorzug ästhetischer Erscheinung, sondern eine gewisse innere Richtigkeit, welche dann einen gewissen Vorzug der Erscheinung mit sich führt. Und so wird es dann auch eine gewisse innere Richtigkeit sein, welche den wesentlichen Vorzug gewissen Akte des Willens vor anderen und entgegengesetzten und den Vorzug des Sittlichen vor dem Unsittlichen ausmacht. Der Glaube an diesen Vorzug ist ein ethisches Motiv; die Erkenntnis dieses Vorzugs das richtige ethische Motiv, die Sanktion, welche dem ethischen Gesetz Bestand und Gültigkeit verleiht.

13. Aber wie sollen wir fähig sein zu solcher Erkenntnis zu gelangen?

Hier liegt die Schwierigkeit, um deren Lösung man sich lange Zeit vergeblich bemühte. Noch KANT schien es, als ob keiner vor ihm das wahre Ende des Fadens gefunden habe, um von ihm aus den Knäuel zu entwirren. Sein kategorischer Imperativ sollte es sein. Aber er war vielmehr wie das Schwert, das ALEXANDER zückte, um den gordischen Knoten zu durchhauen. Mit einer solchen offenbaren Fiktion läßt sich die Sache nicht richten. (12)
LITERATUR - Franz Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, Leipzig 1889
    Anmerkungen
    1) Vgl. Über die Entstehung des Rechtsgefühls. Vortrag von Dr. RUDOLF von JHERING. - Gehalten in der Wiener juristischen Gesellschaft am 12. März 1884 (Allgem. Juristenzeitung, 7. Jahrgang, Nr. 11, Wien 1884). Ferner ist zu vergleichen von JHERING, Der Zweck im Recht, Leipzig 1877 - 1883
    2) Für den ersten Punkt vgl. Allgem. Juristenzeitung, 7. Jahrgang, Seite 122f, Zweck im Recht II, Seite 109f; für den zweiten Punkt: Allgem. Juristenzeitung, 7. Jahrgang, Seite 171, Zweck im Recht II, Seite 118 - 123. Verworfen wird hier, daß es irgendeine ethische Regel von absoluter Gültigkeit gebe (Seite 118, 122f); bekämpft wird jede, wie JHERING sie nennt, "psychologische" Behandlungsweise der Ethik (Seite 121), wonach sich die Ethik als "Zwillingsschwester der Logik" darstellen würde (Seite 123).
    3) Allgem. Juristenzeitung, 7. Jhg., Seite 147; vgl. Zweck im Recht II, Seite 124f
    4) ARISTOTELES, Politik I, 2., 1252b 24
    5) Vgl. z. B. Allgem. Juristenzeitung, 7. Jhg., Seite 146
    6) Zu den zahlreichen Anhängern dieser Meinung gehört als einer der vorzüglichsten Vertreter JOHN STUART MILL in seinem "Utilitarism", Kap. 3
    7) Auch hier ist unter anderen JOHN STUART MILL zu nennen. Diese Motive der Furcht und Hoffnung wären nach ihm die äußeren; jene früher beschriebenen, durch Gewohnheit herausgebildeten Gefühle die innere Sanktion (ebenfalls Kap. 3)
    8) Vgl. hierfür insbesondere eine Erörterung in JAMES MILLs "Fragment on Mackintosh, die JOHN STUART MILL in der 2. Auflage der "Analysis of the phen. of the hum. mind II", Seite 309f abdruckt und die geistvollen Abhandlungen von GROTE, die A. BAIN unter dem Titel: Fragments on Ethical Subjects by the lat George Grote, being a selection from his posthumous papers, London 1876, veröffentlicht hat; namentlich Essay I: On the origine and nature of ethical Sentiment.
    9) DAVID HUME, An Enquiry concerning the Principles of Moral (zuerst London 1751)
    10) HERBART, Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, § 81f, Gesamtausgabe I, Seite 124f
    11) Dieser Vergleich mit der Logik dürfte mich am besten gegen den Vorwurf schützen, als ob ich hier die herbartische Lehre in falschem Licht erscheinen lasse. Würde das logische Kriterium in Geschmacksurteilen bei der Erscheinung regelgemäßen und regelwidrigen Denkverfahrens liegen, so würde es, verglichen mit dem, was es tatsächlich ist, (der inneren Evidenz des regelgemäßen Verfahrens), äußerlich zu nennen sein. Ähnlich ist darum auch das Kriterium der herbartischen Ethik treffend als ein äußerliches zu bezeichnen, wie energisch auch die Herbartianer betonen mögen, daß im Geschmacksurteil, welches beim Anblick gewisser Willensverhältnisse von selbst entstehe, sich ein innerer Vorzug dieser Verhältnisse sich offenbare.
    12) In der Grundlegung zur "Metaphysik der Sitten" führt uns KANT den kategorischen Imperativ in folgenden Fassungen vor: "handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde;" und: "handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte." In der Kritik der praktischen Vernunft lautet er: "handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne", d. h., wie KANT selbst erklärt, daß die Maxime, zum allgemeinen Gesetz erhoben, nicht zu Widersprüchen führen und so sich selbst aufheben würde. Das Bewußtsein von diesem Grundgesetz wäre nach KANT ein Faktum der reinen Vernunft, die sich dadurch als gesetzgebend (sic volo, sic jubeo [so will ich, so befehle ich - wp]) ankündigte. Doch schon BENEKE bemerkt (Grundlinien der Sittenlehre II, Seite XVIII - 1841 -; vgl. seine Grundlegung zur Physik der Sitten, ein Gegenstück zu KANTs Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1822), daß es vielmehr nichts als eine "psychologische Dichtung" sei und heutzutage ist wohl kein Urteilsfähiger mehr hierüber im Zweifel. Bezeichnend ist, daß selbst Philosophen, wie MANSEL, der für KANT die allerhöchste Verehrung hat, zugeben, daß der kategorische Imperativ eine Fiktion und schlechterdings unhaltbar sei. - Der kategorische Imperativ hat zugleich den anderen und nicht geringen Fehler, daß man, selbst wenn man ihn zugesteht, schlechterdings zu keinen ethischen Folgerungen gelangt. Die Ableitungen, die KANT versucht, mißlingen ihm, wie MILL (Utilitarismus, Kap. 1) mit Recht sagt, "in fast grotesker Weise". Sein Lieblingsbeispiel einer Ableitung, dasjenige, womit er sowohl in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, als auch in der Kritik der praktischen Vernunft sein Verfahren erläutert, ist folgendes: Darf man, fragt er, ein Gut, das einem ohme Schein oder sonstiges Judicium [Urteil - wp] anvertraut ist, für sich behalten? Er antwortet: Nein! Denn, meint er, niemand würde einem, wenn die gegenteilige Maxime zum Gesetz erhoben würde, unter solchen Umständen noch etwas anvertrauen. Das Gesetz wäre also ohne Möglichkeit der Anwendung; also unausführbar; also aufgehoben durch sich selbst. - Man erkennt leicht, daß die Argumentation KANTs falsch, ja absurd ist. Wenn infolge des Gesetzes gewisse Handlungen unterlassen werden, so übt es eine Wirkung; es ist also noch wirklich und keineswegs durch sich selbst aufgehoben. Wie lächerlich wäre es, wenn einer in analoger Weise folgende Frage behandeln würde: Darf ich einem, der mich zu bestechen versucht, nachgeben? - Ja! Denn dächte ich die entgegengesetzte Maxime zum allgemeinen Naturgesetz erhoben, so würde niemand mehr jemanden zu bestehen versuchen; folglich wäre das Gesetz ohne Anwendung; also unausführbar und somit aufgehoben durch sich selbst.