cr-3E. PfleidererJ. E. ErdmannBacon 
 

FRITZ MAUTHNER
Bacon's Gespensterlehre
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"Es ist unabsehbar, was man alles zum Nutzen der Menschheit erfinden könnte, wenn der menschliche Verstand seine Vorurteile und seine Gespenster los würde."

Die Natur wächst und vermehrt sich; was aus dem Denken der Menschen hervorgeht, verändert sich nur, ohne zu wachsen und ohne sich zu vermehren. Unsere Wissenschaften sind vom Stamme losgerissene Reiser; darum nehmen wir an ihnen seit 2000 Jahren kein Blühen mehr wahr. (74)

Die gegenwärtigen Naturforscher haben schon eine Ahnung von diesem Sachverhalt; sie klagen genug über die Feinheit der Natur und über die Stumpfheit des menschlichen Geistes. Auch diese Klagen verallgemeinern sie wieder, anstatt die bisherige Methode der Forschung anzuklagen. Sie wollen die Unwissenheit verewigen. So lehren sie z.B., daß die Wirkungen der Sonne und des irdischen Feuers nicht nur dem Grade nach, sondern auch der Art nach verschieden seien, nur damit nicht durch künstliche Wärme mit der Naturwärme um die Wette Arbeit geleistet würde. (75)

Es ist nicht wahr, daß ARISTOTELES alle früheren Systeme überwunden habe; nur durch den Zufall der Barbaren-Invasion und des allgemeinen Schiffbruchs sind eben die leichteren Tafeln des PLATON und ARISTOTELES oben geblieben. Auch ist es nicht wahr, daß die Übereinstimmung aller Scholastiker etwas für ARISTOTELES beweise. Die meisten Aristoteliker haben sich ihrem Meister auf Autorität hin, aus Vorurteil, sklavisch unterworfen, so daß man eher von Nachbeterei und blinder Sektiererei sprechen sollte, als von Übereinstimmung. Und selbst wenn Übereinstimmung geherrscht hätte, so spräche das eher gegen als für ARISTOTELES.

Denn in geistigen Dingen ist der Schluß aus dem allgemeinen Beifall ein elender Schluß; Angelegenheiten der Religion und des Staates natürlich ausgenommen, wo der consensus omnium - für die Regierenden - sehr angenehm sein mag. PHOKION lehrte sehr weise: "Wenn man die Zustimmung der Menge erhielte, müßte man sogleich untersuchen, wo man eine Dummheit gemacht hätte." Diese Regel läßt sich aus der Welt des Handelns auch auf die des Erkennens übertragen. (77)

Nachdem ich so den leidigen Zustand unserer Erkenntnis dargelegt habe, müßte ich noch die Ursachen dieses Stillstandes aufzeigen. Es ist fast wunderbar, daß ich in dieses Dickicht hineinzuleuchten zu vermag; eigentlich aber ist es nicht mein Verdienst, sondern es ist eine Geburt der Zeit, die mit diesen Gedanken schwanger war. (78)

Als nach der kurzen Blüte der Wissenschaften (bei den Griechen) und einigen Bestrebungen der Römer und Araber das Christentum im Abendlande sich siegreich ausgebreitet hatte, gab es für Theologen Schulen und Pfründen, und so wandten sich die besten Kräfte der Theologie zu. So kam es, daß nur selten ein Mönch oder ein vornehmer Herr Naturforschung um ihrer selbst willen trieb. (79)

Die große Mutter aller Wissenschaften wurde zur Magd erniedrigt, sollte bei unwissenden Ärzten Handlangerdienste tun, unreifen Buben die Rotznase wischen; Naturwissen sollte wie ein Aperitiv genommen werden, damit nachher das theologische System desto besser wirken könnte. (80)

Damit in einigem Zusammenhange steht, daß die Wissenschaften auch wegen des fehlenden Ziels nicht vorwärts kommen konnten. Die Bereicherung des Menschengeschlechts mit neuen Kräften und Erfindungen ist das wahre Ziel. Der große Haufe aber arbeitete handwerksmäßig um des täglichen Brotes willen; wenn aber einmal ein einzelner die Naturwissenschaft um ihrer selbst willen liebte, so lag ihm das Aufsuchen der Naturgesetze mehr am Herzen als ihre Anwendung auf das Menschenglück, denn das sollte ja auf der Erde überhaupt nicht gesucht werden. (81)

Doch auch die Einsicht in den wahren Zweck alles Naturwissens hätte nichts helfen können, solange kein Sterblicher danach trachtete, dem menschlichen Geist von den Sinnen und der Erfahrung aus einen Weg zu bahnen, solange alles dem Dunkel der Überlieferung, dem bodenlosen Strudel der Logik, den Wellen des Zufalls, kurz einer wüsten und rohen Erfahrung überlassen blieb. Insbesondere die Logik oder Dialektik, die anstatt von der Beobachtung immer von den überlieferten Begriffen ausgeht, entdeckt nichts, führt vielmehr immer wieder zu Tautologien. (82)

Die schon erwähnte Einstimmigkeit in der Pietät für ARISTOTELES und für die Griechen überhaupt, die Überschätzung des Altertums, hat uns behext. Noch einmal: die Weisheit des Greisenalters ist bei uns, das sogenannte Altertum war die Jugendzeit. Man hat jetzt den Horizont auf der Erdkugel unendlich ausgedehnt, will aber den geistigen Horizont immer noch nach den alten Autoren richten; will nicht einsehen, daß der Autor aller Autoren für uns spricht: die Zeit. (84)

Ebenso verkehrt ist die Ehrfurcht vor den Bücherschätzen unserer Bibliotheken. Wer erst bemerkt hat, daß die Wiederholungen kein Ende nehmen, daß die Gelehrten immer dasselbe treiben und reden, der wird nicht mehr über den Reichtum, sondern über die Dürftigkeit des menschlichen Wissens staunen. Die wahre und letzte Ursache der Armut ist die Meinung, reich zu sein. Zwischen den Leuten, welche auf scholastischen Wegen den Stein der Weisen suchten, und denen, die nach meiner Methode arbeiten werden, ist der gleiche Unterschied wie zwischen den Helden der Romane, wie Amadis von Gallien (und König Arthur) einerseits und den wirklichen Helden Alexander und Cäsar andererseits. Wir wissen nicht, ob wir über solche Helden von der traurigen Gestalt lachen oder weinen sollen. (85-87)

Nicht soll vergessen werden, daß noch weit öfter bei uns als bei den Griechen der Ruchlosigkeit gegen die Götter beschuldigt wurde, wer den Menschen die natürlichen Ursachen des Geschehens aufdecken wollte. Aberglaube und Religionseifer haben sich gegen jede Neuerung erklärt. Besonders seitdem die scholastische Theologie, zur Erhöhung der Kirchenmacht, mit der streitsüchtigen und dornigen Philosophie des ARISTOTELES zu einem festen System verbunden worden ist.

In diesen Mischmasch von Theologie und Philosophie wird nichts Neues hineingelassen, auch wenn es das Bessere ist. Man hat ein böses Gewissen: die Erforschung der Natur könnte Wahrheiten ans Licht bringen, die sich mit Glaubenssätzen nicht vertrügen; so will man Gott mit Lügen dienen. Auch unsere Schulen, die eben auch von Theologen gestiftet worden sind, halten am Alten fest. (89)

Auch der Lohn fehlt den Erneuerern der Naturforschung. Der Betrieb der Wissenschaften und ihre Belohnung ist nicht beisammen. Wachsen kann das Wissen nur durch hervorragende Geister; staatliche Belohnungen stehen beim Pöbel (der öffentlichen Meinung) und bei den Fürsten und ihren Ministern. (91)

Die bisherigen Philosophen nannten sich entweder Empiriker oder Rationalisten; sie gebrauchten aber eine schlechte Vernunft. Die Empiriker schleppten zusammen wie Ameisen; die Rationalisten zogen ihr Gewebe aus sich selber heraus wie Spinnen; wir sollten das Verfahren der Bienen nachahmen, die den Stoff von überall her sammeln, ihn aber nachher durch eigene Kraft bearbeiten. (92-96)

Wenn ich meine eigene Wegweisung mit der Leistung ALEXANDERs d. Gr. vergleiche, wird man das eitel nennen. Ich meine es aber nicht anders als so: LIVIUS fand ALEXANDERs Größe in seiner Tapferkeit, die hohle Eitelkeit der Perser zu verachten. So möge man einst von mir sagen: Er hat nichts Großes geleistet; aber er hat die Kleinheit dessen eingesehen, was man zu seiner Zeit groß nannte. (97)

Was man bis jetzt Erfahrung genannt hat, war keine wirkliche Erfahrung. Man hat es im Naturwissen bisher so gehalten, wie wenn ein Staatslenker nicht die Berichte glaubwürdiger Gesandter, sondern Straßengeschwätz und Stadtklatsch zur Grundlage seiner Entschlüsse machen wollte. Künstliche Versuche, Experimente hat man überhaupt niemals angestellt. Wie die Denkungsart eines Menschen und seine geheimen Neigungen erst unter dem Einflusse von Leidenschaften sichtbar werden, so offenbaren sich die Geheimnisse der Natur unter dem Drängen und Pressen künstlicher Veranstaltungen besser, als wenn Alles seinen Gang geht. Die lichtbringenden Experimente sind noch wertvoller als die fruchtbringenden. (98-99)

Die Teilung der Arbeit im wissenschaftlichen Betriebe muß in ihren schädlichen Wirkungen aufgehoben werden: durch Sammlung, Ordnung aller Erfahrungen, durch Erfindungstafeln, vor allem aber durch eine Revolution der bisherigen Logik; mit äußerster Geistesanstrengung muß an Stelle der bisherigen Syllogistik eine neue Induktion treten, um mit ihrer Hilfe nicht gleich neue Prinzipien, sondern erst klare Begriffe zu erhalten. Auf einer Kritik unserer Begriffe beruht unsere größte Hoffnung. (100-107)

Es ist unabsehbar, was man alles zum Nutzen der Menschheit erfinden könnte, wenn der menschliche Verstand seine Vorurteile und seine Gespenster los würde. Es mag zugegeben werden, daß zur Erfindung des Schießpulvers oder des Kompasses irgendein Zufall mithelfen mußte; aber die Buchdruckerkunst hätte doch mit einigem Verstand schon viel früher erfunden werden müssen. (110)

Ich habe diese Fortschritte gewiesen, überhäuft mit Geschäften, nicht mit der besten Gesundheit ausgestattet, als Erster bei diesem Unternehmen, ganz allein, ohne Möglichkeit, mit einem anderen Menschen mich zu verstehen; und ich weiß, daß geschäftefreie Menschen in gemeinsamer Arbeit, im Laufe der Zeit auf meiner Bahn Großes erreichen werden. Und wäre ich dessen nicht so sicher, wehte der Wind von den Küsten einer neuen Welt nicht so stark und unverkennbar herüber, wir müßten dennoch den Versuch machen, aus der Stagnation unseres elenden Naturwissens hinauszukommen. (113, 114)

Es kann sich mir gar nicht darum handeln, den vielen philosophischen Systemen ein neues System hinzufügen zu wollen; nur die Macht der Menschen über die Natur möchte ich auf festeren Grund bauen helfen. Ich werde die Vollendung meiner eigenen Gedankenwelt nicht erleben; ich werde nicht selbst die praktischen Konsequenzen ziehen; aber ich weiß, daß ich den Weg gewiesen habe. (116)

Es kommt gar nicht darauf an, ob ich im Einzelnen geirrt habe. Irrtümer sind im Beginn eines solchen Unternehmens unvermeidlich. Sie haben nicht mehr Bedeutung als Schreib- oder Druckfehler. (118)

Ich möchte den alten Scherz auf mich anwenden: Wassertrinker und Weintrinker können einander nicht verstehen. Die vor mir waren, die Alten und die Modernen haben Wasser getrunken. Quellwasser wenigstens die Alten durch dialektische Maschinen gehobenes Grundwasser die Neueren. Ich aber trinke und halte feil einen Wein aus reifen und ausgelesenen Trauben, aus unzähligen, die ich gekeltert habe, die sich geklärt haben oder noch klären werden. Mit den Wassertrinkern kann ich nicht streiten. (123)

Natürlich wird man mir einwenden, daß ich durch mein Ziel, das der Nutzen der Menschheit ist, von der Würde und Hoheit der Philosophie herabgestiegen sei; die Betrachtung der Wahrheit sei erhabener als alle Nützlichkeit. Gewiß. Das ist auch meine Meinung. Nur daß ich zu einem Nutzen für die Menschheit gar nicht gelangen kann, wenn ich nicht auf meinem neuen Wege ein wahrheitsgetreues Bild von der Welt erlange. Und um dieses Bild zu ermöglichen, müssen vorher die Affenbilder der Welt zerstört, die Gespenster hinausgejagt sein. Was nicht wahr ist, kann nicht nützlich verwandt werden. So wird der Nutzen meiner Ideen zu einem Probierstein für ihren Wert. (124)

Ich bilde mir nicht ein, alles zu wissen, wie die Scholastiker es sich eingebildet haben. Ich bescheide mich, ohne Skeptiker zu sein. Die Zeit wird kommen, wo man meine Naturanschauung auch auf die Logik, auf das Staatsleben und sogar auf die Moral anwenden wird. (126)

So Baco von Verulam, im Jahre 1620.
LITERATUR - Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie, Leipzig 1910/11