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WALTER ESCHENBACH
Überwindung der Sprachkrise
- der passive Weg


Die Sprachkrise des 19. Jahrhunderts
Das Problem der Abstraktion
Das Problem der Geschichtlichkeit
Sprache und Denken
Die Kommunikationskrise
Wirkungsgeschichte Mauthners
"Gespräche nehmen allem, was ich denke, die Wichtigkeit, den Ernst, die Wahrheit."

Mit dem Hinweis auf das sozialanthropologische Modell des dialogischen Prinzips haben wir einen möglichen Ansatz zur Überwindung der totalen Sprachskepsis aufgezeigt. Im Rahmen unserer Untersuchungen ist aber in erster Linie nach jenen Schlußfolgerungen und Gegenthesen zu fragen, die sich in MAUTHNER Sprachtheorie selbst oder zumindest aus ihr heraus ergaben. Auch er mußte sich ja die Frage stellen, wohin sein absoluter Skeptizismus und Agnostizismus führten, und welche "Auswege" sich anboten.

Zwei Hauptrichtungen können bei dieser Fragestellung in MAUTHNERs Werk festgestellt werden: der passive Weg der Introversion, der geradewegs und programmatisch zum Schweigen und zur Mystik führt, und der entgegengesetzte, nicht-mystische Weg einer aktiven, dynamischen Sprachkritik, der sich von der introvertierten Resignation entfernt und auf praktisches Handeln, d.h. auf die aktive Ausübung der sprach- und erkenntnistheoretischen Resultate zielt. GUSTAV LANDAUER nannte MAUTHNER in eben diesem Sinne den "Wegbereiter für neue Mystik und für neue starke Aktion"(1).

Thema und Motiv des Schweigens sind sehr häufig - vor allem in literarischen Texten, aber auch im Alltagsgespräch - rhetorische Figuren, manchmal sogar bedeutungslose Stereotype, die über eine echte Sprachskepsis des jeweiligen Sprechers noch nichts Endgültiges aussagen. Im Falle MAUTHNERs, d.h. im Textkontext einer theoretischen Sprachkritik, gewinnen solche Äußerungen jedoch zweifellos ihre gewichtige Aussagekraft und unübersehbare Valenz als programmatische, inhaltlich gefüllte Hinweise auf eine besondere sprachkritische Position. Sie dürfen also hier nicht von vornherein als leere rhetorische Formeln betrachtet werden.
    "Man glaubt gewöhnlich, es sei schwer, reden zu lernen. Umgekehrt. Reden lernt sich von selbst, nicht in der Schule, nicht unter der Zucht des Vaters, beim Spielen mit der Mutter, die Muttersprache. Schwer ist es, schweigen zu lernen. Es ist die wichtigste passive Lüge, auf eine starke Empfindung hin nicht sofort durch das entsprechende Geschwätz zu reagieren"(2).
Diese hohe Einschätzung des Schweigens ist nicht nur ein quantitativer Einwand gegen übertriebenen Wortreichtum, kein bloß moralisierender Aufruf zu einem zurückhaltenden, puristischen Sprachgebrauch, sondern ein qualitatives Werturteil, eine Entscheidung zugunsten des über das rein Sprachliche Hinausgehenden. Es handelt sich also um ein wohlüberlegtes, reflektiertes Schweigen, das erst im Kontrast zum Gesprochenen signalhafte Bedeutung und Gewicht erlangt, weil es ein Etwas hinter den Worten sucht und anerkennt.

Diese Betrachtungsweise MAUTHNERs erhält ihre zusätzliche Erweiterung und Vertiefung durch eine zeitspezifische soziologische Komponente, die uns klar zeigt, daß es ihm nicht um den enggefaßten, psychologischen Rahmen des mehr oder weniger privaten Sprachgebrauchs geht, sondern um eine umfassende, allgemeine historische Sprachsituation. Das Lob des Schweigens erhält nämlich als Folgeerscheinung der heftigen Kritik am Verfall des sprachlichen Zustandes der gegenwärtigen Gesellschaft eine zeit- und kulturkritische Relevanz.
    "In bunten Farben schimmern unsere Sprachen und scheinen reich geworden. Es ist der falsche Metallglanz der Fäulnis. Die Kultursprachen sind heruntergekommen wie Knochen von Märtyrern, aus denen man Würfel verfertigt hat zum Spielen. Kinder und Dichter, Salondamen und Philosophieprofessoren spielen mit Sprachen, die wie alte Dirnen unfähig geworden sind zur Lust wie zum Widerstand. Alt und kindisch sind die Kultursprachen geworden, ihre Worte ein Murmelspiel.

    Abseits von der Sprache steigert sich der wollüstige Komfort bis zum Blödsinn und glaubt darum an einen Höhepunkt der Menschheit. In der Sprache verrät sich ihr tiefer Stand. Und zum erstenmal, seitdem Menschen sprechen gelernt haben, wäre es gut, wenn die Sprachen der Gesellschaft vorangingen mit ihrem Schuldbekenntnis, mit dem Eingeständnis ihrer Selbstmordsucht.

    Um sich zu verständigen, haben die Menschen sprechen gelernt. Die Kultursprachen haben die Fähigkeit verloren, den Menschen über das Gröbste hinaus zur Verständigung zu dienen. Es wäre Zeit, wieder schweigen zu lernen."(3)
MAUTHNERs Behauptung, das wichtigste Geschäft der Menschheit sei eine Kritik der Sprache, die "eine Erlösung von der Sprache, eine Erlösung vom Wortaberglauben" verheiße(4), ist also keine leere Formel oder Redensart, sondern eine ernstzunehmende Zielprojektion, der radikale, konsequente Endpunkt seiner sprachkritischen Überlegungen. Nur im Zustand des Schweigens habe der Denker und Dichter
    "die bessere Erkenntnis von Welt und Menschen. Solange er schweigt, solange ihn die Wollust des Findens nicht zu Verstand kommen läßt, solange glaubt er Gold in der Hand zu halten. Will er es aber aussprechen, will er dem Funde einen Namen geben, will er die Erkenntnis aussprechen, so erfährt er entweder, daß er der geglaubten Erkenntnis gar nicht näher gekommen ist, (...) oder daß das Gold, das er in der Hand zu halten glaubte, und das er darum nicht losläßt, sich sichtbar in dürres Laub oder Asche verwandelt"(5).
Mit dieser positiven Wertschätzung des Schweigens, das die bessere Hälfte des Sprechens verkörpere, sind wir auf einen Kernpunkt auch der literarischen Sprachkrise um 1900 gestoßen. Natürlich kann und darf diese Behauptung nur mit der einschränkenden Bemerkung gelten, daß es das literarische Thema oder Motiv des Schweigens, vor allem das dramaturgisch funktionalisierte Schweigen, auch schon viel früher gab.

Wir können selbstverständlich auf diese Tradition des Schweigens innerhalb der Literatur nicht näher eingehen; bezeichnetes oder dargestelltes Schweigen gehört zum dichterischen Medium Sprache fast ebenso wie die Pause zum musikalischen Medium der Töne und Klänge. Trotzdem ist es wichtig, sich zumindest die Rolle des Schweigens für das Phänomen der literarischen Skepsis klarzumachen.

Entscheidend sind dabei stets die jeweils besondere Betonung, Ausprägung, Struktur und Funktion dieser  Antisprachlichkeit.  Zweifellos sind diese in der Epoche der Jahrhundertwende gedanklich und künstlerisch sehr fortgeschritten. MAUTHNER selbst hat auf seinen Zeitgenossen MAURICE MAETERLINCK hingewiesen, der eine Art  Poetik des Schweigens  eingeführt habe(6). Mit MAETERLINCK und anderen Autoren dieser Epoche begann recht eigentlich eine literarische Tradition der  Sprache des Schweigens,  wie sie STRINDBERG z.B. in seiner "Gespenstersonate" charakterisiert hat:
    "Das Schweigen kann nichts verbergen, aber Worte können dies"(7).
Die Wirkung des essayistischen und dichterischen Werks MAETERLINCKs auf seine deutschsprachigen Zeitgenossen ist nicht zu unterschätzen, wenngleich wir es auch hier des öfteren mit übereinstimmenden, parallelen Vorstellungen und Denkrichtungen bei verschiedenen Verfassern zu tun haben, die gleichzeitig und unabhängig voneinander auf dem gemeinsamen Hintergrund der spezifischen Zeitlage und Sprachsituation entstanden sind.

GERHART HAUPTMANN, in dessen Dramen es nicht nur das erzwungene, unfreiwillige Verstummen jener Augenblicke gibt, in denen die Sprache versagt, sondern auch das absichtliche, bedeutungsvolle und vieldeutige Schweigen, das Schweigen als ein dem gesprochenen Wort gleichwertiges, ja überlegenes sprachliches Mittel, führte an einer Stelle aus:
    "Es ist nicht so widersinnig, wie es klingt, wenn man als Zweck aller Kunst angibt: das große Schweigende schweigend lauszusprechen"(8).
Das Mysterium des Schweigens hat - was sehr naheliegend ist - eine besondere Affinität zur Musik, was Hauptmann ebenfalls hervorhob.
    "Ich habe in diesem Augenblick mehr als je zu bedauern, daß mir der musikalische Ausdruck verschlossen ist, denn alles um mich wird mehr und mehr zu einer einzigen, großen, stummen Musik. Das am tiefsten Stumme ist es, was der erhabensten Sprache bedarf, um sich auszudrücken"(9).
MAUTHNER stellte in diesem Zusammenhang einen gewagten Vergleich an, um die Überlegenheit der Musik zu behaupten.
    "Was BEETHOVEN ein einziges Mal versehen hat, das hat RICHARD WAGNER grundsätzlich mißverstanden mit seinen Leitmotiven. WAGNER wußte wirklich nicht, was reine Musik ist. Er bindet jedes seiner Leitmotive an eine bestimmte Vorstellung, fast immer eine Wortvorstellung, oft nur an einen Eigennamen. Er hat die reine Musik BEETHOVENs unter die Sprache degradiert, wenigstens unter die Poesie, aber doch gar unter die Poesie WAGNERs"(10).
LANDAUER geht sogar noch einen Schritt weiter in seiner Bemühung, die Musik als beste Menschensprache herauszustellen, die
    "unser eigenes Wesen und damit das Innerste der Welt am tiefsten erschließt. Es wird noch einer kommen, der die umgekehrte neunte Symphonie schreibt: wo erst gesprochen wird und begriffen, bis dann über den Gesang hinweg die Instrumente in ihrer wunderbaren, über alles Begreifen deutlichen sprachlosen Sprache dazwischen weinen und jauchzen und rufen: Ihr Freunde, nicht diese Töne"(11).
Im Drame HOFMANNSTHALS ist das ambivalente Verhältnis von Sprechen und Schweigen ein primäres Strukturmerkmal. Das Lustspiel "Der Schwierige" verkörpert am vollkommensten, daß
    "Pausen und Schweigen wesentliche Kompositionsglieder sind, ja mehr als das: im geistig-seelischen Geschehen ereignisreiche Moment, Ereignisse an der Grenze der Sprache, aber an der Grenze der  Sprache,  nicht ohne Sprache denkbar, nicht in der reinen, unvermittelten Innerlichkeit, im Schweigen schlechthin und ohne Bezug auf die Sprache; letzten Endes denn doch in der Sprache realisiert; und zwar möglicherweise wie hier, in der Sprache verbindlich- unverbindlicher Konversation. Was KIERKEGAARD wußte, ist Weisheit auch des  Schwierigen:   Schweigen  verborgen im Schweigen ist verdächtig ... Aber Schweigen, verborgen in dem entschiedensten Konversationstalent, das ist - so wahr ich lebe - das ist Schweigen"(12).
Schweigen muß also stets in einer Spannung zur Sprache gesehen werden; es kan ein sprachliches Unvermögen oder das noch nicht zur Sprache gekommene Bewußtsein ebenso verkörpern wie ein post-verbales, willentliches Verstummen, das auf eine erhöhte Reflexions- und Bewußtseinsstufe schließen läßt. RILKE hat im 20. Sonett aus dem zweiten Teil der  Sonette an Orpheus  jenen Umschlag des Schweigens, jene Sprache der Stummheit, in einer gleichnishaften Vision dargestellt.(13)

Die Hervorhebung des Schweigens betrifft nicht nur den zwischenmenschlichen Kommunikationsbereich, sondern ebenso das Verhältnis des Menschen zur Realität, zum Lebensprozess, zum Ichbewußtsein. Mit dem Thema oder Motiv der Stummheit ist die Gesamtheit der von uns behandelten Sprach-, Bewußtseins- und Wirklichkeitskrisen angesprochen. Das Schweigen soll gewissermaßen als Übergangsstufe zu einem neuen über- bzw. außersprachlichen Zustand verstanden werden, in dem die durch die Sprache verursachten Spaltungen und Trennungen überwunden werden sollen und ein sprachloser einheitsstiftender Bezug walten soll. Der Augenblick des Schweigens wird - in anderen Worten - zur Vorstufe des mystischen Augenblicks.
    "Dann aber freilich, wenn wir die Welt verstünden, würden wir eben nicht sprechen und nicht definieren, sondern grenzenlos, undefinierbar schweigen wie die Natur"(14).
Aus der mystischen Sehnsucht nach einer Erlösung von der Sprache, nach einer Überwindung des durch sie verursachten Dualitätsprinzips von Ich und Welt, Subjekt und Objekt, Innen und Außen, Geist und Seele u.a. ergaben sich jene übersteigerten sprachkritischen Positionen MAUTHNERs, die die eigentliche, tatsächliche Sprachproblematik transzendieren und sich außerhalb des sprachlichen Bereichs selbst bewegten. Zu diesen aus der mystischen Sehnsucht geborenen Aspekten gehörten die stumme Versenkung in die nichtkommunikable, naturhafte Umgebung, das wortlose Ineinswerden mit den Dingen, das Aufgehen des persönlichen Ichs im Weltganzen, die entsprachlichte Verschmelzung des Getrennten.

Diese erste Richtung der MAUTHNERschen Sprachkritik, die wir die passive, introvertierte nannten, zielte also über den eigentlichen Bereicht des Sprachlichen hinaus und führte in ihrer Konsequenz zur Mystik. Was EIBL über GUSTAV SACKs Werk gesagt hat, trifft vorbehaltlos auch auf MAUTHNERs Haltung zu:
    "Sprachskepsis und Sprachmystik (...) sind vielfach komplementäre Erscheinungen. Sie sind es immer dort, wo Denken und Sprechen als identisch oder zumindest unlösbar miteinander verbunden betrachtet werden, wo mit dem Vertrauen in die Sprache also zugleich das Vertrauen in den menschlichen Geist zerbricht, und wo doch zugleich die Sehnsucht nach Verbindlichkeit des eigenen Seins weiterbesteht - eine Sehnsucht, die hoffen durfte, solange sie auf die Vernunft vertraute, die sich aber einem anderen Weg, dem zystisch-irrationalen, zuwenden muß, wenn dieses Vertrauen zerbrochen ist. Ohne Gefahr unerlaubter Vereinfachung kann man Skepsis und Sehnsucht als die beiden Quellen bezeichnen, aus denen sich GUSTAV SACKs gesamtes Werk speist"(15)
Die Komplementarität von Sprachskepsis und Mystik gilt im Falle MAUTHNERs in doppelter Richtung; man kann bei ihm die sprachüberwindende, mystische Sehnsucht auch als Voraussetzung und Antrieb seiner skeptischen Sprachtheorie betrachten. Für dies originäre Neigung MAUTHNERs zur Mystik, wodurch sie sich als Ausgangspunkt einer davon abhängigen Sprachkritik zu verstehen gibt, findet man beinahe ebenso viele Zeugnisse und Belege wie für den umgekehrten Kausalnexus einer von der vorangegangenen Skepsis abgeleiteten Mystik.

Ein Wort NIETZSCHEs, das MAUTHNER gerne zitierte und für sich selbst in Anspruch nahm, bringt die Gleichzeitigkeit, Ausgeglichenheit und Gleichberechtigung der rationalen und irrationalen Elemente sehr bildhaft zur Sprache: Bei den meisten Denkern und Dichtern der Jahrhundertwende lassen sich keine Idealtypen der beiden möglichen Wege vom  prä- oder suprarationalen Erleben  zur Sprachskepsis oder  von der diskursiven Sprachkritik (...) zur Mystik  antreffen(17). Eher sind es Mischformen und Übergänge, die die Situation um 1900 charakterisieren. Man sollte deshalb auch nicht voreilig von einem Ausweg, einer Flucht in die mystische Irrationalität sprechen; denn sehr oft ist diese mystische Tendenz auch Voraussetzung und Ursprung des rationalen Skeptizismus.

Es ist die Suche nach der durch aufgeklärtes Bewußtsein, wissenschaftliche Erkenntnis und sprachliche Aufsplitterung verlorengegangenen Einheit, die sich in MAUTHNERs mystischer Sprachkritik gleichermaßen manifestiert wie in der literarischen Sprachskepsis um und nach 1900.

Diese Mystik ist natürlich längst nicht mehr das auf Gott gerichtete, zielgebundene Erlebnis der Entrückung oder Versenkung, sondern vielmehr die bildhafte Projektion einer skeptisch- kritischen Geisteshaltung ins Überrationale und Außersprachliche; eine Mystik, die sich nicht mehr als letzte Zuflucht oder endgültige Lösung erachtet, sondern weit eher als ein Experiment, eine bloße Möglichkeit. Deshalb trennte sich MAUTHNERs mystische Neigung auch nie ganz von seinem skeptizistischen Erkenntnisstreben.
    "Sprachkritik war mein erstes und ist mein letztes Wort. Nach rückwärts blickend ist die Sprachkritik alles zermalmende Skepsis, nach vorwärts blickend, mit Illusionen spielend, ist sie eine Sehnsucht nach Einheit, ist sie Mystik"(18).
Mystik ist für MAUTHNER keine Alternative, die die Sprachkritik ablösen oder gar unnötig machen könnte. Sie ist nur ein potentieller Gegenentwurf, eine Möglichkeitskategorie, durch die der sprechenden Mensch mit der sprachlosen Natur stets aufs neue konfrontiert und die Diskrepanz zwischen beiden deutlich gemacht werden soll. MAUTHNER betonte für sich selbst und seine Sprachkritik stets eine deutliche Distanzierung von der herkömmlichen Mystik.
    "Ich habe mich bemüht, in meinen Darlegungen auch die versteckteste Neigung zur Mystik jedesmal zu unterdrücken, so sehr ich auch für heilige Sonntagsstunden die großen Mystiker lieben mag, die stammelnd beredten  Stummen des Himmels" (19).
Er bekannte andererseits aber auch, daß seine "fast widerwillige Liebe zu einigen großen Mystikern" - MEISTER ECKHART vor allem - sehr stark unter dem Einfluß des Zeitgeistes stand, mehr als ihm lieb war.

Die mystischen Strömungen im allgemeinen und das Verhältnis von Sprache und Mystik in enge Beziehungen setzen können. In HAUPTMANNs Dramen z.B., vorwiegend in Märchen- und Traumstücken, gibt es wiederholt jene Momente überrationaler Einsicht und sprachlicher Bewußtlosigkeit, mystische Augenblicke, in denen die Sprache völlig ausgeschaltet ist, und in deren Folge das Mißtrauen gegenüber jedem gesprochenen Wort immer wieder aufbricht.
    "Diese geschilderten Szenen: Durchbruch der schicksalsbestimmenden Mächte im Zustand der Bewußtlosigkeit, hellsichtiges Wissen um die Dialektik der schuldlosen Schuld im Augenblick der Sprachlosigkeit, lassen sich nun fast in allen wesentlichen späteren Dramen GERHART HAUPTMANNs nachweisen"(20).
Aus der Ich- und Wirklichkeitskrise und aus dem gesteigerten Lebensgefühl heraus war das Verlangen nach einer Überwindung der Gespaltenheit erwachsen, der Wunsch nach einem universalen Einheitsgefühl, dem die einzelheitliche Struktur der Sprache ein Hindernis war un in dem - wenn auch nur als  mystischer Augenblick  - die Trennung von Person und Gegenstand, Subjekt und Objekt aufgehoben sein sollte in einer vollkommenen Auflösung und Verschmelzung der Gegensätze.

Gerade die Dingmystik, in der der einzelne Gegenstand zum Symbol für den gesamten Zusammenhang werden kann, und in der sich im Einzelelement das Wesen des Ganzen offenbarte, mußte in Konflikt mit der herkömmlichen Sprache geraten, die ja das Gegenteil, die Vereinzelung und Trennung, verkörperte. Der Dichter antwortete gewissermaßen auf den Zerfall der Wirklichkeit, wie er sich in der konventionellen Sprache darstellte, mit einer neuen, einheitsstiftenden Dingmystik, in der die Welt so in Sprache verwandelt wurde,
    "daß der Zusammenhang jeder Erscheinung mit dem umgreifenden Ganzen, mit dem Gesamtleben fühlbar wird. Das ist gleichsam die Antwort der Dichtung auf den Zerfall der Welt in sinnleere Fakten"(21).
Als verdeutlichendes und veranschaulichendes Zeugnis für diese Mystik der Dinge, die direkte, sprachlose Kommunikation mit den Gegenständen, müssen wir noch einmal den Brief des Lord Chandos zitieren, der an einer Stelle über dieses außersprachliche Verhältnis zu den Dingen sehr ausführlich und eindringlich berichtet.
    "Es wird mir nicht leicht, Ihnen anzudeuten, worin diese guten Augenblicke bestehen; die Worte lassen mich wiederum im Stich. Denn es ist ja etwas völlig Unbenanntes und auch wohl kaum Benennbares, das in solchen Augenblicken, irgendeine Erscheinung meiner alltäglichen Umgebung mit einer überschwellenden Flut höheren Lebens wie ein Gefäß erfüllend, mir sich ankündet. Ich kann nicht erwarten, daß Sie mich ohne Beispiel verstehen, und ich muß Sie um Nachsicht für die Albernheit meiner Beispiele bitten.

    Eine Gießkanne, eine auf dem Felde verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden. Jeder dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, über die sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet, kann für mich plötzlich in irgendeinem Moment, den herbeizuführen auf keine Weise in meiner Gewalt steht, ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm erscheinen. (...)

    Diese stummen und manchmal unbelebten Kreaturen heben sich mir mit einer solchen Fülle, einer solchen Gegenwart der Liebe entgegen, daß mein beglücktes Auge auch ringsum auf keinen toten Fleck zu fallen vermag. Es erscheint mir alles, alles, was es gibt, alles, dessen ich mich entsinne, alles, was meine verworrendsten Gedanken berühren, etwas zu sein. Auch die eigene Schwere, die sonstige Dumpfheit meines Hirnes erscheint mir als etwas: ich fühle entzückendes, schlechthin unendliches Widerspiel in mir und um mich, und es gibt unter den gegeneinander spielenden Materien keine, in dich nicht hinüberzufließen vermöchte"(22).

LITERATUR - Walter Eschenbach, Fritz Mauthner und die deutsche Literatur um 1900, eine Untersuchung zur Sprachkrise der Jahrhundertwende, Frankfurt/Bern 1977
    Anmerkungen
    1) GUSTAV LANDAUER, Skepsis und Mystik, Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik, Berlin 1923, Seite 3
    2) Beiträge I, Seite 79
    3) Beiträge I, Seite 215
    4) Erinnerungen, Prager Jugendjahre, München 1918, Seite 214 (Neuauflage Frankfurt/Main 1969)
    5) Beiträge I, Seite 78
    6) vgl. dazu Beiträge I, Seite 110f
    MAUTHNER zitiert aus einem Aufsatz MAETERLINCKs über das Schweigen, worin es z.B. heißt: "Wir reden nur in den Stunden, wo wir nicht leben, (...). Auch sind wir sehr geizig mit dem Schweigen; und die Unklügsten unter uns schweigen nicht mit dem ersten besten. (...) Ich denke hier nur an das aktive Schweigen; es gibt aber auch ein passives Schweigen, welches nichts ist als ein Reflex des Schlummers, des Todes oder des Nichtseins." (Beiträge I, Seite 11)
    Vgl. auch: MARIANNE KESTING, MAETERLINCKs Revolutionierung der Dramaturgie, in 'Akzente', 10. Jhg. (1963), Seite 527-544)
    7) AUGUST STRINDBERG, Dramen, Bd.3, aus dem Schwedischen von WILLI REICH, München 1965, Seite 266
    8) GERHART HAUPTMANN, Das gesammelte Werk, Berlin 1942, Bd. XVII, Seite 415
    9) GERHART HAUPTMANN, Das gesammelte Werk, Berlin 1942, Bd. XVII, Seite 173
    10) Beiträge I, 2. Auflage, Seite 102
    11) GUSTAV LANDAUER: Skepsis und Mystik, Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik, Berlin 1923, Seite 102
    12) RICHARD BRINKMANN, Hofmannsthal und die Sprache, in DVj. 35 (1961), Seite 90
    Auch LOTHAR WITTMANN hat in seiner Untersuchung darauf hingewiesen, "wie in jeder neuen dramatischen Form HOFMANNSTHALs die Grenze zwischen Wort und Schweigen neu umspielt, wie in immer neuen Variationen der Bezirk des Sprachlichen gegenüber dem des absolut Wortlosen abgesteckt wird. Die Spannung zwischen Sprechen und Verstummen erweist sich als eine in allen Dramen des Dichters durchgehaltene Grundspannung, als durchgängiges Leitmotiv seiner dramatischen Darstellung der menschlichen Wirklichkeit." (LOTHAR WITTMANN: Sprachthematik und dramatische Form im Werk Hofmannsthals, Stuttgart 1966, Seite 177)
    13) Vgl. RAINER MARIA RILKE, Sämtliche Werke, 1.Band, Hg. vom Rilke-Archiv, Wiesbaden 1955, Seite 765
    "Das Gefühl des Dichters sinkt in den Raum des Unsagbaren, wo ein solch unmittelbarer Bezug zwischen den Dingen herrscht, daß eine Verständigungssprache menschlicher Art nicht nötig ist. Die Stummheit der Fische gilt als Chiffre für Bezüge, die des Wortes im Sinne von 'Logos' nicht bedürfen." (KARL HEINZ FINGERHUT, Das Kreatürliche im Werke R.M.RILKEs. Untersuchungen zur Figur des Tieres, Bonn 1970, Seite 146)
    14) Beiträge III, Seite 307
    15) KARL EIBL, Die Sprachskepsis im Werk Gustav Sacks, München 1970, Seite 88
    16) FRIEDRICH NIETZSCHE, Gesammelte Werke, Musarion-Ausgabe, München 1920/24, Band XIV, Seite 22
    17) KARL EIBL, Die Sprachskepsis im Werk Gustav Sacks, München 1970, Seite 74
    18) FRITZ MAUTHNER, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Band IV, Stuttgart/Berlin 1923, Seite 447. Bereits im Vorwort zur zweiten Auflage der "Beiträge" hatte MAUTHNER geschrieben: "Es gab in den Monaten der Umarbeitung hochmütige Stunden, in denen ich die Macht fühlte, erdenfeste und erdennahe Mystik mit himmelheiterer und himmelferner Skepsis zu verbinden." (Beiträge I, Seite 627)
    19) vgl. Philosophisches Wörterbuch II, Seite 116
    20) WILHELM EMRICH, Der Tragödientypus GERHART HAUPTMANN, in 'Protest und Verheißung', Studien zur klassischen und modernen Dichtung, Frankfurt/Main 1963, Seite 198
    21) WILHELM EMRICH, Der Tragödientypus GERHART HAUPTMANNs, in "Protest und Verheißung", Studien zur klassischen und modernen Dichtung, Frankfurt/Main 1963, Seite 198
    22) HUGO von HOFMANNSTHAL, Prosa I, aus "Werke", Hrsg von HERBERT STEINER, Frankfurt/Main 1951, Seite 267