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WILHELM WINDELBAND
Über die verschiedenen Phasen
der Kantischen Lehre vom Ding-an-sich

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"Es konnte Kant auf die Dauer nicht entgehen, daß Raum und Zeit genau in dieselbe psychologische Stellung gerückt waren, welche er den reinen Vernunftbegriffen zuschrieb, daß sie nämlich beide Reflexionen auf die ursprünglichen Aktionen der Intelligenz waren und daß somit auch von beiden dasselbe in erkenntnistheoretischer Wertschätzung gelten mußte. Wenn deshalb in der Inauguraldissertation die reinen Anschauungen nur auf Erscheinungen, die reinen Begriffe dagegen auf Dinge ansich bezogen waren, so konnte dieser Unterschied nicht bestehen bleiben: entweder mußten auch jene als Erkenntnis der Dinge ansich oder es durften auch diese nur als Erkenntnis von Erscheinungen gelten."

Unter den Problemen, welchen die, man kann beinahe schon sagen, von Woche zu Woche mehr anschwellende Kant-Literatur unserer Tage ihr historisches oder ihr theoretisches Interesse hauptsächlich zuwendet, steht die Frage nach dem Ding-ansich noch immer so ziemlich obenan und je wohlfeiler die bekannten Einwürfe sind, welche man gegen die von den sogenannten Kantianern und zum Teil von KANT selbst in der späteren Zeit vertretene Form dieser Lehre erheben kann, umso mehr sehen wir gerade diejenigen, welche die "Rückkehr zu Kant" predigen, bemüht, ihn in der einen oder der anderen Weise von jenen Vorwürfen zu reinigen: und da man sich daran gewöhnt hat, KANTs charakteristische und unvergängliche Leistung als Kritizismus zu bezeichnen, so ist es nicht nur eine Frage der historischen Auffassung, sondern zugleich eine Lebensfrage für den Kritizismus, in welchem Sinne man die Lehre vom Ding-ansich mit dem Wesen und Kern desselben verflochten betrachtet. Denn involviert die kritische Philosophie als solche jene groben Widersprüche eines zugleich unerkennbaren und erkennbaren, eines über alle kategoriale Bestimmung erhabenen und doch lediglich durch die Kategorie der Kausalität erschlossenen Dings-ansich, so ist sie einfach gerichtet und kann der Boden nicht sein, auf welchem sich die wissenschaftliche Philosophie der Gegenwart aufbauen zu können hoffen darf.

Und doch pflegt man nicht nur in der Lehre vom Ding-ansich, sondern gerade in dieser ihrer schroffsten und angreifbarsten Form den Schwerpunkt der kantischen Philosophie zu suchen. Von den meisten Kathedern, in fast allen Lehrbüchern der Geschichte der Philosophie älteren, neueren und neuesten Datums wird die Unerkennbarkeit der Dinge-ansich, von deren metaphysischer Stellung als Ursachen der in unserer Vorstellung vorhandenen, mit ihnen durchaus unvergleichlichen Erscheinungswelt man genau unterrichtet sei, als das prinzipielle Dogma der kritischen Philosophie verkündet. Wunderbar ist dabei nur das, wie sich mit dieser Auffassung von der philosophischen Bedeutung KANTs die landläufige Bewunderung seines Tiefsinns und seiner Originalität verträgt. Der Gedanke, daß hinter der Welt, welche in unserer Erfahrung als wirklich gilt, noch eine andere Welt der wahren Wesenheit steckt, von der jene "nur" (1) eine Erscheinung sei, dieser Gedanke dürfte ziemlich so alt sein, wie das menschliche Denken überhaupt und auch der andere Gedanke, daß wir von dieser höheren und wahrhafteren Welt nichts anderes wissen, als eben den Reflex, welchen dieselbe in unsere Vorstellung, "über die Wandöffnung unserer Höhle" wirft, sollte doch von denen, welche die Geschichte des menschlichen Denkens studieren, nicht für gar so neu gehalten werden: wenn also das die große Entdeckung KANTs sein sollte, so wäre nicht eben allzu viel daran und man täte besser, nicht so viel Aufhebens davon zu machen. Weniger deshalb in dieser metaphysischen Ansicht, als vielmehr in der erkenntnistheoretischen Art ihrer Begründung soll nach der verbreitetsten Ansicht das bedeutungsvolle Wesen der kritischen Philosophie gesucht werden: aber gerade damit gerät man in alle jene angedeuteten Schwierigkeiten, deren genauere Ausführung, eben weil sie so sehr auf der Hand liegen, viel zu häufig zu lesen ist, als daß sie hier noch einmal vorgeführt werden dürften und die Kluft, welche zwischen KANTs Erkenntnistheorie und seiner ethischen Metaphysik besteht, scheint deshalb die Forderung nötig zu machen, den Namen des Kritizismus entweder nur mit der einen oder nur mit der anderen zu verbinden, wobei dann natürlich nach KANTs eigenen Begriffsbestimmungen die Wahl nur auf die Erkenntnistheorie fallen könnte.

Allein auch diese Scheidung will nicht haltbar erscheinen. Denn im Grundbuch der kantischen Lehre, der Kritik der reinen Vernunft, ist die kritische Erkenntnistheorie bereits in so engen und nach dem Ausspruch des Verfassers so wenig zerreissbaren Zusammenhang mit der metaphysischen Annahme der Dinge-ansich gesetzt, daß man jeden Versuch, beide auseinander zu halten, im Sinne KANTs für durchaus willkürlich erklären muß. Freilich ist es richtig, daß die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft diese metaphysische Annahme (die sogenannten "realistischen" Elemente des Kritizismus) viel schärfer betont und dadurch den inneren Widerspruch viel handgreiflicher hervortreten läßt, als die erste: aber es ist andererseits unrichtig, wie SCHOPENHAUER es tat, den Unterschied beider Auflagen als einen prinzipiellen aufzufassen und in der zweiten einen "Abfall" vom reinen Geist der ersten zu sehen. In der Tat ist vielmehr alles, was in der zweiten Auflage durch seine schroffe Unvermitteltheit verletzt und verwundert, dem Geist nach bereits völlig in der ersten vorhanden, nicht so durchsichtig, nicht so ausgesprochen, aber dem Kern und dem Gehalt nach völlig identisch mit dem "Buchstaben" der späteren Darstellung. Der Unterschied beider Auflagen ist nicht sowohl qualitativ, als vielmehr quantitativ und graduell: und von jenen beiden einander widerstrebenden Elementen des Kantischen Denkens prävaliert [überwiegt - wp] das eine, die realistische Metaphysik, schon in der ersten Auflage, um dann in der zweiten das andere, erkenntnistheoretische Element vollständig zu erdrücken. Es kann deshalb nicht zugegeben werden, daß KANT von der ersten zur zweiten Auflage seinen Standpunkg wesentlich verändert hätte und die Mittelstellung der Prolegomena, welche man bei der Annahme einer prinzipiellen Differenz beider Auflagen noch auf keiner von beiden Seiten so recht hat unterbringen können, liefert den besten Beweis dafür.

Die vielbeklagte Schwierigkeit in der Auffassung der Kantischen Lehre besteht somit nicht sowohl in der Unverträglichkeit der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft mit den späteren Schriften, als vielmehr in jener selbst. Sie schon verbindet mit dem Begriff des Dings-ansich in ihren verschiedenen Teilen so verschiedene Vorstellungen, sie setzt denselben in so sehr einander widersprechende Zusammenhänge, daß es schon ihr allein gegenüber - ohne Zusammenstellung mit irgendwelchen späteren Werken - unmöglich ist, zu einer festen, klaren und widerspruchslosen Wiedergabe dessen, was KANT vom Ding ansich gelehrt hat, zu gelangen. Woher kommt das? Diese Frage dürfte der "Kantphilologie" zu besonderer Berücksichtigung und sorgfältigster Prüfung zu empfehlen sein.

Sie wird umso dringlicher in Beziehung auf die Vorstellung, welche sich über die Entstehung der Vernunftkritik eingebürgert hat. Gestützt auf eine briefliche Aussage KANTs (an MOSES MENDELSSOHN 18. August 1783) meint man für gewöhnlich, er habe diese Frucht zwölfjährigen Nachdenkens, so wie sie dasteht, aus  einem  Guß in der unglaublich kurzen Zeit von 4 - 5 Monaten niedergeschrieben. Wie? ein KANT brauch mehr als ein Dezennium angestrengtesten Nachdenkens und nachdem die Frucht so langsam und bedächtig gereift ist, legt er sie "mit der größten Aufmerksamkeit auf den Inhalt" in einem Buch nieder, in welchem nachher jeder philosophische Schächer einen nicht gerade allzu subtilen Widerspruch des Grundgedankens nachweisen kann? Liegt darin schon viel Verwunderliches, so steigert es sich bis zur Unbegreiflichkeit durch die nicht minder allgemein angenommene Ansicht von der ruhigen und stetigen Denkentwicklung, welche KANT zwischen der Inauguraldissertation und der Vernunftkritik durchgemacht habe. Aus der Korrespondenz mit LAMBERT (2. September 1770) geht hervor, daß KANT seit dem Herbst 1769 zu einem Grundgedanken gekommen war, von welchem er  im Jahre 1770 hoffte,  daß er ihn nicht wieder ändern werde: und da er die Kritik der reinen Vernunft im erwähnten Brief an MENDELSSOHN als die Frucht  zwölf jährigen Nachdenkens und in einem Brief an MARCUS HERZ (1. Mai 1782) als den "Ausschlag aller mannigfaltigen Untersuchungen, welche von den Begriffen anfingen, die sie zusammen unter den Benennung des  mundis sensibilis [die sinnlich wahrnehmbare Welt - wp] und  intelligibilis  [die mit der Vernunft erfaßbare Welt - wp] abdisputierten", und als "die ganze Summe seiner Bemühungen" bezeichnet, so hat man sich daran gewöhnt, das Dezennium von 1770 - 1780 als den "gedankenreichen und schweigsamen" Zeitraum anzusehen, in welchem KANT den 1769 erfaßten Grundgedanken des Kritizismus mit aller seiner Bedachtsamkeit in sich habe ausreifen lassen. Auch PAULSEN (Versuch einer Entwicklungsgeschichte usw., Seite 103) meint, damit hätten die "Umkippungen" ein Ende erreicht.

Gleichwohl verbürgen diese Äußerungen KANTs nicht, daß die Entwicklung dieses wichtigen Dezenniums wirklich so glatt abgelaufen wäre, wie er 1770 hoffte. Es liegt bekanntlich im Allgemeinen tiefes Schweigen über diesen Jahren und die Nachrichten, welche sich auf die Entstehung der Kritik beziehen, sind außerordentlich spärlich. Faßt man sie jedoch zusammen, so machen sie eher das Gegenteil einer stetigen und "umkippungslosen" Entwicklung wahrscheinlich. Bei Übersendung der Inauguraldissertation teil KANT an LAMBERT mit, daß er, ehe er demselben seine "Versuche in der Metaphysik" zur Prüfung vorlegen könne, seine Untersuchungen über die reine moralische Weltweisheit in Ordnung bringen und "ausfertigen" wolle, wodurch in vielen Stücken der Metaphysik selbst Bahn gebrochen werden müsse. Indessen scheint dieser erste Entwurf der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten bald bei Seite gelegt oder vielmehr einem allgemeineren Gesichtspunkt untergeordnet worden zu sein. Am 7. Juni 1771 schreibt KANT an HERZ, daß er den Winter mit der Durchsichtung der Materialien für ein Werk zugebracht hat, welches unter dem Titel, "die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft" sich jetzt in der Ausarbeitung befinde. Dasselbe sollte nach der Darstellung des folgenden Briefes an HERZ (21. Februar 1772) die Probleme der drei späteren Kritiken gemeinschaftlich umfassen. Er begründet dabei die Verzögerung des Erscheinens dieses Werkes durch die große Schwierigkeit, welche ihm das Problem der Beziehung unserer Vorstellungen auf Gegenstände gemacht habe, glaubt dasselbe jedoch nun gelöst und damit den "Schlüssel zu dem ganzen Geheimnis der Metaphysik gefunden" zu haben und stellt die Herausgabe des ersten Teils, welcher offenbar der Kritik der reinen Vernunft entspricht, "binnen etwa drei Monaten" in Aussicht. Gleichwohl erscheint derselbe nicht und wir erfahren erst aus einem Brief vom 24. November 1776, daß sich ihm zwar "die Materien, durch deren Ausfertigung er hoffen könnte, einen vorübergehenden Beifall zur erringen, unter den Händen häufen", daß "sie aber ingesamt durch einen Hauptgegenstand wie durch einen Damm zurückgehalten worden sind." Dieser sei nun endlich überwunden und er hoffe, ein dauerhaftes Verdienst daran zu erwerben, müsse aber die Ausarbeitung davon bis auf den nächsten Sommer ausdehnen. Allein noch im August 1777 liegt der "Ausfertigung" aller nun schon systematisch sich zusammenfügenden Untersuchungen noch immer die "Kritik der reinen Vernunft" als ein Stein im Weg, mit dessen Fortschaffung er im folgenden Winter fertig zu werden hofft. Dennoch sind die wenigen Bogen, welche dieses Werk umfassen soll, auch im Beginn des Jahres 1778 noch nicht zu voller Deutlichkeit gediehen; er vertröstet die Erwartung des Freundes auf den Sommer und in diesem hindern ihn (nach dem Brief vom 28. August 1778) Gesundheitsrücksichten an der "Vollendung der kleinen Entwürfe, in deren Bearbeitung er sonst nicht unglücklich zu sein hofft". Auch im folgenden Winter arbeitet er (Brief vom 15. Dezember 1778) an der Bekanntmachung seiner neuen Gedanken "über die Natur des metaphysischen Wissens oder Vernünftelns" - und dann mit einem Mal hat er, wie uns der erwähnte Brief an MENDELSSOHN lehrt, das ganze Werk in einem den anfänglichen Plan offenbar weit überschreitenden Umfang binnen 4 - 5 Monaten "wie im Fluge mit der größten Aufmerksamkeit auf den Inhalt, aber mit weniger Fleiß auf den Vortrag  zustande gebracht." 

Erwägt man diese Entstehungsgeschichte der Kritik der reinen Vernunft, so leuchtet zunächst ein, wie vollständig verfehlt es ist, den metaphysischen Standpunkt der Kritik der praktischen Vernunft als eine spätere, wohl gar, wie SCHOPENHAUER durchblicken läßt, von der Menschenfurcht des Alters diktierte Zugabe zur Kritik der reinen Vernunft anzusehen, während vielmehr KANT hiernach den Standpunkt der praktischen offenbar viel eher als denjenigen der theoretischen eingenommen und mit der Veröffentlichung des ersteren nur so lange warten zu sollen geglaubt hat, bis ihm durch den letzteren die wissenschaftliche Möglichkeit gewonnen wäre: und es bestätigt sich dadurch noch ausführlicher die Darlegung GÖRINGs ("System der kritischen Philosophie II", Seite 120f), wonach das von KANT in der Vorrede zur zweiten Auflage der Vernunftkritik abgelegte Geständnis, "er habe das Wissen aufheben müssen, um Platz für den Glauben zu gewinnen," buchstäblich zu akzeptieren ist. So findet der in neuester Zeit namentlich von WITTE (Beiträge zum Verständnis Kants) hervorgehobene innere Zusammenhang beider Kritiken seinen sicheren Beweis auch in der Geschichte ihrer Entstehung.

Nicht minder wichtig aber ist es, aus diesen Äußerungen KANTs, so fragmentarisch und vieldeutig sie sind, doch so viel klar hervortreten zu sehen, daß der Weg von der Inauguraldissertatioin zur Kritik der reinen Vernunft nicht so einfach, glatt und eben gewesen ist, als man sich gern vorstellt: und es geht aus den abgerissenen Andeutungen der Briefe unverkennbar hervor, daß auch die Kritik der reinen Vernunft erster Auflage bereits das Produkt mehrfacher Umarbeitungen ist. Denn selbst wenn die Briefe an MARCUS HERZ nicht ausdrücklich dafür Zeugnis ablegten, daß KANT bereits 1772 und ebenso 1176 bis 1778 ein Manuskript besaß, muß es von vornherein als durchaus unwahrscheinlich gelten, daß er zehn Jahre lang die Resultate tiefsten Nachdenkens ungeschrieben gelassen hätte, um so unwahrscheinlicher, je mehr man an seine bekannte Gewohnheit denkt, selbst einzelne sich ihm gerade darbietende Gedanken auf Gedenkzetteln zu vermerken. Wenn es demnach als zweifellos gelten darf, daß ihm, als er schließlich das Werk in 4 - 5 Monaten "zustande brachte" zahlreiche Manuskripte aus diesem Dezennium vorlagen, so muß vermutet werden, daß er in manchen Partien des Werkes die früheren Konzepte, wenn nicht ganz aufnahm, so doch überarbeitend benutzte. Ja, wenn man eine Andeutung in der mehrfach berührten Stelle von KANTs Brief an MENDELSSOHN heranziehen darf, worin er seinen Entschluß zu der schleunigen Fertigstellung der Kritik der reinen Vernunft damit motiviert, daß "bei längerem Aufschub das Werk vermutlich ganz unterblieben wäre", so dürfte man daraus beinahe auf ein Bedürfnis KANTs schließen, diese Untersuchungen, mit denen er sich nun schon so lange und mit so mannigfachen Wendungen des Gedankens herumschlug, endlich zu einem gewissen Abschluß zu bringen. Jedenfalls scheint es geboten, beim Umfang der Kritik, bei der Schwierigkeit ihrer Auseinandersetzungen, bei der pedantischen Sorgfältigkeit ihres Verfassers, dessen brieflicher Ausdruck über die Hastigkeit und Sorglosigkeit seiner Ausarbeitung auch ohne die schmeichelhafte Schlußwendung an MENDELSSOHN  cum grano salis  [mit einer Brise Salz - wp] zu verstehen wäre, (2) bei seiner sonstigen Tätigkeit, seiner Gewissenhaftigkeit in der Erfüllung des akademischen Berufs, bei seiner schwächlichen Gesundheit, - es ist bei alledem geboten, die Zeit von 4 - 5 Monaten, in welcher er das Werk "zustande gebracht" habe, so zu verstehen, daß er in derselben nicht sowohl alles neu geschrieben, als vielmehr endgültig redigiert und aus den früher entstandenen Manuskripten zusammengestellt hat.

Muß man hiernach annehmen, daß KANT in der Entwicklung von der Inauguraldissertation zur Kritik der reinen Vernunft nicht so sehr eine langsame Ausbildung des feststehenden Grundgedankens, als eine Wandlung in der Auffassung prinzipieller Hauptpunkte durchgemacht hat und darf man vermuten, daß er in der Ausarbeitung der Kritik eine Reihe von Manuskripten benutzte, welche verschiedenen Zeitpunkten des Dezenniums von 1770 - 1780 ihren Ursprung verdankten, so steht auch dei Möglichkeit offen, anzunehmen, daß er bei dieser Einfügung in das abschließende Werk einiges stehen gelassen hat, was sich mit dem Standpunkt, welchen er 1780 einnahm und von welchem aus er natürlich die Schlußredaktioin leitete, nicht mehr vertrug oder daß, wo er solche Reste eines ihm damals schon nicht mehr genügenden Stadiums seiner Entwicklung umarbeitete, denselben doch wie einem Palimpsest [wiederbeschriebene mittelalterliche Manuskriptseite - wp] die alten Züge unverwischbar eingedrückt blieben. Dieser Hypothese an der Hand des Wortgebrauchs, des Stils, der ganzen Darstellungsart, welche in der Tat in den verschiedenen Teilen der Kritik nicht die Gleichmäßigkeit zeigen, wie sie bei einer Abfassungszeit von 4 - 5 Monaten erwartet werden dürfte, genauer nachzugehen, möchte vielleicht einen richtigen KANT-Philologen reizen: hier mag vorerst nur an der allgemein für so wichtig gehaltenen Lehre vom Ding ansich der Versuch dazu gemacht werden.

Es gehört zu den bedeutendsten und sichersten Resultaten des vortrefflichen Buchs von PAULSEN (Versuch usw.) klargestellt zu haben, daß die Frage nach dem Ding ansich und seiner Erkennbarkeit für die historische Auffassung und vielleicht auch für die spätere Selbstbeurteilung KANTs selber erst durch das Interesse der nachkantischen Philosophie die hervorragende Bedeutung gewonnen hat, welche man ihr zuzuschreiben gewohnt ist, daß sie dem Kritizismus gewissermaßen erst aufgedrängt worden ist und daß die ursprüngliche Problemstellung dessselben, woraus sie sich erst als Folgerung ergeben hat, in einer ganz anderen Richtung lag. Wenn PAULSEN diese Richtung mit überzeugender Analyse als das Bestreben KANTs charakterisiert hat, den Rationalismus  a tout prix  [um jeden Preis - wp] zu retten, so verdankt er diese überaus wichtige Einsicht nicht zum wenigsten der geschärften Aufmerksamkeit, welche er zum ersten mal der Inauguraldissertatioin zugewendet hat. In den Augen der Zeitgenossen wie der Historiker durch die darauf folgende große Erscheinung der Vernunftkritik verdunkelt, hatte dieses Schriftchen bisher fast nur als eine unvollkommene Vorbereitung der letzteren gegolten, worin nur der Gedankengehalt der transzendentalen Ästhetik sich schon vollständig entwickle, im Übrigen aber ein "an Mystizismus streifender" Übergangsstandpunkt vorgetragen werde. PAULSEN erst hat erkannt, daß sich KANTs rationalistische Grundüberzeugung gerade in dieser Schrift klar und scharf ausspricht, indem sie den  von  ihm nicht wieder fallen gelassenen - hierin freilich gibt's keine "Umkippungen" mehr - Gedanken, daß es Erkenntnis durch "reine Vernunft" gibt, gleichmäßig für die sensible wie für die intelligible Welt darzutun sucht.

Es ist auch für diese Untersuchung nicht unwichtig, wo man die Motive sucht, welche am Ende der sechziger Jahre diese Wandlung KANTs zum Rationalismus herbeigeführt haben. KUNO FISCHER bezeichnet als den Springpunkt des Kritizismus die synthetischen Urteile  a priori  der Mathematik: dafür spricht die Wichtigkeit, welche dem mathematischen Denken überhaupt in KANTs vorkritischer Entwicklung zukommt und das Interesse, welches für dieses Problem schon die Schriften aus der Mitte der sechziger Jahre zeigen; dagegen der Umstand, daß der Gegensatz analytischer und synthetischer Urteile in der Inauguraldissertation völlig zurücktritt. GÖRING hat (a. a. O.) schon hier die Wirkung jenes Bedürfnisses konstatieren wollen, welches KANT leitete, für die moralischen Ideen, die ihm in den "schrecklichen Umsturz" des HUMEschen Skeptizismus verwickelt zu werden schienen, eine apriorische Vernunfterkenntnis zu sichern: dafür spricht die durch den Brief an LAMBERT bezeugte Gleichzeitigkeit seiner Beschäftigung mit der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten in Verbindung mit seinen späteren Äußerungen, dagegen der Umstand, daß die Inauguraldissertation durchgehends ein wesentlich rein theoretisches Interesse atmet, auf die Lehre von der sensiblen Welt ihr Hauptgewicht legt und für die praktischen Überzeugungen nur schließlich willkommene Folgerungen zieht. PAULSEN wünscht den Gesichtspunkt in den Vordergrund zu rücken, daß KANT in seiner neuen Unterscheidung der Dinge ansich und der Erscheinungen den Hebel gefunden habe, um die auf die Kausalität bezüglichen Angriffe des Skeptizismus zu überwinden: dafür spricht die Darstellung der Prolegomena, dagegen die auch PAULSEN nicht entgangene Tatsache, daß dieses Argument zwar für die Kritik, dagegen gerade nicht für die Inauguraldissertation gilt, in welcher die Realität des Kausalbegriffs eben für die Noumena anerkannt wird.

Dagegen sind bei PAULSEN die fast vollständig vorhandenen Prämissen für eine andere Erklärung in der Hauptsache unbenützt geblieben. Er hat den Gedankengehalt der Inauguraldissertation völlig scharf und richtig dahin präzisiert, daß dieselbe zu erweisen sucht, es gebe apriorische Erkenntnis aus reiner Vernunft und zwar dadurch, daß  der Geist ursprüngliche Gesetze aller Erkenntnistätigkeit enthält  und daß diese in den ursprünglichen reinen Begriffen uns zur Reflexion gelangen. Dabei weist er in einer gelegentlichen Anmerkung darauf hin, wie nahe verwandt mit diesem Grundgedanken die Ausführungen von LEIBNIZ' bekannt erst 1765 erschienenen  Nouveaux essais  sind: er hätte sagen sollen, daß der Grundgedanke beider Werke genau derselbe ist. Es ist das Gleiche: nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu, nisi intellectus ipse, [Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war, ausgenommen der Geist selbst. - wp] welches LEIBNIZ dem LOCKEschen Empirismus entgegenhält und wodurch KANT in sich den HUMEschen Skeptizismus überwindet. Es muß als selbstverständlich angesehen werden, daß KANT, mit Erkenntnistheorie eifrig beschäftigt, das Grundwerk seines großen deutschen Vorgängers nicht ungelesen lassen konnte; (3) PAULSEN hat außerdem durch eine Stelle aus der Schrift von MARCUS HERZ nachgewiesen, daß es diesem Freund KANTs, der seinem philosophischen Geist um diese Zeit am allernächsten stand, bekannt war. Es kommt hinzu, daß die Inauguraldissertation auch im Einzelnen die Fragestellung, wie sie zwischen LOCKE und LEIBNIZ schwebte, aufnimmt und genau im Sinne des letzteren beantwortet. Sowohl bei den (später so genannten) Kategorien, als auch bei den reinen Anschauungen, Raum und Zeit, erhebt er die seinen früheren Untersuchungen so gut wie völlig fremde Frage, ob sie  connati [angeboren - wp] oder  aquisiti  [erworben - wp] seien und entscheidet beide Male mit LEIBNIZ, sie seien erworben durch Reflexion auf die bei Gelegenheit der Erfahrung in Aktion getretenen konstanten Gesetz der Vernunftfunktionen. Endlich aber ist nicht zu vergessen, daß von dieser LEIBNIZschen Lehre sich sehr einfach eine Brücke zu den Betrachtungen HUMEs, mit denen KANT rang, schlagen ließ. HUME hatte das Impressionsoriginal für die Idee der Kausalität in einer konstanten Verfahrensweise des erfahrenden Geistes, bekanntlich in der Gewohnheit einer und derselben Sukzession gesucht. Dieselbe "konstante Aktion" des Geistes benutzte HUME, um die Ungültigkeit der darauf gegründeten Abstraktion zu erschließen, benutzte LEIBNIZ, um sie als nicht durch erfahrene Wirklichkeit aufgezwungen, sondern aus dem Gesetz der vorstellenden Vernunft entsprungen aufzufassen und aus ihr die "ewige Wahrheit" zu abstrahieren. Es scheint nun, als habe KANT diese LEIBNIZsche Ausführung in den  Nouveaux essais  eingeleuchtet und ihn auf die Seite des Rationalismus, den er früher so ungern aufgegeben hatte, definitiv zurückgezogen.

Der historischen Auffassung KANTs hat von jeher die Gefahr nahe gelegen, über dem scharfen Gegensatz, in welchem sich der zermalmende Kritiker zur LEIBNIZ-WOLFFschen Metaphysik befindet, die wichtigen Einflüsse zu übersehen, welche er nicht nur in seiner vorkritischen Periode daher erhalten, sondern auch noch über seine kritische Entwicklung hinaus bewahr hat. Je mehr man in neuerer Zeit den eminent rationalistischen Charakter der kantischen Philosophie an das Licht zu ziehen beginnt, umso mehr wird man auch auf diese Bezüge aufmerksam werden. Das soeben entwickelte Verhältnis der Inauguraldissertation zu den  Nouveaux essais  zu verdecken, kam aber noch der andere Umstand hinzu, daß die Geschichte der Philosophie selten daran gedacht hat, die weiter greifende Wirkung des letzteren Werkes erst von seinem öffentlichen Erscheinen, d. h. vom Jahr 1765, zu datieren. Und doch liegt die Wirksamkeit, welche dieses Werk damals ausgeübt hat, klar auf der Hand: neben der kantischen Inauguraldissertation sei an dieser Stelle nur die wichtigste philosophische Erscheinung des achten Jahrzehnts, die 1776 und 1777 erschienenen "Versuche über die menschliche Natur" von TETENS, erwähnt, in welchen unter sichtlichem Einfluß der LEIBNIZschen Apperzeptionslehre und vielleicht im Anschluß an KANTs Inauguraldissertation, die er erwähnt, die "ursprünglichen Verhältnisgedanken" als "subjektivische Notwendigkeiten" dargestellt werden, nach welchen als nach den Naturgesetzen des Denkens die Synthesis der Perzeptionen so vollzogen wird, daß daraus eine in sich notwendige, deshalb praktisch zuverlässige, aber von der eigentlichen Welt der Gegenstände vielleicht durchaus verschiedene Vorstellungswelt resultiert. So war, wie man sieht, unter demselben Einfluß der LEIBNIZschen Erkenntnistheorie im achten Jahrzehnt auch TETENS auf dem Weg zur Kritik der reinen Vernunft, auf dem er jedoch in der Mitte stehen blieb.

Noch in einer anderen Beziehung aber befindet sich KANT im Jahre 1770 in einer Abhängigkeit, welche zugleich in einen partiellen Gegensatz umschlägt, von der LEIBNIZschen Erkenntnistheorie: und das ist die ihm bis dahin gleichfalls fernstehende Unterscheidung von Ding ansich und Erscheinung, welche einen der Grundzüge der Inauguraldissertation bildet. Die englische Philosophie lag dem kantischen Denken um diese Zeit wesentlich in der Gestalt der HUMEschen Lehre nahe; in dieser aber war die von LOCKE stark urgierte Unterscheidung zwischen Dingen ansich und subjektiven Erscheinungen aus verschiedenen Gründen beiseite geschoben. Wenn dagegen jetzt KANT unter dem Einfluß des LEIBNIZschen Werkes sich wieder mit der Erkenntnistheorie des deutschen Rationalismus befreundete, so gewann diese Unterscheidung für ihn neue Bedeutung. Hier war sie gang und gäbe und zwar überall in der Verknüpfung mit dem Gegensatz von Verstand und Sinnlichkeit, derselben, in welcher sie in der kantischen Inauguraldissertation auftritt. In den  Nouveaux essais  selbst (vgl. besonders livre IV, chap. III) steht  le monde intelligible des substances  [die geistige Welt der Substanzen - wp] den  phénoménes des sens [den sinnlichen Phänomenen - wp] oder dem  monde matériel  [der materiellen Welt - wp] gegenüber; die WOLFFsche Philosophie hielt diesen Gegensatz durchgängig aufrecht und führte ihn auf den bekannten Unterschied der deutlichen Verstandeserkenntnis und der verworrenen Sinnesauffassung zurück.

Indem KANT diese Lehre aufnahm, änderte sie sich ihm doch nach einer überaus wichtigen Richtung um - ein entscheidender Fortschritt, der auf KANTs abweichender Auffassung des Verhältnisses von Sinnlichkeit und Verstand beruhte. Die LEIBNIZ-WOLFFsche Philosophie hatte bekanntlich zwischen beiden nur den graduellen Unterschied verworrener und deutlicher Vorstellung gesetzt: dieser Lehre tritt KANT zu Beginn der Inauguraldissertation (§ 3 - 7) mit starkem Akzent entgegen; er lehrt, daß Sinnlichkeit und Verstand zwei völlig verschiedene Verfahrensweisen der Seele sind und stellt seine bekannte Lehre von der Rezeptivität und Spontaneität auf, wobei er doch an der LEIBNIZ-WOLFFschen Beziehung der Sinne auf die Erscheinungen, des Verstandes auf die Dinge ansich festhält und sie sogar tiefer zu begründen sucht. Während deshalb die Inauguraldissertation in der Lehre vom Ding ansich völlig auf der Straße des deutschen Rationalismus wandelt, besteht ihre Originalität in der neuen Auffassung des Gegensatzes von sinnlicher Erfahrhung und begrifflichem Denken.

Es ist höchst charakteristisch, daß die Differenz, in welcher wir KANT auf diesem Standpunkt mit der deutschen Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts sehen, in einer psychologischen Grundansicht besteht. Man verdankt dem Werk von COHEN (Kants Theorie der Erfahrung), welches mit Recht einen hervorragenden Platz in der neuesten KANT-Literatur einnimmt, die entscheidende Einsicht in die Folgerichtigkeit, mit welcher sich die Lehren der Vernunftkritik aus einem psychologischen Grundschema entwickelt haben. Diese Abhängigkeit des Kritizismus von der psychologischen Theorie seines Urhebers, welche durch alle gegenteilige Äußerungen desselben nicht verdeckt werden kann, zeigt sich schon in der Inauguraldissertation; ja, sie tritt hier, wo der Ausgangspunkt direkt in dieser psychologischen Antithese von Sinnlichkeit und Verstand genommen wird, viel klarer und unverhüllter hervor. Daß aber KANT um das Jahr 1770 herum eben in dieser seiner neuen psychologischen Theorie den Schwerpunkt seines eigenen Denkens suchte, geht aus mehreren brieflichen Zeugnissen hervor. Der Brief an LAMBERT (2. September 1770) klagt, daß die allgemeinsten Sätze der Sinnlichkeit "fälschlich in der Metaphysik spielen, wo es bloß auf Begriffe und Grundsätze der reinen Vernunft ankommt" und plant eine  Phaenomenologia generalis,  worin "Gültigkeit und Schranken der Prinzipien der Sinnlichkeit bestimmt werden sollen, damit sie nicht die Urteile über Gegenstände der reinen Vernunft verwirren". Ferner liegt in dieser Richtung die ganze Tendenz des beabsichtigten Werkes "Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft" (soll natürlich heißen: "Die Grenzen  zwischen  der etc.). Daß diese "Befreiung des Intellektuellen von den Bedingungen der Sinnlichkeit" sich auch auf praktischem Gebiet entscheidend erwies, hat schon PAULSEN (Seite 117) angemerkt: während KANT in seiner empiristischen Periode auch der Begründung der Moral durch das Gefühl und der sensualistischen Ethik der Engländer zuneigte, wie aus seinen "Beobachtungen" genugsam hervorgeht, wendet sich die Inauguraldissertation sehr scharf gegen SHAFTESBURY und seine Anhänger und der Brief an MARCUS HERZ vom 21. Februar 1772 sagt, daß KANT "es in der Unterscheidung des Sinnlichen vom Intellektualen in der Moral schon vorher ziemlich weit gebracht hatte." Der Rigorismus seiner Ethik, deren Ursprung, wie oben erwähnt, bis in diese Zeit reicht, mit seiner schroffen Entgegensetzung von sinnlichen und Vernunfttrieben weist deshalb unmittelbar auf diese allgemeinere Erkenntnis des Gegensatzes von Sinnlichkeit und Vernunft (4) zurück. Unter diesen Umständen muß man geneigt sein, die Äußerung KANTs im Brief an LAMBERT vom prinzipiellen Gesichtspunkt, den er gewonnen habe und nicht wieder zu ändern hoffe, auf diese seine Überzeugung von der totalen Differenz der Sinnlichkeit und der Vernunft zu beziehen, welche wir ihn um diese Zeit bemüht sehen, gleichmäßig in der theoretischen, wie in der praktischen Philosophie durchzuführen.

Eine andere Frage ist es, wie er zu dieser Überzeugung gelangt ist und hier wird kein Zweifel obwalten können, daß KUNO FISCHER den entscheidenden Punkt getroffen hat. Der Ursprung dieses originellsten Gedankens der kantischen Philosophie liegt in der Mathematik, respektive in KANTs Auffassung derselben als einer zugleich sinnlichen und apriorischen Erkenntnis. Wenn alle sinnliche Erkenntnis nur verworrenes Erfahrungswissen war, so wurde die Apriorität der Mathematik zweifelhaft und da diese (wohl nicht ohne Einfluß des für KANT durch MARTIN KNUTZEN vermittelten NEWTONschen Denkens) für ihn über allen Zweifeln erhaben feststand und gewissermaßen den unbewegten Felsen im Gewoge seiner Überlegungen bildete, so sah er sich zu einer von der LEIBNIZ-WOLFFschen abweichenden Auffassung vom Verhältnis der Sinnlichkeit zum Verstand gedrängt. Diese glaubte er psychologisch durch den Gegensatz der Rezeptivität und der Spontaneität gewonnen zu haben. Allein es zeigte sich bald, daß er dabei nicht stehen bleiben konnte: denn nur durch die Entdeckung, daß es auch in der sinnlichen Auffassung der Erscheinungswelt notwendig funktionierenden Gesetze der "Vernunft", nämlich Raum und Zeit, gibt, gewann er die Möglichkeit, das Prinzip der LEIBNIZschen Erkenntnistheorie von den Verstandesbegriffen der Metaphysik auch auf die mathematische Erkenntnis auszudehnen und eben in dieser Ausdehnung besteht das eigentlich Neue der Inauguraldissertation. Hieraus erklärt es sich, weshalb der Schwerpunkt dieser Schrift auf die Entwicklung der Lehre von Raum und Zeit fällt und die Apriorität der reinen Verstandesbegriffe nur kurz berührt wird: diese war von LEIBNIZ selbst nachgewiesen worden, jene war das Neue, das KANT im Parallelismus dazu aufstellte.

Es scheint KANT entgangen zu sein, daß, indem er Form und Materie der sinnlichen Erkenntnis so scharf unterschied und die Form auf das Funktionsgesetz des Subjekts, die Materie auf die Affektion der Objekte zurückführte, er den Charakter der Sinnlichkeit als reiner Rezeptivität wieder aufhob: (5) die Paragraphen 3 und 4 der Inauguraldissertation stehen in einem Widerspruch, der auch in der Kritik der reinen Vernunft bekanntlich stehen geblieben ist. Derselbe erklärt sich nur so: nachdem KANT einmal die apriorische Erkenntnis der Metaphysik auf das LEIBNIZsche Prinzip gegründet hatte, führte ihn das Bedürfnis, die Apriorität der Mathematik nicht minder sicher zu stellen, auf die fundamentale Entdeckung, daß auch der sinnlichen Erkenntnis solche notwendige Formen der Vernunftaktion zugrunde liegen: andererseis aber zwang ihn die aus der LEIBNIZ-WOLFFschen Philosophie festgehaltene Annahme, daß der Verstand Dinge ansich, die Sinnlichkeit Erscheinungen erkennt, zu der weiteren Annahme, daß alle sinnliche Erkenntnis von der zufällige Aufnahmefähigkeit des Subjekts, alle Vernunfterkenntnis dagegen von der notwendigen Beziehung auf die absolute Wahrheit abhängt. Ohne die Kreuzung dieser beiden Gesichtspunkte hätte man vielmehr erwarten müssen, daß er, wenn er im Anfang des § 4 alles von der Organisation des Subjekts Abhängige der Erscheinungswelt zuwies, auch die Erkenntnis durch "reine Begriffe" schon jetzt dahin gerechnet hätte. So aber stellt sich in dieser ersten Phase vom Jahre 1770 seine Ansicht folgendermaßen dar: es existiert eine Welt der Substanzen oder Dinge ansich; diese erscheint in unserer sinnlichen Rezeptivität als räumliche und zeitliche Erfahrungswelt, so daß wir von den einzelnen "Sensationen", welche Wirkungen der Dinge-ansich sind, ein je nach der Lage des Individuums verschiedenes Wissen, von den allgemeinen räumlichen und zeitlichen Gesetzen aber, nach welchen sie sich in unserer Sinnlichkeit anordnen müssen, eine apriorische Erkenntnis besitzen; zugleich aber haben wir von dieser Welt ansich eine adäquate Verstandeserkenntnis aus reinen Begriffen, weil wir, wenn wir die Welt nur begrifflich denken, sie nach den Gesetzen unserer Vernunft denken und weil diese Vernunftgesetze die Welt der Dinge ansich,  welche eben die intelligible ist,  unmittelbar erfassen, wofür in der Gemeinschaft aller Substanztätigkeit in Gott eine erklärende Grundlage gesucht werden muss.

Mit diesen Prämissen begann die kantische Denkarbeit der siebziger Jahre. Ihre erste Aufgabe war, den Besitzstand der von der sinnlichen Rezeptivität unabhängigen apriorischen Vernunfterkenntnis zweifellos festzustellen. Die Briefe an LAMBERT und MARCUS HERZ bestätigen, wie KANT diese Aufgabe auf praktischem und auf theoretischem Gebiet gleichmäßig verfolgte. Während ihm aber dies in ersterer Richtung verhältnismäßig leichter geworden zu sein scheint, stieß er in letzterer auf unvermutete Schwierigkeiten. Er hatte, um der Apriorität der Mathematik willen, in der sinnlichen Erkenntnis die "subjektivischen Notwendigkeiten" der Anschauungen Raum und Zeit von der lediglich rezeptiv vermittelten Materie der Erfahrung geschieden: es konnte ihm auf die Dauer nicht entgehen, daß auf diese Weise Raum und Zeit genau in dieselbe psychologische Stellung gerückt waren, welche er den reinen Vernunftbegriffen zuschrieb, daß sie nämlich beide Reflexionen auf die ursprünglichen Aktionen der Intelligenz waren und daß somit auch von beiden dasselbe in erkenntnistheoretischer Wertschätzung gelten mußte. Wenn deshalb in der Inauguraldissertation die reinen Anschauungen nur auf Erscheinungen, die reinen Begriffe dagegen auf Dinge ansich bezogen waren, so konnte dieser Unterschied nicht bestehen bleiben: entweder mußten auch jene als Erkenntnis der Dinge ansich oder es durften auch diese nur als Erkenntnis von Erscheinungen gelten. Diese erkenntnistheoretische Konsequenz der psychologischen Theorie KANTs war unausweichlich: und da er sich von der Gültigkeit der reinen Anschauungen nur für die Erscheinungswelt in der Inauguraldissertation tief durchdrungen hatte, so mußte in ihm die den Standpunkt der letzteren vernichtende Ansicht durchbrechen, daß auch die Geltung der reinen Begriffe auf die Erfahrungswelt beschränkt sei. Nur so ist es zu verstehen, wenn er am 7. Juni 1771 an MARCUS HERZ schreibt:  "Wenn man nicht von der Systemsucht hingerissen ist,  so verifizieren sich auch einander die Untersuchungen, die man über ebendieselbe Grundregel in der weitläufigsten Anwendung anstellt" und wenn er damit den Satz begründet: "Sie wissen, welchen großen Einfluß die gewisse und deutliche Einsicht in den Unterschied dessen, was  auf subjektivischen Prinzipien der menschlichen Seelenkräfte, nicht nur der Sinnlichkeit, sondern auch des Verstandes,  beruth, von dem, was gerade auf die Gegenstände geht, in der ganzen Weltweisheit habe." Mit der Erkenntnis dieser Konsequenz ist somit das Bewußtsein verknüpft, daß damit das System der Inauguraldissertation in sich zusammenfalle.

Die volle Klarheit darüber bringt der folgende Brief, der berühmte vom 21. Februar 1772. Hatte KANT in der Inauguraldissertation mit Anknüpfung an MALEBRANCHE die Erkenntnis der Dinge ansih durch die reinen Verstandesbegriffe auf die Einheit aller Substanzen in Gott zurückgeführt, so ist er hier zu der Erkenntnis gelangt, daß eine solche durch den  Deus ex machina [Auftauchen einer Gottheit mit Hilfe einer Bühnenmaschinerie - wp] vermittelte Übereinstimmung der Vernunftbegriffe mit dem Wesen der intelligiblen welt das Ungereimteste sei, was man in der Erkenntnistheorie annehmen könne. Aus dieser  einen  Stelle schon erhellt sich die schreckliche Seichtigkeit und Unvorsichtigkeit des Einwurfs, welcher vor einigen Jahren viel Staub aufwirbelte, KANT habe die Möglichkeit einer von vornherein bestehenden Übereinstimmung der apriorischen Erkenntnisformen mit den Dingen ansich oder, wie er selbst es hier nennt, der  harmonia praestabilita intellectualis,  wie er anderswo sagt des "Präformationssystems der reinen Vernunft",  völlig übersehen.  (6) Die Sectio IV der Inauguraldissertation, auf welche er schon im Herbst 1770 nicht mehr allzugrußen Wert gelegt zu haben scheint (siehe den Brief an LAMBERT vom 2. September 1770, wonach sie "als unerheblich übergangen werden kann"), ist damit definitiv desavouiert und zugleich ist bekanntlich einer der wichtigsten Gesichtspunkte der Kritik der reinen Vernunft gewonnen. Ja, KANT ist schon weiter. Er hat schon das Prinzip gefunden, wonach "sich alle Begriffe der gänzlich reinen Vernunft durch einige wenige Grundgesetze von selbst in Klassen teilen", d. h. er befindet sich bereits im Besitz der Kategorientafel und da er in demselben Brief das Erscheinen des ersten Teils seines Werkes über die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft binnen drei Monaten verspricht, so müssen wir annehmen, daß seine Arbeit diejenigen Untersuchungen, welche später der transzendentalen Ästhetik und der transzendentalen Analytik etwa bis zum Ende ihres ersten Hauptstückes als Konzepte gedient haben, um diese Zeit bereits beendet hatte. Es muß als Bestätigung dafür angesehen werden, daß diese Teile auch in der Form, in welcher sie der Vernunftkritik einverleibt sind, in auffallendem Gegensatz gegen die weiteren Partien die psychologische Grundlage dieser Untersuchungen ganz naiv und unverhüllt an die Spitze stellen. Vgl. nach der Paragraphierung der zweiten Auflage §§ 1, 2 im Anfang, ferner den Abschnitt ber die "Idee einer transzendentalen Logik" Nr. I usw. Und wie stark diese psychologische Tendenz und zugleich ihre Abhängigkeit von den LEIBNIZschen Auffassungen  damals  war, mag man aus folgendem Satz beurteilen: "Wir werden also die reinen Begriffe bis zu ihren ersten Keimen und Anlagen im menschlichen Verstand verfolgen, in denen sie vorbereitet liegen, bis sie endlich  bei Gelegenheit der Erfahrung  (occasione experientiae sagte auch die Inauguraldissertation § 8) entwickelt und durch eben denselben Verstand von den ihnen anhängenden empirischen Bedingungen befreit, in ihrer Lauterkeit dargestellt werden." All das weist darauf hin, daß diese Teile der Vernunftkritik mit ihrer Entstehung nah an die Inauguraldissertation gesetzt werden müssen: denn der spätere KANT, der den psychologischen Charakter seines ganzen Werkes so weit von sich wie, hätte wohl kaum noch schreiben können, was die "Analytik der Begriffe" eröffnet,  das ganze Geschäft der Transzendentalphilosophie  sei "die noch wenig versuchte Zergliederung des Verstandes vermögens  selbst, um die Möglichkeit der Begriffe  a priori  dadurch zu erforschen, daß wir  sie  im Verstand allein, als ihrem Geburtsort, aufsuchen und dessen reinen Gebrauch überhaupt analysieren." Wenn das nicht ein psychologisches Geschäft ist, - was ist es dann?

Da ist nun also gleich im Anfang der siebziger Jahre die verhängnisvolle Wendung welche das in die Erkenntnis der Dinge ansich durch reine Vernunft eingelebte Jahrhundert des Rationalismus so tief erschüttern sollte: die Wendung zur Unerkennbarkeit der Dinge ansich. Daß KANT auf dieselbe nicht fahndete, sondern durch den Zusammenhang der Probleme mit Notwendigkeit darauf geführt wurde, hat PAULSEN evident gemacht: derselbe hat überhaupt diesen Teil der kantischen Entwicklung auf den glücklichsten Ausdruck gebracht, wenn er den Kern dieser Wandlung dahin bestimmt: KANT habe die Erkenntnis der Dinge ansich preisgegeben, um die apriorische Gültigkeit der reinen Begriffe aufrecht zu erhalten; er habe den Idealismus aufgenommen, um den Rationalismus zu retten. (7)

Abgesehen nämlich von jener psychologisch und erkenntnistheoretisch parallelen Stellung, welche die reinen Verstandesbegriffe neben den reinen Anschauungen eingenommen hatten, erhob sich für KANT, als er den zweiten Teil seines Werkes: "Die Metaphysik und zwar nur nach ihrer Natur und Methode," genauer zu behandeln unternahm, jene große Schwierigkeit, um welche sich das Hauptinteresse des Briefes an HERZ vom 21. Februar 1772 dreht: wie nämlich die Beziehung dieser Verstandesvorstellungen auf Gegenstände überhaupt denkbar sei. Hier steht KANT am Kardinalproblem des Kritizismus: es lautet ihm: wie ist der Prozeß einer rationalen Erkenntnis der Realität zu begreifen? Die bloß sinnlichen Vorstellungen machen keine Schwierigkeit. Sie haben in ihrer Materie, welche nur durch die Affizierung der Dinge ansich in uns entspringt, eine Beziehung auf den Gegenstand, welche KANT hier, "da die Wirkung der Ursache gemäß sein müsse", ganz begreiflich erscheint: und die apriorische Erkenntnis ihrer Form hat, da sie "aus der Natur unserer Seele entlehnt ist" und da nur durch die letztere überhaupt Erscheinungen möglich sind, Gültigkeit für alle Erscheinungen, wenn auch nur für diese. Ganz anders aber steht es in der Verstandeserkenntnis. Wäre der Verstand ein Vermögen der Rezeptivität, ein  intellectus ectypus [Bilder bedürftiger Verstand - wp] (wie KANT mit einem auf bei LOCKE wichtigen älteren Terminus sagt), wäre er affizierbar und könnte er die Data seiner logischen Behandlung aus der sinnlichen Anschauung der Sachen schöpfen, so hätten wir gerade wie bei der Materie der sinnlichen Passion eine "verständliche" Beziehung auf die Dinge. Andererseits, wäre der Verstand pure, schöpferische Aktion, ein  intellectus archetypus  [schöpferischer, göttlicher Intellekt - wp], wodurch die Gegenstände hervorgebracht würden, so wäre es wiederum "verständlich", daß, wie die Formen der reinen Anschauungen, Raum und Zeit, für alle Erscheinungen gelten, weil die letzteren als solche erst dadurch zustande kommen, so auch die reinen Verstandesbegriffe für die Dinge ansich gälten, weil diese eben nach der inneren Gesetzmäßigkeit dieses schöpferischen Verstandes hervorgebracht würden. Beides aber ist nicht der Fall: der menschliche Intellekt ist weder ectypisch noch archetypisch; die Verstandesbegriffe sind weder Modifikationen der Seele durch den Gegenstand, noch ist umgekehrt der Verstand die Ursache der Gegenstände und so entsteht das schwerwiegende Problem: wie kommt überhaupt der Verstand zur Erkenntnis von Gegenständen?
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Über die verschiedenen Phasen der Kantischen Lehre vom Ding-an-sich, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 1, Leipzig 1877
    Anmerkungen
    1) Vgl. darüber "nur" LOTZE, Logik § 312
    2) Auch spricht die Vorrede zur 1. Auflage ausdrücklich davon, daß KANT "für begriffliche Deutlichkeit der Darstellung  hinreichend  gesorgt", wenn auch die anschauliche Deutlichkeit (durch Beispiele) absichtlich ausgeschlossen habe.
    3) Daß er ihn nicht zitiert, ist irrelevant, wie schon PAULSEN nachgewiesen hat: es war eben nicht Sitte.
    4) Die zwischen "Verstand" und "Vernunft", wie oft bemerkt, schwankende Terminologie Kants darf hier keinen Anstoß erregen.
    5) Er brachte damit sogar die Formen der Sinnlichkeit mit denen des Verstandes in den später so wichtigen Parallelismus.
    6) Der bedingte Rettungsversuch, den PAULSEN (Seite 189, Anm. 2) für diesen Einwurf vorgeschlagen hat, muß aus diesem Grund als mißlungen angesehen werden.
    7) Dieses Verhältnis hat übrigens schon G. E. SCHULZE klar durchschaut und dargestellt: siehe "Kritik der theoretischen Philosophie II", Seite 126f.