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FRANZ DEUBZER
Die Fiktion des objektiv Faktischen

Moralisierende Sprachkritik
Ideologische Sprachkritik
Sprachkritik als Sprachskepsis
Die hermeneutische Methode
"....wie bei den Sprachskeptikern die Weigerung, die "wirkliche Wirklichkeit" überhaupt noch sprachlich begreifen zu wollen, da jedes, selbst das anschaulichste Sprechen, schon Vermittlung, also Verallgemeinerung bedeutet und damit eine Täuschung."

Fakten gelten gewöhnlich als sakrosankt. Dabei wird übersehen, daß sie, die erst über den Verstand und die Vernunft, über Verstehen und Sprechen sich manifestieren, an sich überhaupt keinen Sinn haben, sondern daß sie sich gleichzeitig mit ihrer Manifestation oder mit ihrer Entdeckung ihre Sinngebung durch den Menschen vollzieht, mehr noch: daß ihre Entdeckung mit ihrer Sinngebung identisch ist. Alles, was ist, unterliegt dieser Sinngebung. Ein Faktum, das ohne Bezug zum Menschen, ohne daß es dieser geistig registrierte, auskäme, wäre nicht nur sinn-los, es ist undenkbar. Deshalb gibt es keine an sich existierenden Fakten.

Solche Fakten sind eine Fiktion, sowohl in den Wissenschaften(1), als auch in jenem Bereich, der das Faktum thematisiert und den Informanten professionalisiert hat: in den Medien. Vor der Folie des  Kommentars  bekommt hier das Faktische der  Nachricht  noch schärfere Konturen. Je unverletzlicher die Faktizität der  Tatsachen  erscheint, desto willkürlicher darf sich die  Meinung  generieren und umgekehrt. Mit beiden Extremen, der Willkürlichkeit der Meinung wie der Authentizität der Fakten, geht aber einher ihre Unerheblichkeit. Denne eine private Meinung wie eine unbestreitbare Tatsache scheren sich nicht um den Informanten, sie können auf ihn verzichten. Also verzichtet er auf sie, indem er sie allenfalls noch als dokumentarische Auffälligkeiten unter der Rubrik "Was es alles gibt" realisiert. Sieht er sich jedoch einer ständig steigenden Masse solcher Auffälligkeiten ausgesetzt, wird er unruhig: jetzt kennt er sich nicht mehr aus.

Auf dieses Warnsignal reagieren die professionellen Tatsachen- und Meinungsvermittler (2) entsprechend. Doch was sie nun, nachdem es so weit gekommen ist, proklamieren, das ist die totale Entmündigung von Menschen, die aus eigenem Verschulden auf die Existenz von  Rezipienten  (= Zu-schauer, Zuhörer), welche Nahegelegtes mechanisch absorbieren, herabgesunken sind, die lediglich als statistische Werte in der Einschaltquote zum Ausdruck ihrer selbst kommen.

Diesem Publikum wird vertiefende Information als Aufklärung offeriert und dabei wird ignoriert, daß solche Information, wenn sie nicht durch ein kritisches, selbstdenkendes Subjekt reflektiert wird, genau ins Gegenteil: in Belehrung, Weisung, Konditionierung umschlägt. Es wird verdeckt, daß die Folgerungen der Leute, die angesichts einer ungehemmten Informationsflut an sich selbst irre werden, Kritik an den Vermittlern, den Medien bedeuten, verdeckt dadurch, daß man diese Kritik kurzerhand auf das chaotische Ausmaß angeblich objektiv vorhandener Informationen bezieht und von sich auch dadurch ablenkt, daß man verspricht, das Chaos übersichtlicher zu gestalten.

Stattdessen zu zeigen, wie alles ursprüngliche, unebene Denken unmerklich applaniert wird von der multimedialen Meinungsmaschinerie, das könnte vielleicht jene Erschütterung auslösen, als welcher der bis dahin mit seinem Selbstbewußtsein zahlende Zuschauer, Zuhörer und Leser gereinigt durch die Erkenntnis seiner Schablonenhaftigkeit hervorgeht, den Verzicht auf die  vollkommene  Informiertheit, diese modernste aller Chimären, dem Verlust seiner Wesenheit vorzieht, und dafür sorgt, daß denen, die öffentlich freiweg verkünden, daß sie Nachrichten "verkaufen", und verschweigen, daß sie es mit ihm genau so machen, aus der Unkenntnis ihres Amts der Ausgang gewiesen wird.


Die Auflösung der Fiktion

Wenn Fakten im Sinn apriorischer Gegebenheiten tatsächlich Fiktion sind, wenn diese Erkenntnis aber weder zur Restauration überlebter Normträger noch zu resignativem Relativitätsdenken führen soll, noch - und das scheint nach dem Vorhergesagten die augenblicklich nächstliegende Reaktion zu sein - zur Bereitschaft, sich Informationennicht nur servieren, sondern zusätzlich vorkauen zu lassen, dann muß die Kontrolle über sie auf andere Weise gesichert werden. Wer mit Fakten konfrontiert wird, muß versuchen, sich über ihren Sinn, ihre Bedeutung, ihr Wirken in dem Zusammenhang, in den sie gestellt sind Klarheit zu verschaffen. Denn eben in dieser Wirkung, nicht in einem illusorischen isolierten Da-Sein liegt ihre Bedeutung.

Abgesehen von dem oben erwähnten Vorwissen bzw. dessen Aneignung liegt es also an jedermanns Intensität des Hörens, Lesens, wie deutlich sich ihm der Sinn einer Information erhellt. Je weniger weit es mit seinem Einsatz, den Sinn zu entschlüsseln, her ist, desto mehr läuft er Gefahr, durch bloße Agglomeration von Informationen sich selbst diesen zu assimilieren, sich buchstäblich zu verzetteln, anstatt sie sich zunutze zu machen. Die oben angesprochene höhere Dummheit ist unweigerlich das Resultat dieser Selbstentfremdung. Sie ist nach den Worten ROBERT MUSILs "die lebensgefährlichste, die dem Leben selbst gefährliche Krankheit des Geistes", und gegen sie sei "durch Vorbild und Kritik" zu wirken.

Dieses Postulat verbunden mit der Erkenntnis, daß sich Dumpfheit immer auch als unreflektierte, subjektivistische Meinung äußert, markiert das Ziel einer nicht-normativen Sprachkritik. Sie unterscheidet nicht zwischen Sprache und Sache, auch nicht zwischen Meinung und Tatsache, sondern zwischen der Präsenz und Absenz von (Selbst-)Bewußtsein.

Weil diese Sprachkritik über die Destruktion unverantworteten oder verschleiernden Sprechens verantwortetes oder erhellendes sichtbar macht, muß sie auch nicht auf einer metasprachlichen Ebene agieren, braucht keine fixen sprach- oder stiltheoretischen Kriterien anzulegen; ihr "Reich" ist "von dieser Sprachwelt" (KARL KRAUS). Weil die sprachkritische Desillusionisierung der Vorspiegelung wie der Einbildung von Tatsachen niemals wie etwa die sprachimmanente Kritik gleichsam auf einer Sprachinsel agiert, sondern rationale, sprachlich vermittelte Motive des Handelns zerstört bzw. aufbaut, eröffnet diese Sprachkritik weite Perspektiven:
"... es ist, als ob die Welt noch nicht entschieden sei, was sie ist, sondern ich durch mein Tun mit der Wirklichkeit meines Tuns noch mitentscheide, was sie sei; durch das, was ich bin und tue, überzeuge ich mich, was in der Welt möglich und wirklich ist; klage ich über die Welt, so weiche ich aus; an dem Punkt, wo ich stehe, liegt allein an mir und meinem Sein im Tun, was sie ist".
Diese Sprachkritik insistiert, daß der Mensch und seine Verhältnisse nicht an sich, sondern an seinem Bewußtsein von ihnen und damit an seinem Sprechen über sich und sie erkennbar sind; sie insistiert - und darin kulminiert ihr Verständnis von  Sprache  - "daß Sprache weder über noch unter dem Menschen ist, sondern seine Darstellung" (ARNTZEN). Über das existenzielle Fundament, auf das sich diese Sprachkritik damit beruft, soll im nächsten Abschnitt besprochen werden.


Die existenzielle Grundlage der Sprachkritik

Analog der Definition, die sich nach dem "Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte" (1958) für die existenzielle Literaturwissenschaft ergibt, ließe sich für eine  existenzielle  Sprachkritik" sagen: "Eine existenzielle (Sprachkritik) bestrebt sich ... in ihrer skeptisch-realistischen Haltung, alle idealistischen Sublimierungen zu durchschauen und alle Illusionen des  man  als solche zu entlarven. Dabei komme es nicht darauf an, "ob es sich bei den ihm (dem Begriff des  man ) entsprechenden Illusionen um solche im Autor oder im Forschenden handelt ... das Entlarven ist eine Forderung, die der Forschende in Bezug auf beide Kontrahenten zu erfüllen hat.

An dieser Definition, die sich vor allem auf Gedanken KIERKEGAARDs und HEIDEGGERs beruft, muß man zwei Aspekte unterscheiden, die für eine auf existenziellen Voraussetzungen basierende Sprachkritik wesentlich insofern, als sie der eine befruchtet, der andere aber behindert.

Der erste, fruchtbare Aspekt ist: daß der Sprachkritiker, indem er das Sprechen eines anderen kritisiert, nicht nur über dieses, sonder auch über seine eigenes Sprechen sich klar werden muß. Da nämlich Gegenstand und Mittel sprachkritischer Untersuchung von der selben Art sind, muß das kritische Subjekt damit rechnen, daß es bzw. sein Ausdruck ihrerseits kritisiert werden, wenn das kritische Objekt die Kompetenz des kritischen Subjekts übersteigt. Das kritische Objekt ist also keineswegs wehrlos; es kann das kritische Subjekt in eine Lage bringen, in der es sich ausnimmt, "wie wenn einer im Schlafrock und Pantoffeln zu Gerichte säße" (SCHOPENHAUER)

Diesem Bumerangeffekt sucht eine Auffassung von Sprachkritik vorzubeugen, nach der "sich sowohl die Kritik an der Sprache als auch am individuellen Sprecher (verbietet)", wenn "die Wortbildung, die Wendung oder die syntaktische Fügung der Äußerung adäquat ist" (DIECKMANN). Sprachkritik legitimierte sich dadurch nur als negative. Doch das Defizit der sprachisolierenden und -normierenden Sprachkritik, nämlich ein gleichsam kuratorisches Verhältnis zur Sprache pflegen und damit von vornherein auszuschließen, daß die  Irritation , also der auslösende Faktor sprachkritischer Reflexioon, auch einen Sprachmangel im kritischen Subjekt anzeigen kann, dieses Defizit wird nur teilweise behoben, wenn Kritik nur als Korrektur, allenfalls, allenfalls als Gegendarstellung, nicht aber als Bestätigung und Ergänzung adäquater Äußerungen vollzogen wird.

Eine sich ihrer Bedingtheit bewußte Sprachkritik wird sich in einem solchen Fall nicht zurückziehen, sondern sich über eine positive Kritik, das heißt über die Reflexion eigener sprachlich- gedanklicher Unzulänglichkeiten die Verunsicherung fruchtbar machen, die von angemessenem, erhellendem Sprechen ausgeht. Sie trägt damit nicht nur als negative Kritik zum Verständnis bei, sie bringt sich als positive Kritik dazu, auch selbst zu verstehen, wobei hier - mit SARTRE zu sprechen - "verstehen heißt, sich ändern, über sich selbst hinausgehen".

Eine solche Sprachkritik muß sich darüber im klar sein, daß die Relevanz ihrer Ergebnisse davon abhängt, inwieweit die Individualität, die Vereinzelung des Sprachkritikers, die wie oben besprochen naturnotwendige Voraussetzung seines Vorgehens ist, nur als dessen Mittel, nicht aber als sein Zweck betrachtet wird, mit anderen Worten: in welchem Maße diese vorgegebene Vereinzelung allgemeines Wissen intendiert.

Damit ist der zweite, restriktive Aspekt jener Defintion angesprochen. Verharrte der Sprachkritiker darin, alles gemeine Wissen als Sublimation oder Illusion zu werten und es nach Maßgabe hermeneutischer Kriterien zu zerstören, dann argumentierte er ebenso einseitig wie jener Materialist, der dem Gegner vom Standpunkt seiner materialistischen Sprachkritik vorwirft, er veranstalte nur ein "Glasperlenspiel für Müßige". Ebenso unersprießlich für eine Sprachkritik "des bei seiner Rechnung sich selbst vergessenden Subjekts" (SCHOPENHAUER) ist eine Kritik, die ihre Unabhängigkeit von den Illusionen des  man  unter Beweis stellen will. Denn nicht darauf kommt es an, sondern darauf, die Abhängigkeit des allgemeinen Wissens vom geschichtlich existierenden, in bestimmten Zeiten und unter bestimmten Bedingungen lebenden Subjekts zu beweisen.

Voraussetzung dafür ist die Anerkennung der Geschichtlichkeit von "Sache" und "Sprache", zusammengenommen: die Anerkennung der Geschichtlichkeit des "Sinns" und damit der Veränderlichkeit des allgemeinen Wissens. Es geht nicht darum, allgemeines Wissen zu verwerfen, sondern darum, es ständig von neuem zu bestätigen oder zu revidieren, indem man es der Kritik dieses Subjekts unterzieht. Denn es ist nicht der Feind, sondern im Gegenteil der Garant des allgemeinen Wissens. Genau das würde vom Sprachkritiker, der die Illusionen des  man  entlarven wollte, verwechselt.

Am Ende seines Unterfangens, seine privaten Vorstellungen aus Prinzip gegen die aller Anderen abzugrenzen, gleichsam die "individua" der eigenen Natur gegen die "genera und species" (LICHTENBERG) einer allgemeinen Vernunft auszuspielen, stünde wie bei den Sprachskeptikern die Weigerung, die "wirkliche Wirklichkeit" überhaupt noch sprachlich begreifen zu wollen, da jedes, selbst das anschaulichste Sprechen, schon Vermittlung, also Verallgemeinerung bedeutet und damit für den individualistischen Sprachkritiker eine Täuschung.

Die auf der individuellen Existenz des Sprechers beruhende Sprachkritik hingegen - will sie sinnvoll sein - erfordert eine Subjektivität, die nicht sich, sondern eine allgemeine Erkenntnis zu ihrem Ziel hat, die die bis dahin nur objekthafte, angeschaute und deshalb noch unerkannte Realität, welche dem MARXschen "Traum von einer Sache" entspricht, zum Bewußtsein ihrer selbst bringt. Eine Sprachkritik, die dieser Forderung nachkommt, ist darum jenem Schriftsteller verpflichtet, der sich vor mehr als einem halben Jahrhundert wünschte,
"es möge endlich auch meinen dümmsten Lesern dämmern, daß der Autor, der mehr von sich selbst gesprochen hat als ein Dutzend über die Welt, weniger seine eigene Sache führte als ein Dutzend von solchem Dutzend. Daß ich bereit war, jeden anderen Fall von geistiger Auseinandersetzung mit der Welt, der eben das, worauf es ankam, besser zur Gestalt brächte, für den meinen zu setzen."
Es handelt sich um die Sprachkritik von KARL KRAUS.
LITERATUR - Franz Deubzer, Methoden der Sprachkritik, Münchner Germanistische Beiträge,
München 1980
    Anmerkungen
    1) Vgl. FEYERABEND: "Bei genauerer Untersuchung stellt sich sogar heraus, daß die Wissenschaft überhaupt keine  nackten  Tatsachen kennt, sondern daß alle Tatsachen, die in unsere Erkenntnis eingehen, bereits auf bestimmte Weise gesehen und daher wesentlich ideell sind."
    2) Vgl. hierzu eine Reihe von Zitaten die für sich selbst sprechen
      "Der österreichische Schriftsteller HEIMITO von DODERER hat in seinen Tagebüchern häufig von einer  zweiten Wirklichkeit  gesprochen. Gemeint ist damit eine auf unsere Oberflächenwahrnehmung spezifizierte Scheinwirklichkeit von verminderter Konzentration, hergestellt und vermittelt von den Medien und anderen Schaltstellen unseres öffentlichen Lebens. Diese zweite Wirklichkeit ist eine verträglichere, in Kategorien, Bewertungsskalen und Chiffren transformierte, gekürzt auf eine komplexe Halluzination. Sie ist eine Übereinkunft, ein allgemeines Äquivalent der Dinge wie das Geld." (SZ 1977)
      "Aktuelle Tagesnachrichten allein machen blind für die Hintergründe und Zusammenhänge unseres Zeitgeschehens. Darum wurde die  Deutsche Zeitung  mit ihren kritischen Kommentaren und sachverständigen Analysen für viele engagierte Bürger zur wöchentlichen Pflichtlektüre." (Fischer-Welt-Almanach 1977)
      "Ich glaube, daß der Zuschauer erwartet, die Informationen mundgerechter verpackt zu bekommen ... Der Zuschauer legt Wert auf die ... vertiefenden Informationen, läßt sich nicht mehr abspeisen mit unvollkommenen Informationsabrissen und Politikerverlautbarungen, die meist nur Eigeninteresse vertreten und keine allgemeinen Informationen sind ... Ganz sicher ... und das machte den Ruf der  Tagesschau  schon bisher aus, haben wir immer ein Bild des Zustands dieser Welt geliefert ... Wir sehen uns immer in einer Konkurrenzsituation ... Es muß der Ehrgeiz jeder Redaktion sein, handwerklich besser zu sein als die anderen. Ohne Leistungsstreben sind auch die Nachrichten nicht zu verkaufen." (DIETER GÜTT, SZ 1978)