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Über die sogenannte reine Erfahrung des Empirismus
Bekanntlich ist es nach dem freilich gründlichen und selbstverschuldeten Bankrott der Identitätsphilosophie die Erfahrung gewesen, welche, vorzugsweise in naturwissenschaftlichen Kreisen ausgebildet, jetzt den Grund- und Eckstein für die neue Aera des wissenschaftlichen Denkens bilden sollte. Jeder auch noch so harmlose Neuling auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie wußte davon ruhmredig zu erzählen, daß nur in diesem Prinzip eine wahre Erneuerung an Haupt und Gliedern gefunden werden könnte. Wie nun durch die bewunderungswürdigen Entdeckungen der Naturwissenschaft der Stoff dieser Erfahrung sich täglich ins Unendliche vermehrte, so schien umso dringender eine Reduzierung dieses ungeheuren Komplexes auf die wesentliche Quintessenz, d. h. in diesem Fall auf die eventuelle philosophische Verwendbarkeit geboten. So ergab sich zunächst eine methodologische Sichtung des angehäuften Materials, der sich dann naturgemäß eine erkenntnistheoretische Würdigung desselben anschloß. Auch unserer Darstellung mögen diese Gesichtspunkte als Leitfaden dienen. Die kantische Frage: Wie ist Erkenntnis oder Erfahrung überhaupt möglich? ist meistens als eine scholastische Verirrung gefaßt, die nur die Rettung, bzw. Sicherstellung der Glaubensobjekte vor der zersetzenden und negierenden Macht des Verstandes bezweckt habe. Vielleicht mit vollem Recht; doch liegt, falls man diesen unmittelbaren Zusammenhang außer Acht läßt, eine andere allgemeine Deutung nahe, welche für die Entwicklung jenes Begriffs sehr bedeutsam geworden ist. Erfahrung ist nämlich nicht etwas schlechthin Gegebenes, sondern vielmehr ein höchst veränderliches Produkt, dessen Entstehung der steten Beziehung auf ein apperzipierendes Subjekt nicht entraten kann. Dieser Gesichtspunkt begründet erst die Existenz einer echten Erkenntnisquelle, und gerade dieser ist es, der vielfach in der weiteren Ausbildung des Begriffs allzu sehr vernachlässigt ist. Nachdem man die gewöhnlichen Irrtümer des Vorstellens und Wahrnehmens aus der Sphäre der Erfahrung verwiesen hatte, einigte sich der größte Teil der empirischen Forscher dahin, unter diesem Prinzip die durch wiederholte Beobachtungen und Experimente festgestellte Kenntnis vom Zusammenhang der Dinge zu verstehen. Dadurch war die psychologische Genesis dieser Faktoren völlig klar gelegt; um also dieser Theorie wissenschaftlich beglaubigtes Ansehen zu verschaffen, mußte konsequenterweise die notwendige Herleitung aus der gewöhnlichen Auffassung der Außenwelt deduziert werden. Nun beginnt alle Erkenntnis mit der Wahrnehmung; aber diese, als objektiv und subjektiv höchst trügerisch, konnte nicht als Fundament des neuen Gebäudes dienen: ja auch dann nicht, wenn sie durch absichtlich geschärfte Aufmerksamkeit alles subjektive Befangenheit ablegte und sich nur zuwartend dem Eindruck des Geschehenden gegenüberstellte. Denn wie AVENARIUS argumentiert: "Der Begriff der Erfahrung ist weiter als der der Wahrnehmung. Diese bietet immer nur ein einzelnes Wahrgenommenes; ihre Aussage, als Urteil gedacht, gibt den Gegenstand nur, wie er sich unter der Beschränkung der Wahrnehmungsfähigkeit und des jeweiligen äußeren und inneren Standpunktes dem Wahrnehmenden darstellt, läßt mithin die Möglichkeit zu, daß ihr Inhalt nach der einen Seite der Ergänzung, nach der andreen aber der Berichtigung bedarf. Es müssen daher zur Beurteilung des einzelnen Wahrgenommenen die Aussagen anderer Wahrnehmungen, in gewissen Fällen sogar Schlüsse aus solchen herbeigezogen werden, um die sozusagen individuellen Lücken und Mängel der Einzelwahrnehmung zu beseitigen. (AVENARIUS, Philosophie als Denken der Welt gemäß etc., Seite 43) Diese Methode nun ist je nach der Art und dem Stand der betreffenden Wissenschaft natürlich eine höchst verschiedene; am schnellsten kommen solche Disziplinen zum Ziel, denen im Experiment oder in der möglichst umfassenden Vergleichung analoger Fälle eine direkte Handhabe für ihre Untersuchung zu Gebote steht, also vor allem die naturwissenschaftlichen Fächer. Ähnlich steht es, um nu an ein wenig bekanntes Beispiel zu erinnern, mit der Ethnologie, die durch die massenhafte Häufung des Materials schon einigermaßen sicher die Mittel bietet für die Ausscheidung des spezifisch Subjektiven. Schwieriger gestaltet sich das Verhältnis in den rein geistigen Sphären, z. B. in der Linguistik, wo erst vielfach fehlgeschlagene Versuche der Untersuchung den richtigen Weg eröffneten. Dennoch ist selbst für die anscheinend untrüglichsten Beobachtungen durch die bekannte Theorie der mittleren Fehler die absolute objektive Unzulänglichkeit des Verfahrens genügend hervorgehoben. Aber zugegeben daß durch ein unendlich verfeinertes System von ineinandergreifenden Mechanismen (normale Beschaffenheit des Subjektis, scharfe und wiederholte Auffassung des Objekts und schließlich die sachgemäße Kritik dieser Apperzeption selbst) in aufsteigender Elimination alle falschen Zutaten individueller Art entfernt seien, was ist dann mit dem Ausdruck des durch den Gegenstand allein Gegebenen gewonnen? (AVENARIUS, a. a. O., Seite 28) Es ist hierbei der schon oben berührte Standpunkt wirksam, daß die reine Erfahrung etwas völlig Gegebenes sei, das sich nur schwer unter den vielen Verfälschungen und Entstellungen seitens des Subjekts entdecken läßt. Ja AVENARIUS verfährt in diesem Sinne ganz konsequent, wenn er nicht nur die anthropomorphen Zumischungen der willkürlichen Wertschätzung oder der mythologischen Hypstasierung der Kräfte verwirft, sondern auch die apriorischen Urteilsformen unseres Intellekts, wie die Kausalität, als nicht in der wirklichen Erfahrung gegeben ansieht. Die Berufung auf KANT scheint nicht ganz triftig, da dieser, obwohl er jene Funktionen ganz und ausschließlich dem Subjekt vindizierte, doch eben den Begriff der Erfahrung nicht in einer solchen Isolierung des fraglichen Gegenstandes vom Bewußtsein erfüllt dachte, sondern umgekehrt in die synthetische Einheit der Apperzeption legte, also in einen toto genere [völlig - wp] subjektiven Faktor. Wie eine kurze Zusammenstellung der vieldeutigen Ausdrück von der kantischen Auffassung dieses Momentes beweist (Vgl. GÖRING, Über den Begriff der Erfahrung, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 1, Seite 460f), ist freilich der endgültige Wert dieses Erkenntnismaterials sehr ungleich bestimmt. Aber in fast allen Bezeichnungen kehrt doch in mehr oder minder scharfer Schattierung die ursprüngliche Bezeichnung wieder, welche KANT diesem Gegenstand gewidmet hatte: Erfahrung ist das Produkt des Verstandes aus Materialien der Sinnlichkeit. Überall ist es erst die Kombination und Einordnung der sinnlich zugeführten Eindrücke, welche nach KANT eine wahre Erfahrung und Erkenntnis ermöglicht; diese ist mithin nicht als solche durch den Gegenstand schon gegeben, sondern wird erst durch uns konstruiert. Wir können also, falls wir dem Vorwurf der Oberflächlichkeit entgehen wollen, nicht umhin, kurz auf die Frage einzugehen, was die Philosophie unter dem in der Erfahrung gegebenen Gegenstand zu verstehen hat. Bislang ist der Beweis von der gänzlichen Nichtigkeit der sogenannten materialen Außenwelt, wie ihn schon BERKELEY geliefert hat, unseres Wissens durch keine noch so exakte Beobachtung als hinfällig und rein spekulativ widerlegt worden. Umgekehrt: je mehr man sich in erkenntnistheoretische Untersuchungen vertiefte, desto mehr verschwand die angebliche Solidität des Außen und wurde zu einer Erscheinung des Innen; die äußere Welt löste sich mithin auf in einen Komplex von immanenten Vorstellungen. Diese entsprechend ihrer durch äußere oder innere Reize veranlaßten Genesis methodisch wieder aufzubauen, also einen Versuch zu machen, wie die Welt gedacht werden muß, galt als die einzige Forderung logischer Präzision. Ob andererseits dieses innere Weltbild mit portrait-ähnlicher Treue ein fremdes Geschehen außerhalb des empfindenden Bewußtseins wiederholt, wurde mit Recht zunächst als irrelevant, dem weiteren Fortgang der Untersuchung sogar nicht förderlich erachtet. Selbst als Abbild konnte ja das Denken nicht den Tatbestand so wieder aufzeichnen, wie er ansich war, sondern nur wie er ihm erschien, mit anderen Worten: diese Reproduktion lieferte nie ein Sein, sondern nur ein System von Urteilen und Begriffen. Sehr präzise hat AVENARIUS so die Philosophie als Denken der Welt bezeichnet, aber welche Rolle soll in dieser Arbeit der Gegenstand der Erfahrung spielen? Dieser die Fehlschlüsse und Mißgriffe des Denkens reflektierende Faktor ist doch eingestandenermaßen nicht ansich gegeben, als bestehendes Objekt schon vor und neben dem Bewußtsein vorhanden, sondern erst in stetiger Umwandlung in der Vorstellung entstehend. Und auch dieser fortlaufende Prozeß, der die vielfachen subjektiven Zumischungen (wie sie AVENARIUS nennt) eliminieren soll, wird durch uns, nicht durch diesen angeblich äußeren Gegenstand beherrscht, der sich gleichsam immer klarer und reiner der aufmerksamen Erkenntnis entschleierte; vielmehr handelt es sich in all diesen Fragen lediglich um die normale psychische Notwendigkeit, mit der wir das Geschehen eines Ereignisses oder das Sein eines Dings logisch widerspruchslos denken. Dieser innere Zwang rührt aber, wie wir sehen werden, gar nicht von der etwaigen Materie des fraglichen Dings, sondern von allgemein formalen Gesetzen her, die sich als solche nicht in der Erfahrung aufzeigen lassen. Um an einem bekannten Beispiel diese Gedanken zu veranschaulichen, so behauptet ja die empiristische Psychologie in der Empfindung und Bewegung die beiden letzten, für die Wissenschaft erreichbaren Tatsachen des psychischen Mechanismus entdeckt zu haben; über diese hinaus führt der Weg in die Irrgänge einer haltlosen und in sich widersprechenden Spekulation, die in den Begriffen der Substanz, des Ich usw. die eigentlichen Kernpunkte des ganzen Getriebes erfaßt zu haben vermeint. Hieran hat sich dann, wie bekannt, die positivistische Richtung eines COMTE, MILL und TAINE angeschlossen, die das Ich zu einem sogenannten Faden des Bewußtseins verflüchtigen. Wir möchten behaupten, daß hier eine seltsame Verkehrung des wirklichen Verhältnisses vorliegt; denn tatsächlich treffen wir in unserer Selbstbeobachtung nicht irgendeine frei umherflatternde Empfindung an, die sich herrenlos im Äther bewegte, bis es der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit etwa gelingt, sie als vorhanden zu konstatieren, sondern re vera [in Wahrheit - wp] begegnen wir diesem Zustand überall nur als dem Eigentum oder Erlebnis irgendeines Wesens, dessen genaue Bezeichnung freilich zunächst gänzlich irrelevant ist. Diese Beziehung auf ein Agens ist nicht, wie immer vorgegeben wird, ein möglicher oder notwendiger Schluß unsererseits, sondern eine gegebene, weil stetig so erprobte Tatsache der inneren Erfahrung. Erst nachher, erst nach dieser Kenntnisnahme steht es dem zergliedernden Denken frei, dieses Verhältnis beliebig zu lösen und dasjenige, was de facto nur als Produkt aufgefunden wurde, als für sich bestehend zu betrachten und umgekehrt, dasjenige, was sich jeder psychischen Wahrnehmung unvermeidlich aufdrängte, als unseren Zusatz zu jener ursprünglichen Perzeption hinzustellen. Freilich ist es uns möglich, in ausführlicher Argumentation jenen einfachen Tatbestand hinterher logisch zu erhärten und gleichsam die Wirklichkeit übertrumpfend zu beweisen, daß es sich eben nicht anders verhalten kann, daß also jede Empfindung eo ipso [schlechthin - wp] ein empfindendes Subjekt voraussetzt, als dessen Akt sie sich erst widerspruchslos denken läßt; aber diese ex post geschehende Rechtfertigung begründet nur unsere obige Behauptung, daß dieser logische Apparat sich erst in Bewegung setzt aufgrund und zufolge jener ursprünglichen, noch durch keine kritische Reflexion irgendwie beeinflußten Wahrnehmung. Wenn wir nicht eben ausnahmslos Empfindung als Zustand irgendeines Bewußtseins anträfen, so würde es suns schließlich auch nicht gelingen, dieses Bedürfnis als das logisch und sachlich korrekte zu erweisen. Jenes also ist das wirklich Gegebene, weit von aller subjektiven Laune und Willkür Unabhängige, und dieses psychische Faktum könnte man unbedenklich die reine Erfahrung nennen; verfälscht wird sie erst durch die Abstraktionen unseres Vorstellens, das zu beliebigen Zwecken dieses objektive Verhältnis verschiebt. Hierin hat HERBART unzweifelhaft Recht, der es ja als eine Hauptaufgabe der Philosophie ansah, die Widersprüche der Erfahrung, d. h. des gewöhnlichen Wissens aufzudecken und zu lösen. Nur hätte diese Funktion generell jeder Wissenschaft zugesprochen werden können. Ebenso müssen alle mythologischen Zutaten unserer Phantasie rücksichtslos geopfert werden, um auf den eigentlichen Tatbestand der Wirklichkeit zu kommen; höchstens als intelligible Scheinbilder, vielleicht einer notwendigen Jllusion entsprossen, oder als ästhetisch wirksame Momente dürfen sie eine gewisse Bedeutung beanspruchen. Aber was vor den beliebigen Zergliederungen unseres Vorstellens liegt, ist nicht der sogenannte Gegenstand oder das Ding, da dies ja nur unser subjektives Produkt ist, sondern die lebendige und wirksame Kraft, welche uns den Reiz aus einer anderen Welt, nämlich des Nicht-Ich übermittelt. Diese ist schon deshalb nicht, wie man immer behauptet, unsere Erfindung, an die wir personifizierend die strenge Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen anknüpfen, weil diese Kraft oder das Atom-Wesen (der Name macht ansich nichts aus) uns aus der Nacht des Solipsismus erretet, uns aufsucht und anregt. Freilich hat sich vielfach, namentlich in einseitig naturwissenschaftlichen Kreisen eine andere Anschauung gebildet; man spricht gern von unverbrüchlichen Gesetzen, welchen alle Dinge zu gehorchen hätte, von einem, jegliches Geschehen ausnahmslos beherrschenden Mechanismus usw. Schon LOTZE hat bereits diesen Irrtum des abstrahierenden Denkens entwickelt und auf die Gefahr wissenschaftlicher Systematik hingewiesen, die, entsprechend der antiken Denkart, die Geschöpfe der subjektiven Tätigkeit zu realen Faktoren der Welt verfestigt. Unter den Gesetzen kann doch widerspruchslos nur die eigene Natur der Wesen und Kräfte verstanden werden, welche sich in wechselnden und doch bestimmten Formen ihr gegenseitiges Verhältnis vorschreiben; dieses System von Beziehungen wird nun, nachdem wir es für unsere Anschauung erdacht haben, als die erste und allein wirksame Ursache jeglicher Veränderung ausgegeben, jene Gesetze werden (völlig platonisch) zu idealen Musterbildern potenziert, denen sich dann jedes Geschehen zu fügen hat. Offenbar eine völlig scholastische Verdrehung des wirklichen Weltlaufes; zuerst sind nicht allgemeine Gesetze, welche, jeglicher realen Anwendung auf ein Etwas ermangelnd, nur eine gänzlich undefinierbare Scheinexistenz in einer Welt des Ansich führen könnten, sondern zuerst und überhaupt sind nur Wesen, die in einem festen und unlösbaren Konnex einer immanenten Wechselwirkung miteinander stehend den Schein eines für sich bestehenden Mechanismus erzeugen. Sobald man freilich diese Formen unserer Anschauung als reale Mächte ansieht, und die sogenannten Dinge als die Substrate, an und in denen sie erscheinen, ist der Begriff der Erfahrung und des in derselben Gegebenen rettungslos verdorben und zur Quelle aller anderen Irrtümer geworden. Diese methodische Bearbeitung nun des uns durch die Sinne zugeführten Materials geschieht keineswegs letzten Endes durch Grundsätze, welche schon latent in jener Erfahrung liegen und nur durch die schärfere Zergliederung der Wissenschaft entdeckt werden: vielmehr sind wir es, die gewissen apriorischen formalen Prinzipien der eigenen Natur folgend, diesen Läuterungsprozeß vornehmen. Wie man sich auch die Entstehung jener allgemeinen Wahrheiten denken mag, so viel ist klar, daß sie nicht, selbst nicht der peinlichst genauen Beobachtung der äußeren Welt entlehnt sein können: denn sie sollen ja gerade, wie z. B. das Gesetz der Kausalität, zur Interpretation des sonst unverständlichen Zusammenhangs der Erscheinungen dienen. Es ist daher völlig konsequent, wenn Denker streng naturwissenschaftlicher Richtung, wie SCHULTZE, den Besitz dieser Prinzipien nicht in die Erfahrung setzen, sondern vor dieselbe, als das Apriori des kritischen Empirismus (Philosophie der Naturwissenschaften, Bd. 2, Seite 21f). Freilich ist ohne weiteres zuzugeben, daß diese ursprünglichen Faktoren unserer ganzen Erkenntnis nicht mit bewußter und ungetrübter Klarheit von Anbeginn unserer Existenz uns vorschweben, sondern vielmehr zunächst rein instinktiv funktionierend, in ihrer Wirksamkeit erst durch die ausdrückliche Aufmerksamkeit psychologischer Forschung erfaßt werden. Die empirische Vorstellungswelt muß erst die Aktualität dieser apriorischen, schon für die embryonale Entwicklung des Individuums maßgebenden Anlagen anregen, sonst würden sie tot und leer bleiben. So faßt SCHULTZE präzise das Verhältnis des Apriori zur Erfahrung im folgenden Schema zusammen: "Das Apriori ist nicht aus, also von der Erfahrung, jedoch in der Erfahrung entfaltet und aktuell nicht ohne Erfahrung." (a. a. O., Seite 27) Gewöhnlich wird nach der bekannten Teilung KANTs die Materie der Erfahrung, die Form dem Apriori zugeschrieben, wozu indessen LOTZE richtig bemerkt, daß diese Fassung dem wirklichen Sachverhalt nicht genau entspricht. denn eben die einfachen Empfindungen sind ja nichts Substanzielles in und an den Dingen, sondern die Zustände unseres Bewußtseins (Logik, Seite 520). Jedenfalls ist aber für die allgemeine Verknüpfung der Erscheinungen nach dem Gesetz der Identität und Kausalität die Herleitung aus einer individuellen Erprobung ihrerseits in der jeweiligen Vorstellungswelt völlig hoffnungslos, und es bleibt vorderhand nichts anderes übrig, als sie schlechthin als allgemeine und notwendige Funktionen des Bewußtseins aufzufassen, die immer und überall als Reaktionen derselben gegen irgendwelche Reize der Außenwelt auftreten. Ihre weitere Herleitung (vgl. übrigens ULRICI, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 81, Seite 161f) kann uns hier zunächst nicht weiter beschäftigen, wir konstatieren nur unter Berufung auf die schneidige Kritik HUMEs das völlige Mißlingen einer empirischen Entwicklung des propter hoc [darum - wp] aus dem post hoc [danach - wp]. Hier treffen sich zwei völlig verschiedene (die psychische und die mechanische) Welten, die nur eine harmlose Betrachtung als aus einander hervorgehend hinstellen kann; aus der unscheinbarsten und ärmlichsten Kombination zweier Tatsachen erhellt sich für jeden Unbefangenen die Einsicht, daß hier die vielgerühmte Kraft der Erfahrung versagt, ja daß überhaupt hier nicht eher von einer wissenschaftlichen Erfahrung gesprochen werden kann, als bis wir jene beiden, vorher ganz beziehungslosen Momente in ein reziprokes Verhältnis von Grund und Folge gesetzt haben. Danach scheint es uns unmöglich, trotz eines peinlich genauen Eliminationsverfahrens jemals für die Erkenntnis eine völlig reine Erfahrung zu produzieren, den Gegenstand zu erfassen, wie er gegeben ist; sowohl der inkommensurable Charakter unserer Vorstellungswelt, die in ihren Verzweigungen völlig ins Unendliche ausläuft, als die unumgänglich subjektiv modifizierte Form derselben verhindern die Realisierung dieses sichselbst widersprechenden Gedankens (vgl. SCHUSTER, "Gibt es unbewußte und vererbte Vorstellungen?", Seite 37f). Aber auch die Wertschätzung, mit der solche der reinen Erfahrung entnommene Urteile und Begriffe allen übrigen apriorischen Elementen gegenüber gestellt werden, regt allerlei triftige Bedenken an. Freilich soll auch hier die Bedeutung einer streng exakten Forschung nicht bestritten werden, die es sich angelegen sein läßt, die phantastischen Zutaten individueller Stimmung aus dem Kreis ernster wissenschaftlicher Methodik zu verbannen und nur dasjenige als wirklich wahr anzuerkennen, was sich, wie WUNDT sich ausdrückt, in aller Wahrnehmung als gegeben bewährt (Logik, Seite 382). Die Geschichte der Wissenschaften selbst legt ein beredtes Zeugnis für den rastlosen Eifer ab, mit der die fortschreitende Untersuchung die zufälligen, auf trügerischer Beobachtung oder auf einer, wie es häufig heißt, notwendigen Jllusion basierenden Kombinationen gradatim in ihrer Nichtigkeit erfaßt und nachweist. Und es kann verständlich erscheinen, wie gerade die Naturwissenschaft, im Haß gegen jede spekulative Richtung aufgewachsen, sich vorurteilsvoll gegen alle Versuche verhält, der Weltanschauung in ihrer letzten Begründung einen, über die gewöhnliche Induktion hinausreichenden Halt zu verleihen. Die Dialektik hatte sich zu grimmige Gegner geschaffen, als daß transzendentalen Untersuchungen mehr als ein souveränes Lächeln geschenkt wurde. Alles Heil wurde von der Selektionstheorie erhofft, die gestützt auf die Prozesse der Anpassung und Vererbung, allen unbequemen apriorischen Fragen glücklich entronnen zu sein vermeinte. Daß sie dennoch diesen Konnex nicht zu beseitigen vermochte, lehrt eine flüchtige Überlegung; denn die durch Übung erklärten und durch Vererbung weiter vermittelten Gewohnheiten der menschlichen Anschauung führen doch letzten Endes auf eine gegebene, nicht erst erlernte psychische Fähigkeit des Subjekts zurück, bestimmten Reizen der Außenwelt gegenüber in adäquater Weise zu reagieren. Diese Disposition (oder wie man sich sonst ausdrücken mag) ermöglicht überhaupt erst einen zusammenhängenden Fortschritt des Erkennens, das nicht mit der Seele als tabula rasa anfängt, sondern mit der, sei es auch noch so dürftig und primitiv funktionierenden Kraft, Eindrücke wahrzunehmen und eventuell zu reproduzieren. Dies ist ein schlechthin apriorisches Besitztum des menschlichen Geistes, das ihm nicht hinterher beiläufig zufallen kann, als ob er eine Zeitlang als reiner Behälter für allerlei ihm fremde Eindrücke zu existieren vermöchte; alle Prinzipien vielmehr der darwinistischen Argumentation, wie Anpassung, Übung, Anerziehung usw. setzen jene Funktion als ganz unentbehrlichen Faktor voraus. So hat man sich dann auch in letzter Zeit gewöhnt, z. B. die Kausalität nicht mehr als ein allmählich erstandenes Gut zu betrachten, das uns durch die Empirie überliefert würde, sondern als das die ganze Erfahrung und Erkenntnis schaffende und stützende Prinzip. Die Einsicht beginnt immer mehr sich Bahn zu brechen, daß die sogenannten Aussagen der Erfahrung erst das Rohmaterial für die Konstrukton einer Weltanschauung liefern, ja, daß die dürftigsten Verbindungen von Wahrnehmungen immerfort der synthetischen Verknüpfung durch das Ich bedürfen. Andererseits kann man unbedenklich denjenigen zustimmen, welche, des fruchtlosen Haders zwischen Empiristen und Aprioristen müde, vor einer voreiligen Abschätzung des Wertunterschiedes beider Elemente warnen und mit Recht darauf hinweisen,
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