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FRITZ MAUTHNER
Ursprache
II-28

"Das Wort Ursprache bedeutet für die Sprachphilosophen diejenige Sprache, welche die Menschen in einer viel weiter zurückliegenden Urzeit redeten, als sie eben durch den Gebrauch der Sprache den Tierzustand verließen und zu redenden Menschen wurden."

Das Wort  Ursprache  bedeutet für die Gelehrten der indoeuropäischen Sprachwissenschaft ein Fabelwesen, die Sprache, welche das Urvolk der Arier, dessen Existenz nicht bewiesen ist, zu einer Zeit, die wir nicht kennen, gesprochen haben soll; jedenfalls mußte die Zeit jener Ursprache vor der legendären Wanderung oder Trennung jenes legendären Urvolkes liegen. Ein schematischer Begriff ist das Urvolk, ein schematischer Begriff ist auch die Ursprache und wird es trotz aller Bemühungen der Linguisten bleiben müssen. Doch soll nicht vergessen werden, daß gerade BOPP, der Schöpfer oder Erfinder der vergleichenden Sprachwissenschaft, bewundernswert auch in seinem Mute zu irren, sich von allen wüsten Untersuchungen über den Ursprung der Sprache fern gehalten hat. BOPP verhält sich zu den phantasievollen Historiographen des Urvolks wie DARWIN zu HAECKEL.

Das Wort Ursprache bedeutet für die Sprachphilosophen, mögen sie nun ihre Studien eine Geisteswissenschaft oder eine Naturwissenschaft nennen, diejenige Sprache, welche die Menschen in einer viel weiter zurückliegenden Urzeit redeten, als sie eben durch den Gebrauch der Sprache den Tierzustand verließen und zu redenden Menschen wurden. Den vorhistorischen Tatsachen würde beides angehören, was das Wort Ursprache bedeutet; nur daß die indoeuropäische Ursprache der geschichtlichen Zeit unmittelbar vorausgehen müßte, die Ursprache der Menschheit aber irgendwo und irgendwann in unendlich weit zurückliegenden Zeiten zu suchen wäre.

Man sollte kaum glauben, daß diese beiden Bedeutungen des einen Wortes jemals miteinander verwechselt werden konnten. Dennoch geschieht das alle Tage; und zwar nicht so, daß etwa die beiden verschiedenen Begriffe klar erkannt und dann miteinander vertauscht würden, sondern so, daß es bequem ist, sich den Begriff Ursprache gar nicht klar zu machen. Man will zu positiven Ergebnissen kommen und täuscht sich darum am liebsten durch eigene Dunkelheit über die Schwierigkeiten hinweg, als ob wissenschaftliche Beobachtungen Fische wären, nach denen man am besten im Trüben angelt.

Ein solches Beginnen ist nicht selten in den angeblich ursprachlichen Forschungen, und es ist gar nicht verwunderlich, daß den einflußreichsten Lehren über die nähere indoeuropäische Ursprache und über die entfernteren Sprachanfänge der Menschheit die gleichen Unklarheiten zugrunde liegen. Wie die Bibel allen wissenschaftlichen Sorgen damit ein Ende macht, daß sie sagt: "Im Anfang hat Gott die Welt geschaffen" und dabei wohl selber glaubt, mit dem Worte "Im Anfang" eine Zeitbestimmung zu geben, so lieben es die Sprachforscher, irgendwo am Flußlaufe stehen zu bleiben, ihren Stock in den Boden zu stoßen und auszurufen: Hier fängt die ganze Geschichte an. Ebensogut hätte man darauf verzichten können, nach den Quellen des Nils zu forschen; man hätte bei den unteren Katarakten stehen bleiben und rufen können: Hier kommt der Nil herunter.

Nicht anders haben die Sprachforscher gehandelt, die in gutem Bibelglauben an die Urweisheit indischer Grammatiker die angeblichen Wurzeln des Sanskrit für die Ausgangspunkte der indoeuropäischen Sprache nahmen. Und doch standen die sanskritredenden Menschen, welche die gelehrten Sanskritgrammatiker in viel späterer Zeit sich als Erfinder oder Gebraucher jener Wurzeln dachten, ganz gewiß mitten in irgendeiner Sprachentwicklung und empfanden die Wurzelhaftigkeit ihrer Sprache nicht mehr und nicht weniger, als wir die Stammsilben unserer Muttersprache naiv als Wurzeln empfinden, als die heutigen Araber "Wurzeln" empfinden, während die Forscher sie doch, verändert durch Lautwandel und Bedeutungswandel, um einige Jahrtausende zurückverfolgen können. Die indoeuropäische Sprachwissenschaft hat an diesen angeblichen Sprachwurzeln wenigstens etwas Positives, woran sie anknüpfen kann; und so läßt sich ihr Treiben wenigstens mit einigem Erfolge kritisieren.

Wenn aber in bezug auf die Anfänge der Menschensprache das gleiche Spiel beliebt wird, wenn dort die Spezialgelehrten ebenfalls irgendwo ihren Stock ins Ufer stoßen, um sagen zu können: "Hier ist der Anfang", wenn sie dann dieses Wort Anfang für eine Zeitbestimmung halten, so ist ihre Torheit kaum in Worte zu fassen und darum auch schwer zu widerlegen. Sie stehen der natürlichen Anschauung von einer ununterbrochenen Entwicklung der Sprache so gegenüber, wie etwa CUVIER mit seiner Annahme aufeinanderfolgender Schöpfungsakte der darwinistischen Lehre gegenübersteht.

Die Hypothese von der allmählichen Entwicklung ist seit SCHLEICHER oft auf die Geschichte der Sprache angewendet worden. Erst neuerdings hat M. BRÉAL davor gewarnt (Einleitung zu seinem Essai de Sémantique), solche Vergleichungen anders als metaphorisch aufzufassen. Ganz klar und ernsthaft wird jedoch diese Hypothese weder von den Anthropologen noch von den Linguisten verstanden. Die Anthropologen lehren zwar in der Theorie ganz konsequent, daß diejenige Art der Tiere, welche uns gegenwärtig als Mensch entgegentritt, sich in ungemessenen Zeiten aus irgendeiner nicht genau zu bestimmenden menschenähnlichen Affenart entwickelt habe, diese wieder aus einer andern Tierart und sofort zurück bis zu den niedersten Lebewesen; diese Anthropologen stellen also einen hypothetischen Stammbaum des Menschen auf, dem dann die Entwicklung des menschlichen Individuums vom befruchteten Ei bis zum neugeborenen Kinde entsprechen soll. Wer von der Wahrheit dieser Hypothese überzeugt ist - und sie schließt sich immerhin als eine Phantasie schlecht und recht unserer modernen Weltanschauung an -, der müßte überall unendlich kleine Übergänge annehmen und dürfte sich um das Fehlen unendlich vieler Zwischenglieder nicht kümmern. Denn die Entdeckung jedes einzelnen Zwischengliedes wäre wohl eine erfreuliche Bestätigung der Entwicklungslehre, aber es wäre doch nur ein bekanntes Zwischenglied unter Millionen von unbekannten. Trotzdem lauern diese Naturforscher unaufhörlich auf die Auffindung des Zwischengliedes zwischen Affe und Mensch, und wenn einmal irgendwo in der Tiefe aufgeschwemmten Erdreichs ein Knochen gefunden wird, der teils mit Affenknochen, teils mit Menschenknochen einige Ähnlichkeit besitzt, so stürzen sich sofort alle Fachleute darauf; es werden zahlreiche Abhandlungen geschrieben, und wenn einmal ein solcher Knochen einstimmig als ein, Zwischenglied bestimmt werden könnte, so würde alle Welt behaupten, einen Knochen des Urmenschen zu besitzen. Hätte diese Naturforschung ihren Begriff der Entwicklung immer fest vor Augen, so müßte sie wissen, daß auch im glücklichsten Falle nur von einem Beispiel, nicht aber von einem Urtypus die Rede sein kann.

Die Anwendung der Entwicklungshypothese auf die Sprache ist jüngeren Datums, und so ist es kein Wunder, wenn diese fixe Idee von einer greifbaren und bestimmbaren Urgestalt in der Sprachwissenschaft noch weiter verbreitet ist als in der Naturwissenschaft. In der Theorie werden fortgeschrittene Sprachphilosophen ebenfalls die unendlich kleinen Übergänge der Entwicklung zugestehen; in der Darstellung ihrer Forschungen sind sie aber noch leichter als die deutschen HAECKELianer geneigt, einen Knochen für den Urtypus auszugeben. Und sie sind noch schlimmer daran, weil sie gar nicht auf die Auffindung eines vorhistorischen Knochens hoffen dürfen, sondern die vorhistorische Form der von ihnen angenommenen Ursprache nur hypothetisch erschließen können. Ein starkes Beispiel dieser fixen Idee von einer am Anfang aller Sprachen stehenden, die Entwicklung also erst beginnenden, irgendwo vom Himmel gefallenen, deutlich geformten, das heißt artikulierten und ebenso deutlich begrifflichen Ursprache scheint mir das zu sein, was SCHLEICHER (Die deutsche Sprache Seite 45) vorbringt. Er ist darin vorurteilsfrei, daß er zahlreiche Ursprachen annimmt. Aber er hat seine fixe Idee von der ältesten Form jeder dieser Ursprachen. Er denkt sich allerdings weit in eine vorhistorische Zeit zurück, in welcher die gemeinsame Ursprache unserer Mundarten weder Flexion noch auch Agglutination kannte und wo die Bedeutung der Wurzeln noch nicht nach den Kategorien unserer Sprache unterschieden war. Es ist, wie man sieht, einer der vielen Fälle, in denen - wie ich oben sagte - die beiden Bedeutungen des Wortes Ursprache durcheinander geworfen werden. SCHLEICHER sagt nun, daß in der Urperiode der Satz, welcher höchst unbestimmt die beiden Begriffe "Mensch" und "stehen" miteinander verband,  ma sta  gelautet haben müsse.  Müsse!  Dem beneidenswerten Manne steigt kein Zweifel an seiner Erkenntnis auf und kein Gedanke an den Schöpfungsakt, der diese Ursprache dem Menschen geschenkt haben mag.

Von unserem Standpunkt wäre  ma sta  (Mensch-stehen) auch dann noch ein unendlich kleines Zwischenglied der Entwicklung, wenn seine Existenz wie die eines vorhistorischen Knochens nachgewiesen wäre. Auch dann könnten wir bei der Frage nach der Entstehung der Menschensprache nicht anders als annehmen, daß  ma sta  der gegenwärtigen Sprache unendlich näher liege als den Uranfängen, daß also die Ursprache SCHLEICHERs eher mit dem vorläufigen Ende der Entwicklung als mit ihrem Anfange verglichen werden könnte.

Aber auch bei einer besseren Vorstellung von der Entwicklungshypothese ist ihre Anwendung auf die Geschichte der Sprache schwieriger als ihre Anwendung auf die Geschichte der organischen Welt. Wenn nämlich wirklich, wie diese Lehre behauptet, die Organismen von den niedersten PflanzenTieren angefangen bis zum Menschen, wie diese Organismen gegenwärtig nebeneinander auf der Erde leben, historisch nacheinander entstanden sind, und wenn die Entwicklung eines Menschen von der Keimzelle bis zur Geburt ein kurzer Abriß dieser Entwicklungsgeschichte ist, so liegen für beide Entwicklungsreihen alle Stadien zur Vergleichung bereit. Der Naturforscher kann die Typen sämtlicher Organismen nebeneinander legen, kann sie mit dem Messer zerschneiden und unter dem Mikroskop untersuchen; ebenso kann er zahllose Exemplare des tierischen Embryos mit den Stadien der Entwicklung vergleichen. Und beides geschieht bekanntlich in allen Studierstuben dieser Forscher. Wer jedoch die Entstehung der menschlichen Sprache in diesem Sinne zurückverfolgen will, der muß auf die Kenntnis all der unendlich zahlreichen Formen verzichten, die der gegenwärtigen Sprache, das heißt der Sprache der letzten drei bis vier Jahrtausende, vorausgegangen sind. Der phylogenetische Stammbaum, das heißt die Übersicht über die Entwicklung der Art, ist für die Sprache so klaffend unterbrochen, als es der phylogenetische Stammbaum der Naturgeschichte wäre, wenn auf der Erde von allen Organismen nur der Mensch lebte; wir werden gleich sehen, daß allerdings auch dann noch daneben die Existenz der niedersten Lebewesen zur Vergleichung herangezogen werden könnte. Aber kein Forscher der Welt wäre auf die Entwicklungslehre gekommen, wenn es auf der Erde außer den Moneren und den Menschen keine Organismen gäbe. Nach der Lehre HAECKELs (MÜLLERs) ist nun der ontogenetische Stammbaum, das heißt die Übersicht über die Entwicklung des Individuums, eine Abkürzung des phylogenetischen. Dieser ontogenetische Stammbaum der Sprache, das heißt also die Entwicklung der Individualsprache eines Menschen von der Geburt ab, läßt sich nun freilich ohne Lücke verfolgen; und das geschieht auch von seiten der Psychologen ein bißchen seit einigen Jahrzehnten. Aber auch hier ist die Sprachwissenschaft schlimmer daran als die Naturgeschichte; denn der zerschnittene Embryo hält der mikroskopischen Untersuchung stand, während die Beobachtung der ersten Kindersprache sich streng genommen auf die flüchtigen akustischen Erscheinungen beschränken muß, über die  Bedeutung  der ersten Laute jedoch, über die Gehirnvorgänge, weit mehr im Dunkeln tappt, als man gewöhnlich glaubt.

Hat man aber erst nach Analogie der darwinistischen Entwicklungslehre auch für die Sprachgeschichte eine ähnliche Entwicklung angenommen, so ist die letzte Möglichkeit einer Vergleichung trotz der ungeheuren Lücke nicht ausgeschlossen. Der Verlust an Sprachdenkmälern, wie wir ihn annehmen müssen, wenn wir behaupten, die menschliche Sprache habe sich durch ungemessene Zeiträume entwickelt, von denen wir nur die allerjüngste Epoche kennen, - dieser Verlust entspricht wie gesagt dem, der entstanden wäre, wenn alle Organismen von den Moneren bis zum Affen herauf verschwunden wären. Es wäre dann - wie ebenfalls gesagt kein Mensch darauf verfallen, die Moneren mit dem Menschen entwicklungsgeschichtlich zu vergleichen. Jetzt aber, wo wir an der Entwicklungsgeschichte der Tiere ein Vorbild besitzen, jetzt können wir wohl in der Phantasie diese ungeheure Brücke schlagen, und so dürfen wir auch die gegenwärtige Menschensprache mit ihrer Monere vergleichen, mit der Sprache der Tiere. Wir haben bei den Tieren bereits Artikulation und Begriffsbildung gefunden. Ja ich möchte ganz abstrakt und allgemein behaupten, daß überall da, wo wir Mitteilung beobachten, auch bereits Artikulation und Begriffsbildung vorhanden sein muß. Ich möchte diesen Gedanken noch erweitern: wenn wir irgendwo bei noch so primitiven sprachartigen Mitteilungen der Tierwelt Artikulation und Begriffsbildung nicht nachzuweisen vermögen, so kann das nur an der Mangelhaftigkeit unserer Organe respektive an der Mangelhaftigkeit unserer eigenen menschlichen Begriffsbildung liegen, ebenso wie die Annahme eines undifferenzierten, formlosen organischen Protoplasma ein Widersinn ist, der nur an der Mangelhaftigkeit unserer Sehwerkzeuge und ihrer mikroskopischen Hilfswerkzeuge liegen kann. Mir wenigstens scheint "formloses Leben" ein unvorstellbarer Begriff.

Wer sich also durch abergläubische Vorurteile abhalten läßt, die Tiersprache zu einer Vergleichung mit der Menschensprache heranzuziehen, der sollte auch eingestehen, daß er für immer darauf verzichtet, sich mit der älteren Geschichte der Sprache zu beschäftigen, der sollte das Wort Ursprache niemals zu gebrauchen wagen, der sollte damit zufrieden sein, daß er von seiner Frau Mutter ein paar verschlissene und abgegriffene alte Worte geerbt hat, mit denen er immerhin am Biertisch beim Kellner das frische Glas bestellen, den Genossen seine Meinung über die Regierung mitteilen und auf dem Nachhauseweg den Antrag eines Mädels verstehen kann. Was braucht er Erkenntnis, wenn er Hunger, Liebe und Eitelkeit befriedigt hat?

Eine wertvolle Vergleichung der Tier- und Menschensprache wird erst vorgenommen werden können, wenn reiche Beobachtungen durch Menschen vorliegen, die Artikulation und Begriffsbildung der Tiersprache zum Ausgangspunkte genommen haben. Denn alexandrinisch ist einmal die Wissenschaft ihrem Wesen nach, und Beobachtungen werden gewöhnlich nur da gemacht, wo man sucht. Einstweilen müssen ordnungslos herausgegriffene Beispiele genügen.

Daß die Tiersprache artikuliert ist, ergibt sich von selbst, wenn wir bedenken, ein wie subjektiver Begriff in unserem "Artikulieren" steckt. Die Artikulation der Tierlaute dadurch beweisen zu wollen, daß menschliche Laute auch von Tieren hervorgebracht werden können, scheint mir ganz überflüssig. Es ist ja ganz interessant, daß zwei so verschiedene Tiere wie Katzen und Gänse, in Wut gebracht, durch eine ähnliche Artikulation gleicherweise einen ähnlichen Laut hervorbringen wie unser  ch.  Aber all diese Dinge ebenso wie die mechanische Nachahmung der Menschensprache durch Papageien, Stare und Elstern beweisen doch nur, was gar nicht nötig wäre, daß Tiere spezifisch menschliche Laute artikulieren können. Artikuliert, das heißt durch eine bestimmte Stellung und Tätigkeit bestimmter Sprachorgane regelmäßig hervorgebracht, ist am Ende jeder Laut. Wenn es der Mühe lohnte, so ließe sich über die Artikulierung der Rinderstimme eine ebenso wissenschaftliche Phonetik schreiben, wie die Phonetik der Menschensprache ist. Dürfte man nur diejenigen Laute artikuliert nennen, welche in dem phönikisch-lateinischen Alphabet vorliegen, oder meinetwegen nur die, welche nach unserer Phonetik mit über hundert Zeichen ausgedrückt werden, so wären z.B. die Schnalzlaute der Hottentotten und die musikalischen Betonungen der Chinesen nicht artikuliert. Offenbar müßte man es aber eine semitisch-arische Beschränktheit nennen, die Laute sogenannter wilder Völkerschaften deshalb nicht zu den artikulierten Sprachlauten zu rechnen, weil sie wesentlich anders artikuliert werden als die unseren. Das gleiche Verhältnis besteht zwischen den Lauten tierischer und menschlicher Mitteilung. Die verschiedenen Töne der Hundesprache, die nicht allein für die Nebenhunde, sondern auch für hundefreundliche Menschen verständlich sind, sind durch bestimmte Artikulation deutlich differenziert.

Ganz besonders auffallend ist der Gebrauch verschieden artikulierter Töne bei den Hühnern, welche doch zu den dümmeren Tieren gerechnet werden. Ich kann in meiner Stube, ohne zum Fenster hinaus zu sehen, deutlich verstehen, ob der Hahn in seinem Männerstolz den Hahn im Nachbargarten herausfordert, das heißt kräht; ob er Futter gefunden hat und die Hühner herbeiruft, das heißt gackert; ob er endlich sich gelegentlich um die Kücken kümmert, wobei er ebenso deutlich gluckt. Ich glaube sogar behaupten zu können, daß ich im zweiten Falle unterscheiden kann, ob er besonders reiches oder delikates Futter gefunden hat; mehrere Male gelang es mir, einen kleinen Frosch im Laufstall der Hühner zu entdecken, nachdem der Hahn ganz eigentümlich lebhaft gegackert hatte. Ferner hat man beobachtet, daß der Warnungsruf der Gluckhenne differenziert ist, je nachdem ein vierfüßiges Tier auf der Erde oder ein Raubvogel in der Luft die jungen Hühner bedroht. Und die jungen Hühner scheinen durch ihr Benehmen zu beweisen, daß sie verstehen, ob der Feind von oben oder von der Seite kommt. Ich wüßte nicht, was das alles sein sollte, wenn es nicht artikulierte Sprache ist. Man komme doch nicht mit dem hilflosen Worte Instinkt! Die Glucke warnt vor fremden Hunden; sie schweigt, wenn der Haushund sich den Kücken nähert.

Wenn man diese letzte Erscheinung analysiert, so ergibt sich nach menschlichen Vorstellungen zweierlei für die Sprache der Hühner: erstens, daß sie unter Umständen gegen den sogenannten Instinkt auch schweigen können, was doch selbst bei den Menschen erst eine Errungenschaft entwickelten Denkens ist; zweitens, daß Hühner den Begriff Hund ebenso wie den Begriff Erdentier und Lufttier erfaßt haben und daß sie von diesem Begriff das Individuum des Haushundes unterscheiden. Das führt uns auf den zweiten Punkt, der angeblich die Mitteilungen der Tiere von der Menschensprache unterscheidet.

Wer ohne Vorurteil die Verständigung zwischen intelligenten Tieren untereinander und zwischen ihnen und den Menschen beobachtet hat, für den wird es seltsam sein, daß Begriffe für die Tiersprache erst noch ausdrücklich bewiesen werden müssen. Nicht einmal die Klugheit und Dummheit der Tiere macht da einen Unterschied; denn wir sind es ja gewohnt, Tiere wie auch Menschen nur dann klug zu nennen, wenn sie entweder schlau auf ihren Vorteil bedacht sind oder wenn sie uns durch Kunststücke amüsieren. So schreiben wir den reich gewordenen Egoisten und den bewunderten Künstlern einen hohen Grad von Intelligenz zu, den wir einem treuen, mit seinem Lose zufriedenen Arbeiter absprechen; so nennen wir den diebischen Fuchs und den abgerichteten Elefanten kluge Tiere. Dazu kommt ein Nebenmotiv unserer Terminologie, daß wir nämlich mitunter danach urteilen, ob das Tier sich leicht oder schwer für unseren Nutzen oder für unsere Gewohnheiten anlernen läßt. Wie der Lehrer leider den besten Schüler für dumm hält, wenn er sich dem schablonenhaften Schulplan nicht leicht einordnet, so nennen wir in Europa den klugen Esel dumm, weil er sich störrisch verhält gegen die Herrschsucht des Reiters. Umgekehrt heißt wieder der Ochse dumm, weil er wie ein Höriger stumm und regelmäßig als eine Maschine vor dem Pfluge dem Zuruf gehorcht. Mit der menschlichen Klassifikation in dumme und kluge Tiere ist also nicht viel anzufangen. Begriffe aber und mitunter recht abstrakte Begriffe haben in Mitteilung und Verständnis alle diese Tiere: der Hund und das Huhn, der Fuchs und der Elefant, der Esel und der Ochse. Das Experiment ist noch nicht angestellt worden, ob einer Rinderherde im Verlaufe vieler Generationen nicht am Ende eine größere Skala von Empfindungslauten beigebracht werden könnte, die selbstverständlich nur in Rinderartikulation und deren Nachahmung bestehen dürfte; eine Grenze aber hätte eine solche Möglichkeit jedenfalls an der Tatsache, daß die Vererbung bei den Tieren eine entscheidende Rolle spielt, daß - um die Sprache dieser Untersuchung zu reden beim Tiere das Gedächtnis der Art unvergleichlich größer ist als beim Menschen, der ein erstaunliches Gedächtnis des Individuums hat.

Auf diese allerdings noch lange nicht genug konkrete Formel möchte ich die altbekannte Erscheinung zurückführen, daß z.B. das Huhn höchst entwickelt auf die Welt kommt, um nachher im Laufe seines Lebens fast keine Fortschritte mehr zu machen, während das Menschenkind unfertig, wie im Mutterleibe, geboren wird, nachher aber eine um so größere Entwicklung durchmacht. Wenn das Kücken aus dem Ei kriecht, hat es bereits sämtliche Muskelbewegungen des Laufens vom Gedächtnis seiner Art ererbt; das neugeborene Menschenkind muß sein Individualgedächtnis für das Sehen, das Hören ebenso bemühen wie für das Tasten und das Laufen. Ich möchte das so ausdrücken, daß das Menschenkind nichts anderes von seiner Art ererbt hat als die physiologischen Bedingungen zu seiner Entwicklung, das heißt minder gelehrt: seinen Leib mit den Knochen, Muskeln, Nerven und allen Sinnesorganen. Dieser Tatsache entspricht es vollkommen, daß das neugeborene Huhn auch seine Sprache oder wenigstens das Verständnis für seine Muttersprache als Erbteil der Art mit auf die Welt bringt, während das Menschenkind seine Muttersprache sowohl für das Verständnis als für den Gebrauch viel langsamer durch sein individuelles Gedächtnis erlernen muß.

Das hat für unsere Untersuchung eine ganz merkwürdige Folge. Wir sind davon ausgegangen, den unklaren Begriff der Ursprache oder die Entstehung der Menschensprache durch das Vorhandensein einer artikulierten und begriffbildenden Tiersprache erklären zu wollen. Nun aber stellt sich heraus, daß die Sprache der durch ihre Mitteilungen auffallendsten Tiere seit Menschengedenken unverändert sich fortgeerbt hat, daß die Verpflichtung an uns herantritt, auch die Entstehung dieser Sprache historisch zu erklären, daß also die Tiersprache, welche uns beim Begreifen der menschlichen Ursprache helfen sollte, nun ihrerseits durch die Entstehung der menschlichen Individualsprache, durch die Kindersprache erst begreiflich wird. Um diesen Gedanken kurz zusammenzufassen: gerade die Tiersprache ist es, welche uns mit vielleicht wenigen, wahrscheinlich unklaren, aber offenbar fertigen Begriffen versehen entgegentritt, an unseren Kindern dagegen können wir mit ziemlicher Sicherheit beobachten, wie ihr vorsprachliches Lallen allmählich zu einer Begriffssprache wird.

Machen wir Ernst damit, auf die Entwicklung der Sprache den HAECKELschen (richtiger FRITZ MÜLLERschen) Satz anzuwenden: daß also die Entwicklung der Individualsprache ein kurz gedrängter Abriß der Sprache überhaupt ist, so werden wir jetzt noch heller als vorhin sehen, wie sehr der Begriff Ursprache zeitlos und raumlos in der Luft schwebt. Wir müßten uns nach einer veralteten, für uns nicht mehr vorstellbaren Weltanschauung die Schöpfung des Menschen wie eine plötzliche Erfindung denken, um ihn auch nur mit einer wurzelhaften ma-sta-Sprache begabt annehmen zu können. Wie wir uns die Entstehung der Menschenart seit DARWIN erklären - vollkommen phantastisch, unklar und unwissenschaftlich, wie niemals vergessen werden darf -, wie wir uns aber im Zusammenhange mit unserer Weltanschauung den Menschen als ein sich entwickelndes Wesen vorstellen  müssen,  brachte er allerdings, als er sich von der nächst niederen Art differenzierte, sicherlich entwickeltere Sprachwerkzeuge mit, als die Tiere sie besitzen. Das beweist aber nur, daß er eine reichere Auswahl artikulierter Laute zur Verfügung hatte, daß er also z.B. weit besser als andere Tiere im stande war, die Geräusche der Natur und die Stimmen der Tiere nachzuäffen. Damit brachte er aber noch keine Sprache auf die Welt, auch keine Ursprache. Was er mit auf die Welt brachte (phylogenetisch), das war nur insofern eine Sprache, also freilich  die  menschliche Ursprache, als diese Laute zur Mitteilung dienten. Hatte er aber diese seine menschliche Ursprache bereits von seinen affenähnlichen Vorfahren ererbt (immer unter der Voraussetzung, daß DARWINs Hypothese gilt), so hat auch diese seine menschliche Ursprache ihre Vorgeschichte in der Sprache der den Menschen vorangegangenen Art und so weiter zurück bis zu dem ersten Laut, den ein Wasserwesen von sich gab, als es ein Landtier wurde und durch Lungen atmete.

Kaum ein Phantast, der die Lächerlichkeit nicht scheute, könnte es unternehmen, auch nur über die Dauer dieser Entwicklungsgeschichte, geschweige denn über ihren Gang Vermutungen anzustellen. Nur einen einzigen Punkt dürfen wir wagen, aufklären zu wollen, wenn wir wie gesagt die Ontogenesis für ein Bild, ein stenographisches Bild der Phylogenesis ansehen. Wir können die Entstehung der Begriffe bei den menschlichen Kindern beobachten und daraus eine Vorstellung schöpfen, wie etwa in Urzeiten Begriffe überhaupt, also auch die Begriffe der Tiersprache entstanden sein könnten.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906