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OTTO LIEBMANN
Kant und die Epigonen
[5/5]
    Einleitung
1. Kapitel - Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants
2. Kapitel - Die idealistische Richtung: Fichte, Schelling, Hegel
3. Kapitel - Die realistische Richtung: Herbart
4. Kapitel - Die empirische Richtung: Fries

Wie kann sie [die empirische Untersuchung], die ganz auf dem Weg der Erfahrung von der Empfindung zu den Erkenntnissen a priori fortzuschreiten vorhat, von einem den Sinn Affizierenden reden? Wo hat sie denn in irgendeiner Erfahrung ein solches Affizierendes gefunden, welches uns in der Empfindung zur Anschauung nötigt? Nirgends. Vielmehr denkt sie sich (trotz aller gegenteiligen Versicherungen) ein solches X bloß hinzu."

Viertes Kapitel
Die empirische Richtung
- Fries -

"Bis dahin erlaube man mir einen bescheideneren Zweifel. Denn die allgemeine Einstimmung, das einzige bisher angeführte Merkmal, dürfte wohl zu schwach befunden werden, um meine Wahl zu leiten, und mich von irgendeinem angeborenen Satz zu überzeugen." - John Locke


Der Punkt der kantischen Philosophie, an welchen die idealistische Richtung anknüpfte, war die Apriorität der allgemeinen Erkenntnisformen und die transzendentale Apperzepton oder Einheit des Selbstbewußtseins. Im Gegensatz zu ihr hatte HERBART, mit KANT von der Erfahrung als Tatsache und Problem ausgehend, gleich diesem die Bedingungen ihrer Möglichkeit aufgesucht. Nicht weniger unmittelbar als jene beiden hängt nur FRIES mit der kantischen Lehre zusammen und von ihr ab; mit nicht weniger Recht macht er demnach Anspruch darauf, für ihren direkten Fortbildner zu gelten. Versetzen wir uns zunächst, wie in den vorigen beiden Fällen, auf den eigenen Standpunkt des vorliegenden Systems. Lassen wir den Philosophen selbst reden.

Die epochemachende Forderung, welche KANT von vornherein an alle Philosophie und speziell an die seinige stellt, welcher er dann in der Vernunftkritik zu genügen sucht, ist die:
    "Vor jedem Versuch zur Aufstellung einer begründeten Weltansich, d. h. vor aller positiven Spekulation, muß eine negative Propädeutik in Gestalt einer Untersuchung des Erkenntnisvermögens vorausgehen."
Gleichwie jeder vernünftige und besonnene Mann, bevor ersich auf ein Unternehmen einläßt, erst sein Vermögen überschlägt, um sich darüber klar zu sein, ob er es durchzuführen imstande ist, - oder wie der Architekt, wenn sein Plan nicht ein bloßes Hirngespinst bleiben soll, gleich beim Entwurf überlegen muß, ob fester Grund, nötiges Baumaterial und Arbeitskräfte zur Aufführung des Gebäudes vorhanden sein werden, - so muß die Vernunft, ehe sie daran denken kann, den inneren Zusammenhang der objektiven Welt zu erfassen, sich genaue Rechenschaft darüber geben, wie weit die ihr innewohnenden Fähigkeiten dazu ausreichen, - was überhaupt zu leisten ihr möglich ist. Gerade in der Stellung dieser propädeutischen Aufgabe besteht KANTs größtes Verdienst und sein radikaler Gegensatz zu der vorangehenden dogmatischen Philosophie, die aufs Geratewohl nach verschiedenen Richtungen und Methoden in den Tag hinein spekuliert hat. Zwar hatte LOCKE schon früher einen äußerlich ganz ähnlichen Versuch gemacht. Auch er hatte eingesehen, daß eine Untersuchung des Erkenntnisvermögens die Einleitung jeder Philosophie bilden muß. Indem er aber bei dieser Untersuchung von der Annahme ausgegangen war, der menschliche Geist sei ursprünglich eine tabula rasa [leeres Blatt - wp] und empfange alle seine Vorstellungen durch die sinnlichen Eindrücke von äußeren Gegenständen, hatte er die Allgemeinheit und Notwendigkeit jener Grundformen allen Erkennens nicht zu erklären vermocht, welche nachher KANT Erkenntnisse a priori genannt hat. Deshalb war LOCKE durch HUMEs Skeptizismus gründlich widerlegt worden, welche im Allgemeinen nachgewiesen hat, daß wir jene allgemeinen und notwendigen Erkenntnisformen nicht aus sinnlichen Eindrücken schöpfen, überhaupt nur assertorische [behauptende - wp], nicht apodiktische [mit Sicherheit gewiß - wp] Erkenntnisse durch die Wahrnehmung erhalten können, daß somit die absolute Notwendigkeit und unbedingte Gewißheit der mathematischen und metaphysischen Grundsätze nur ein rein subjektiver Gedanke ohne objektive Bedeutung ist. Hieran hatte KANT angeknüpft. Er hatte nachgewiesen, daß die in der Mathematik und Metaphysik angenommenen allgemeinen und notwendigen Erkenntnisse gerade deshalb, weil sie nicht aus der Erfahrung stammen können, durch das Wesen des Intellekts, d. h. a priori gegeben sein müssen; und indem er diese Untersuchung auf das Genaueste verfolgt, bis ins Einzelne ausgeführt hatte, war in der Vernunftkritik, wie er sich ausdrückt, das "Inventarium aller unserer Besitze durch reine Vernunft, systematisch geordnet", aufgefunden worden (1). Als solche hatte er dann die reinen Formen des Anschauens a priori, Raum und Zeit, und die reinen synthetischen Urteile a priori, die Kategorien, gefunden.

Soweit stimmt FRIES vollkommen mit KANT überein. Die Resultate gibt er zu, aber die Begründung derselben erregt seinen Zweifel, und von hier aus weicht er nun ab.

Betrachten wir nämlich die Art, wie KANT zu den reinen Erkenntnissen a priori gelangt! Daß es solche gibt, hat er gegen HUME, daß sie nicht aus der Erfahrung stammen können und doch da sind gegen LOCKE geltend gemacht.
    "Aber er leugnet Humes Voraussetzung: «Wenn wir sie brauchen wollen, müssen wir sie erst bewiesen haben», nicht ab, vielmehr versucht er selbst einen solchen Beweis, den er den transzendentalen nennt." (2)
Hiergegen läßt sich im Allgemeinen einwenden, daß jene Erkenntnisse, die allem unserem Vorstellen und Erkennen zugrunde liegen, gar nicht bewiesen werden können, weil jeder Beweis sich schon auf sie stützen muß, also das schon voraussetzt, was erst bewiesen werden soll.

Betrachten wir aber, abgesehen hiervon, die Art jenes kantischen Beweises, so soll dessen spezifische Eigentümlichkeit in seinem transzendentalen Charakter liegen. Was aber heißt transzendental? Hiervon gibt KANT die Nominaldefinition:
    "daß diejenigen Erkenntnisse a priori, dadurch wir erkennen, daß und wie gewisse Vorstellungen lediglich a priori angewendet werden, oder möglich sind, transzendental heißen müssen." (3)
Dies ist, wie gesagt, eine bloße Worterklärung, welche kurz gefaßt so lautet: Transzendental ist die Erkenntnis von der Möglichkeit und Anwendbarkeit der Erkenntnisse a priori. (4)
    "Wer aber hier genau vergleichen will, der wird bemerken, daß Kant mit seiner transzendentalen Erkenntnis eigentlich die psychologische, oder besser anthropologische Erkenntnis gemeint hat, wodurch wir einsehen, welche Erkenntnisse a priori unsere Vernunft besitzt, und wie sie in ihr entspringen. Zum Beispiel der Grundsatz, daß jede Veränderung eine Ursache hat, ist metaphysisch, aber die Einsicht, daß sich dieser Grundsatz in unserem Verstand findet, und wie er angewendet werden muß, ist transzedental." (5)
Es ist nämlich klar, daß nur durch innere Erfahrung, Selbstbeobachtung die Erkenntnisse a priori aufgefunden, nicht aber bewiesen werden können. Jeder solcher Beweis würde in einem Zirkel schließen. Der Begriff der transzendentalen Erkenntnis, wenn man unter diesem Namen selbst eine besondere Art von Erkenntnis a priori versteht, ist demnach nichtig, ein bloßes Vorurteil, und an seine Stelle muß die innere Erfahrung, muß Psychologie treten. Insofern eine psychologische Untersuchung, die für die transzendentale eintritt, weder die Kenntnis der Seele als Erfahrungsgegenstand, noch eine metaphysische Spekulation über die Natur derselben zum Endzweck hat, sondern allein dazu dient, uns darüber Gewißheit zu verschaffen, welche reinen Erkenntnisse, welche Fähigkeiten zur philosophischen Einsicht uns innewohnen, wollen wir sie, zum Unterschied von jenen, philosophische Anthropologie nennen.

Die "philosophische Anthropologie" geht von der Überzeugung aus, daß
    "wenn wir das Wesen der Vernunft tief genug kennen lernen, wir daraus alle Gesetze der Spekulation und alle Philosophie müßten beurteilen können, da unsere Erkenntnis der Welt als Erkenntnis immer nur eine Tätigkeit meiner Vernunft ist, und als solche untersucht werden kann." (6)
Für den Weg, den die philosophische Anthropologie einzuschlagen hat, findet sich ein mustergültiges Vorbild schon in der Physik, überhaupt der Naturwissenschaft. Wie man dort nämlich durch Induktion die allgemeinen Grundgesetze auf dem Gebiet der äußeren Erfahrung findet und dann aus diesen den einzelnen Fall beurteilt, geradeso verfählt die philosophische Anthropologie auf dem Feld der inneren Erfahrung. Sie ist "innere Naturlehre". Der Physiker lernt z. B. aus einzelnen Tatsachen die Phänomene der Elektrizität kennen und führt sie auf ihre allgemeinsten Gesetze zurück; dann nimmt er diese Gesetze als Grundgesetze einer Theorie der Elektrizität an und erklärt aus ihnen wieder die Tatsachen, mit denen er angefangen hat. Hier geht also das Raisonnement [Argumentation - wp] vorbereitend den regressiven, dann erst den progressiven Gang des Systems.
    "Auf ganz ähnliche Weise gehen wir von der Beobachtung unseres Erkennens aus, zeigen dadurch, wie die menschliche Erkenntniskraft beschaffen ist, erheben uns zu einer Theorie derselben, zeigen, welche Prinzipien dieser Theorie gemäß in unserer Erkenntnis liegen müssen, und leiten nun erst wieder die einzelnen Erkenntnisse und Urteile aus diesen Prinzipien ab." (7)
So hat FRIES den neuen Ausgangspunkt fixiert, die neue Methode vorgezeichnet. Hier glaubt er den "einzigen Standpunkt der Evidenz für spekulative Dinge" gefunden zu haben (8); auf diesem Weg will er die kantischen Untersuchungen, die "in vielen Teilen bis zur Vollendung gediehen sind, in anderen verbessern und in mehreren ihne die fehlende Vollendung geben". (9) Der allgemeine Zweck seines Unternehmens ist: das "Vorurteil des Transzendentalen" (wie er es zu nennen pflegt) zu entfernen und zu ersetzen durch das induktive Verfahren der "philosophischen Anthropologie".

Den Gang seiner Untersuchungen nun genau im Einzelnen zu verfolgen, ist für uns weder nötig noch wünschenswert. Genug, wenn wir die leitende Grundidee kennen. Er geht von der Empfindung, als dem ursprünglichen Rohstoff der Vorstellung, aus, betrachtet die Tatsachen des inneren und äußeren Sinnes und gewinnt daraus die erste Stufe seiner Theorie. Dann schreitet er zur Einbildungskraft fort, betrachtet den gedächtnismäßigen oder unteren, und den logischen oder oberen Gedankenlauf, findet die bekannten Gesetze von der Assoziation und Reproduktion der Vorstellungen und gibt die Theorie der Abstraktion. Von hier geht er dann naturgemäß zur ausgebildeten Reflexion über und beendet sein induktives Verfahren mit der Theorie des Gefühls, welches nach ihm die "unmittelbare Selbsttätigkeit der Urteilskraft" ist. -

Im Laufe seiner Betrachtung ist er nun zunächst auf die kantische Lehre von Raum und Zeit gekommen, und zwar bei der Lehre von der produktiven Einbildungskraft. Er gelangt zu dem Resultat, daß
    "die Anschauungen von Raum und Zeit nicht durch die Empfindungen und ihre Sinnesanschauungen im Gemüt entspringen, sondern aus Grundbestimmungen des Gemüts",
sowie, daß sie die einzigen "reinen Anschauungen" sind. (10) Dann wird er in der Theorie der Reflexion auf die Erkenntnis a priori und deren Wesen überhaupt geführt und stellt folgende Sätze auf:
    "Alle Einheit und Verbindung, alle Anordnung und Zusammenhang kommt erst durch apodiktische Erkenntnis in die Erfahrung." -

    "Subjektiv allgemeingültig oder apodiktisch ist die Erkenntnis deswegen, was jedermann weiß, und was für den einzelnen immer die gleiche Gültigkeit hat".

    "Erkenntnis a priori ist das Eigentum der ursprünglichen Selbsttätigkeit im Erkennen, welches durch die bloße Form der Erregbarkeit unserer Vernunft bestimmt wird." (11)
wie also alle Gesetze, die ganze Theorie des Erkenntnisvermögens, so findet er auch die notwendigen Erkenntnisse a priori durch psychologische Selbstbeobachtung nach dem platonischen Satz: mathesis anamnesis, alles Lernen ist Erinnerung. -

Überblicken wir nun diesen Gedankengang, so muß es uns befremden, wie in einer Propädeutik zu aller Philosophie jene notwendigen Formen allen Vorstellens und Erkennens (Raum, Zeit und Kategorien), die aller Erfahrung vorausgehen, die Subjekt und Objekt bedingen und untereinander verknüpfen, durch innere Erfahrung, psychologische Untersuchung des empirischen Subjekts gefunden werden sollen. Zugleich finden wir an der Spitze der Untersuchung den Satz:
    "Der Standpunkt der Natur zeigt uns das Wesen der Dinge nur auf eine subjektiv beschränkte Weise, über die wir uns nur durch Ideen erheben können." (12)
Das klingt für den von der empirischen Tatsache durch Induktion aufsteigenden schon verfänglich. - Aber weiter! - Indem man zunächst die Empfindung betrachtet, ist ganz richtig bemerkt, daß die einfachen sinnlichen Qualitäten, wie Farbe und Schall, durch die bekannten Hypothesen der Naturwissenschaft nur auf etwas Anderes, gleich unerkläriches zurückgeführt sind, daß
    "in unseren physischen Theorien des Schalls wohl alles zum Phänomen gehörige durch die Schwingungen erklärt wird, nur der Schall selbst nicht, daß ebenso Newtons Theorie des Lichts oder eine andere alles erklären mag, nur die Farbe nicht, weil Schall und Farbe hier nach ihrem Verhältnis zu meinen inneren Qualitäten sind, die gar keiner Erklärung unterworfen werden können." (13)
Anstatt aber hierin zu erkennen, daß diese einfachen, sinnlichen Qualitäten die objektive Greze des Vorstellens und Erkennens sind, wird vielmehr behauptet:
    "daß die Empfindung ein passiver Zustand des Gemüts ist, in welchem es zum Anschauen genötigt, zur Tätigkeit bestimmt wird", "daß aber wohl die bloße Bestimmung des Sinnes, der sinnliche Eindruck durch das Affizierende zu unterscheiden ist, durch welchen jenes Anschauen hervorgebracht wird." (14)
Und was ist denn das Affizierende? Was bestimmt denn zur Tätigkeit? Was nötigt denn zum Anschauen? - Daß die Beantwortung dieser Fragen schwierig ist, wird zugestanden, zugleich aber werden wir bedeutet, daß es genügt, wenn wir fürs Erste nur lernen "wie wir die Gegenstände erkennen", wenn auch davon nicht gleich die Rede sein kann, "wie sie sind". (15) Hiergegen müssen wir einwenden, daß es für eine empirische Untersuchung, die vom Gegebenen ausgehen will, ganz unstatthaft ist, von Dingen zu reden, die ihr nicht gegeben sind. Wie kann sie, die ganz auf dem Weg der Erfahrung von der Empfindung zu den Erkenntnissen a priori fortzuschreiten vorhat, von einem den Sinn Affizierenden reden? Wo hat sie denn in irgendeiner Erfahrung ein solches "Affizierendes" gefunden, welches uns in der Empfindung "zur Anschauung nötigt"? Nirgends. Vielmehr denkt sie sich (trotz aller gegenteiligen Versicherungen) ein solches X bloß hinzu.

Wie kann sie ferner, da doch in der Erfahrung nichts Anderes, als Komplexionen von sinnlichen Empfindungen angetroffen werden, einen Unterschied machen zwischen Gegenständen, wie sie sind" und "wie wir sie erkennen"? Ist dieser Unterschied in der Erfahrung gegeben? Nein. Und weshalb macht sie ihn? Weil sie ihn voraussetzt. - Wenn sie dagegen wiederum erklärt "daß die Empfindung unmittelbar die Anschauung gegenwärtiger Gegenstände in sich enthält" (16), so frage ich: Kann von irgendwelchen Gegenständen überhaupt die Rede sein, wenn die für sich vereinzelten Empfindungen nicht zu räumlichen Gegenständen kombiniert sind, welche in zeitlicher Aufeinanderfolge sich gleich bleiben oder ändern, d. h. wenn nicht Raum und Zeit als notwendige Anschauungsformen, Kausalität und Substantialität als notwendige Synthesen a priori vorausgesetzt sind? -

Schon beim ersten Schritt hätte die empirische Studie anhalten müssen. Denn wie in aller Welt will man von einem inneren und äußeren Sinn, von Empfindung, Anschauung, Einbildungskraft reden, ohne Notwendigkeit von Raum und Zeit, welche man erst aufzusuchen strebt, schon lange zu haben? Wie von einem logischen Gedankenlauf, von Reflexion usw., ohne die Allgemeinheit von Kausalität und Substantialität, welche nicht nur Bedingungen alles abstrakten, sondern auch alles intuitiven Erkennens sind, bereits als gegeben zu betrachten? Wie überhaupt kann man versuchen, die Apriorität jener notwendigen Erkenntnisformen aus einer Betrachtung des erkennenden Subjekts durch Induktion nachzuweisen, da dieses Subjekt selbst samt seinem unzertrennlichen Korrelat, dem Objekt, ohne Voraussetzung von Raum, Zeit und Kategorien, nicht nur nicht empfinden, vorstellen, erkennen könnte, sondern sogar überhaupt Nichts wäre? Die philosophische Anthropologie gleicht hier Jemandem, der durch die Zusammenzählung aller Bäume das Dasein des Waldes nachweisen will; sie sieht im Anfang ihres Unternehmens den Wald vor Bäumen nicht. -

Auf dem Weg der empirischen Induktion kann man immer nur zu einer komparativen [vergleichsweisen - wp] Allgemeinheit und einer relativen Notwendigkeit kommen; empirische Induktion selbst aber ist, so wie ihr Objekt, nur ermöglicht durch die absolute Notwendigkeit und Allgemeinheit, d. h. Apriorität jener obersten Erkenntnisformen, Raum, Zeit und Kategorien; denn, wie KANT sagt:
    "Die Bedingungen a priori einer möglichen Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung." (17)
Jene absolute Notwendigkeit und Allgemeinheit, d. h. Apriorität von Raum, Zeit und Kategorien, liegt eben darin, daß ich bei dem Versuch, diese Grundbedingungen allen Vorstellens hinwegzudenken, mich selbst samt der Welt, Subjekt und Objekt der Erkenntnis wegdenken müßte, was schlechterdings unmöglich ist. Und gerade deshalb, weil ich sie mir nicht wegdenken kann, ohne doch einen direkten, erfahrbaren Grund angeben zu können, weshalb Subjekt und Objekt so unauflöslich mit der Existenz der Erkenntnisformen a priori verknüpft sind, ist die Überzeugung von dieser absoluten Notwendigkeit eine transzendentale (d. h. alle Erfahrung übersteigende, und doch in aller Erfahrung vorausgesetzte) Erkenntnis. Sie kann durch keine empirische Induktion ersetzt werden. Denn, genauer betrachtet, liegt die transzendentale Natur des Nachweises von der Notwendigkeit und Allgemeinheit oder Apriorität von Raum, Zeit und Kategorien darin, daß in ihm auf keine Weise epagogisch [zum Allgemeinen führend - wp] das oti [daß] und das dioti [weil] dieser Apriorität nachgewiesen werden kann, sondern nur apagogisch [Beweis durch Aufzeigen der Unrichtigkeit des Gegenteils - wp]. Er ist der alleroberste apagogische Beweis, weil in ihm aus der allerobersten und allgemeinsten Ungereimtheit, nämlich dem "sich selbst und die Welt wegdenken müssen" die alleroberste und allgemeinste Wahrheit, nämlich die unbedingte Gültigkeit der Erkenntnisformen a priori, ad contradictoriam gefolgert wird.

Der Versuch aber, den FRIES macht, die kantische Philosophie hier, wo sie unangreifbar ist, zu korrigieren, ist keine Verbesserung, sondern ein Rückfall in den Empirismus des LOCKE, von welchem KANT in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft sagt:
    "daß es zwar den Anschein gehabt habe, als sollte diese Physiologie des menschlichen Verstandes alle dogmatischen und skeptischen Streitigkeiten ein Ende machen, daß daber, weil sie aus der Erfahrung abgeleitet wurde, doch wieder alles in den alten, wurmstichigen Dogmatismus und daraus in Geringschätzung verfallen sei, daraus man die Wissenschaft habe ziehen wollen." (18)
Alles in Allem! Die eigentliche Tendenz der kantischen Kritik für eine psychologische zu halten, ist das ärgste Mißverständnis, was ihr widerfahren kann. Übrigens steht FRIES mit diesem Mißverständnis nicht allein da. Lesen wir doch auch in einer sehr ausführlichen französischen Preisschrift: Dans ce systéme la psychologie est présente partout, et toute la philosophie de Kant repose sur elle. (19)

Die Summe unseres Urteils in diesem Punkt können wir mit KUNO FISCHER in die kurzen Worte fassen: Was a priori ist, kann nie a posteriori erkannt werden. (20)

Allein wir sind noch nicht zu Ende. Vielmehr werden wir jetzt erst auf den kritischen Hauptpunkt hingedrängt. Wie wir nämlich sahen, war gleich im Anfang der ganzen Induktion ungerechtfertigterweise die Rede von einem Unterschied zwischen den Gegenständen "wie sie sind" und "wie wir sie erkennen", auch von irgendeinem, nicht näher spezifierten Etwas, das uns in der Empfindung affizieren und zur Tätigkeit des Anschauens nötigen soll. -

Betrachten wir doch einmal jenen Unterschied näher; sehen wir doch einmal nach, welcher Art dieses affizierende Etwas sein mag! -

Wenn man diesn ganz unmotivierten Gedanken zunächst nur für sich nimmt, so ist er einzig und allein die Folge jenes großen und ursprünglichen Irrtums der "philosophischen Anthropologie", daß man eine Betrachtung der empirischen, subjektiven Tätigkeit im Erkennen für eine Erkenntnistheorie oder Kritik der Vernunft auszugeben sucht. In aller Erkenntnis findet man nur ein vom Objekt behaftetes Subjekt und ein vom Subjekt abhängiges Objekt; beide sind unzertrennliche Faktoren, notwendige Korrelate der Erkenntnis; ein Kausalverhältnis haben nicht zu einander. Davon weiß die "philosophische Anthropologie" (trotzdem sie an einigen Stellen etwas ähnlich Klingendes verlauten läßt) de facto auf ihrem empirischen Standpunkt nichts. Sie hat es zunächst nur mit dem empirischen Subjekt, d. h. mit dem Objekt der Psychologie, zu tun. Indem sie nun den einen Faktor der Erkenntnis (das Subjekt) vereinzelt (d. h. gewaltsam aus der unlösbaren Verbindung mit dem Objekt losgerissen) zu haben meint und in dieser Vereinzelung einseitig als Produzenten der Erkenntnis ansieht, muß sie jene unnatürliche Abstraktion, jene arge Selbstüberhebung des empirischen Subjekts dadurch büßen, daß sie sich fortwährend nach der objektiven Seite hin gehemmt fühlt durch den Mangel des notwendigen Komplements aller subjektiven Tätigkeit in der Erkenntnis; sie sucht daher, um sich jenen Mangel ein für alle Mal vom Hals zu schaffen, ein unbekanntes Etwas, wodurch der, einseitig losgerissene, subjektive Faktor der Erkenntnis zur Tätigkeit genötigt, z. B. in der Empfindung affiziert oder zur Anschauung bestimmt werden soll. Da nun aber alles Vorstellen bereits an die Tätigkeit des Intellekts vergeben war, alle notwendigen Bedingungen des Vorstellens, nämlich die reinen Formen der Erkenntnis a priori, erst durch Induktion im Subjekt gefunden werden sollen, so muß offenbar jenes zur Anschauung Nötigende, jenes zur Erkenntnis Bestimmende, doch außerhalb der Bedingungen und Formen der Erkenntnis, außerhalb der Sphäre des Vorstellens liegen. -

Dieser Gedanke, der wie gesagt, sich als Konsequenz aus jenem primitiven Irrtum ergibt, ist verdächtig genug, um uns darauf bringen zu lassen, daß sich FRIES' Philosophie über ihr Verhältnis zum kantischen "Ding ansich" ausspricht. Und da machen wir dann die interessante Entdeckung, daß FRIES bereits in einer früheren Schrift, welche ein Programm seiner Philosophie zu liefern bestimmt war, folgende Worte geschrieben hat:
    "Bei so bewandten Umständen ist es vielleicht nicht umsonst, jetzt die alte verjährte Sache des Dings-ansich wieder vorzunehmen und zu versuchen, ob man ihm nicht endlich sein Recht widerfahren lassen kann." (21) -
Dies ist nicht etwa Ironie. Denn nachdem er die Frage aufgeworfen hat: "Weshalb denn gerade die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding-ansich so wichtig ist? - fährt er wörtlich so fort:
    "Das ist leicht zu beantworten. Eben weil sie das Hauptdogma des transzendentalen Idealismus [d. h. der kantischen Philosophie] vorbereitet, oder eigentlich schon ausspricht."
Jawohl! Hauptdogma! - Beiläufig findet er dann für die Worte Erscheinung und Ding-ansich die Ausdrücke SCHELLINGs: "Endliches" und "Ewiges Sein" viel passender, besonders, weil sie im Katechismus oder wenigstens den meisten Gebetbüchern gewöhnlich vorkommen." -

Da diese Worte vor der Abfassung der "Neuen Kritik der Vernunft" geschrieben sind, so könnte man auf den Gedanken kommen, ob sich unterdessen FRIES nicht eines Besseren besonnen habe. Und in der Tat scheint es so, wenn man in seinem Hauptwerk den Satz liest:
    "In der kantischen Schule hat diese Grenzbestimmung (von Erscheinung und Ding-ansich) viele Worte und viele Schwierigkeiten veranlaßt, besonders durch den Streit über das Ding-ansich und den transzendentalen Gegenstand. Dieses Ding-ansich sollte das durchaus weder erkennbare, noch denkbar, noch vorstellbare sein; das Rätsel war nur, worin es sich dann vom Nichts unterscheidet, und wie man doch imstande sei, Worte darüber zu machen. Konnte man es selbst nicht fassen, so mußte sein Name doch wenigstens eine leere Stelle in unserer Erkenntnis bezeichnen, über die sich Niemand gehörig deutlich machte." (22)
Wäre er doch dabei geblieben! Oder sollte er etwa, da er trotzdem immer noch vom "Ding ansich" weiß, unter diesem Namen etwas Anderes verstanden haben als KANT? Sollte es sich hier bloß um ein Homonym [gleiches Wort aber verschiedene Bedeutung - wp] handeln? - Darüber bleiben wir nicht lange im Zweifel. Denn nachdem er auf Seite 181 -184 nach allen vier Titeln der kantischen Kategorientafel bewiesen hat, daß die Welt in Raum und Zeit nicht ansich, sondern entweder Schein oder Erscheinung sein muß, stellt er über das "Ding-ansich" eine Reihe von Betrachtung an und Sätze auf, die nicht allein die vollkommene Identität des friesischen Hirngespinstes mit dem kantischen klar an den Tag legen, sondern in dieser Hinsicht uns noch mit einigen neuen Fortschritten der transzendentalen Spekulation überraschen. Ich zitiere einige der betreffenden Stellen:
    "Wir haben bisher für unsere Lehre von den Ideen den ersten Schritt getan, indem wir gegen die Ansicht des gemeinen Lebens zeigten: der Natur der Dinge in Raum und Zeit kommt kein Sein ansich zu." (Seite 186)
Ferner:
    "Wir dürfen unsere natürliche Ansicht der Dinge nur als eine subjektiv bedingte Erkenntnisweise ansehen, welche freilich, verhindert durch die Beschränktheit unseres Sinnes, die Dinge nicht sehen läßt, wie sie ansich sind, aber doch eine Erscheinung dieser Dinge enthält." (Seite 189)
Vorher hatte er schon erwähnt, daß
    "unsere Vernunft in Rücksicht der Dinge-ansich über das einzige Urteil hinaus, daß sie sind, nur negative Urteile hat über das, was sie nicht sind." (Seite 185)
Als Komplement hierzu finden wir dann Seite 194:
    "Gemeinhin setzen wir den Erscheinungen (Phänomenen) die Noumena oder Gedankendinge entgegen; erstere sind Gegenstände der Sinnesanschauung, Dinge in Raum und Zeit, letztere sind Gegenstände in der Idee, welche nur der Verstand denkt." -
Ich möchte wohl eine Idee kennen, die außerhalb von Raum und Zeit gedacht werden kann! Der mathetmatische Punkt, gleichsam die schwindsüchtigste aller Ideen, bedarf doch erstens einer Zeit, in der er gedacht wird, zweitens wird er zwar ohne Ausdehnung gedacht, ist aber doch im Raum. - Nicht zufrieden hiermit behauptet FRIES gar, daß der sinnlichen Vernunft, die
    "ihre unzulängliche Ansicht der Dinge immer als Erscheinung ansehen wird, wenn sie die subjektive Beschränktheit ihrer Ansicht (Raum, Zeit und Kategorien) aufgehoben denkt, dann die ewige Wahrheit vor Augen steht." (Seite 195) -
Ja, wenn die ewige Wahrheit eine absurde Umschreibung für Nichts ist, dann hat er Recht! - Fußend aber auf dieser letzten Behauptung stellt er folgende "modale Grundsätze unserer idealen Ansicht der Dinge" auf:
    1) "Die Sinnenwelt unter Naturgesetzen ist nur Erscheinung."

    2) "Der Erscheinung liegt ein Sein der Dinge ansich zugrunde."

    3) "Die Sinnenwelt ist die Erscheinung der Welt der Dinge-ansich."
Der erste dieser Sätze soll das Prinzip des Wissens, der zweite das des Glaubens, der dritte das der Ahnung sein. (23) Hierauf kann man nur erwidern: Jenes Wissen ist unmöglich, weil sein Prinzip ungereimt ist. Jenes Glauben ist unmöglich, weil sein Objekt ein Wort ohne Sinn ist. Jenes Ahnen ist unmöglich, weil sein Inhalt auf zwei falschen Prämissen beruth.

Und nun soll gar noch der erwähnte Glaube ein spekulativer Glaube sein! Im Gegenteil! Es ist ein so durchaus undenkbarer, allen Vernunftgesetzen Hohn sprechender Glaube, daß gegen ihn jener andere, der sich das "Credo quia absurdum" [Ich glaube, weil es absurd ist. - wp] zur Devise macht, noch wie reine, goldene Philosophie erscheint. Denn etwas nur Absurdes, wie z. B. ein viereckiger Kreis, ist doch eben bloß darum verwerflich, weil die von ihm verlangte Vereinigung zweier sich widersprechender Vorstellungen in eine nicht vollzogen werden kann. Das "Ding-ansich" aber, an welches jener sogenannte "spekulative" Glaube glaubt, enthält die Zumutung: Ein Unvorstellbares vorzustellen, - zwei Begriffe, deren Vereinigung nicht nur unmöglich ist, sondern deren einer allein, nämlich das "Unvorstellbare", schon eine contradictio in adjecto [Widerspruch in sich - wp] ist.

Ich kann also mit gutem Gewissen schließen:

FRIES hat die kantische Philosophie vorausgesetzt; er hat aber ihren bekannten Fehler nicht nur nicht entfernt, sondern sogar selbst adoptiert. Er hat demnach den Kritizismus in diesem Punkt nicht korrigiert.

Also muß auf Kant zurückgegangen werden.

LITERATUR - Otto Liebmann, Kant und die Epigonen, Stuttgart 1865
    Anmerkungen
    1) Kants, Kr. d. r. V., Vorrede
    2) Fries, Neue Kritik der Vernunft, Heidelbert 1807, Bd. 1, Einleitung, Seite XXXIV.
    3) Kr. d. r. V., Seite 56, 296; Prolegomena, Seite 204
    4) Fries' Neue Kritik, Bd. 1, Seite XXXV.
    5) Fries, a. a. O., Seite XXXVI.
    6) Fries, a. a. O., Seite XXXIX.
    7) Fries, a. a. O., Seite XXXIII.
    8) Fries, a. a. O., Seite XLIV.
    9) Fries, a. a. O., Seite XLIX.
    10) Fries, a. a. O., Seite 132.
    11) Fries, a. a. O., Seite 243-257.
    12) Fries, a. a. O., Seite 4
    13) Fries, a. a. O., Seite 68
    14) Fries, a. a. O., Seite 51
    15) Fries, a. a. O., Seite 58
    16) Fries, a. a. O., Seite 57
    17) Kr. d. r. V., Seite 111
    18) vgl. Kr. d. r. V., Seite 86 und 87.
    19) Histoire de la Philosophie Allemande depuis Kant jusqu'á Hegel par J. Willm. Ouvrage couronné par l'Institut, Buch 1, Paris 1846, Seite 74.
    20) Kuno Fischers Akademische Reden, Seite 99.
    21) Fries, Wissen, Glaube und Ahnung, Jena 1805, Seite 7.
    22) Fries, Neue Kritik der Vernunft, Bd. II, Seite 162
    23) a. a. O., Seite 196