![]() |
![]() ![]() ![]() ![]() |
|||
Lichtenberg - Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs
Ordnung entspricht nach LICHTENBERG nicht nur unserem ästhetischen Empfindungen. Die sprachliche Ordnung des Menschen, individua metaphorisch zu genera und species zusammenfassen zu müssen (1), ist physiologisch bedingt durch den Bau seines Gedächtnisses, das LICHTENBERG vorab als Körpervermögen und Leibgeschehen, erst in zweiter Linie als Erinnerungsvermögen des Ichs konzipiert:
Es ist nicht so verdrießlich, ein Phänomen mit etwas Mechanik und einer starkten Dosis von Unbegreiflichem zu erklären, als ganz durch Mechanik, das heißt die docta ignorantia mach weniger Schande, als die indocta. Alle Bewegung in der Welt hat ihren Grund in etwas, das keine Bewegung ist, warum soll die allgemeine Kraft nicht auch die Ursache meiner Gedanken sein, so gut als sie die Ursache von Gährung ist?"
Um unserem Gedächtnis etwas einzuverleiben, suchen wir daher immer einen Sinn hinein zu bringen, oder eine Art von Ordnung; daher genera und species bei Pflanzen und Tieren, Ähnlichkeiten bis auf den Reim hinaus. Eben dahin gehören auch unsere Hypothesen; wir müssen welche haben, weil wir sonst die Dinge nicht behalten können. Dieses ist schon längst gesagt, man kommt aber von allen Seiten wieder darauf. So suchen wir Sinn in die Körperwelt zu bringen, die Frage aber ist, ob Alles für uns lesbar ist. Gewiß aber läßt sich durch vieles Probieren und Nachsinnen auch eine Bedeutung in etwas bringen, das nicht für uns, oder überhaupt gar nicht lesbar ist. So sieht man im Sande Gesichter, Landschaften und dergl., die sicherlich nicht die Absicht dieser Lagen sind. Symmetrie gehört auch hierher, imgleichen die Stufenleiter in der Reihe der Geschöpfe; - alles das ist nicht in den Dingen, sondern in uns. Erst nachdem NIETZSCHE die Abkürzungsprozesse im Gang der Erkenntnisgeschichte, wie er sich aus den Wegmarken ihrer sprachlich bedingten Vorurteile und Irrtümer abzeichnet, auf ihren Schauplatz zurückgeführt und kritisiert hat, kann er dazu übergehen, Abkürzungen seinerseits produktiv zu wenden und aus strategischem Vorsatz zu betreiben. Philosophie, "so wie ich sie allein noch gelten lasse", bezeichnet NIETZSCHE im Spätwerk
Diese beiden Schritte - Zeitmangel und Wahrung des Lebens - bestimmen auch den Gang von NIETZSCHEs Erkenntnisgeschichte: Immer weiter vererbte "irrtümliche Glaubenssätze" sind schließlich "fast zum menschlichen Art- und Grundbestand" geworden, weil sie sich als "nützlich und arterhaltend" erwiesen haben. In diesem Dienst steht auch die Logik; sie ist aus der Unlogik, nicht aus der Wahrheit entstanden, die dem Leben weniger förderlich ist, denn
Im Spätwerk sprengt NIETZSCHE den Zirkel, seine Sprachkritik historisch zu begründen, obwohl gerade die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Erkenntnis ihre gröbsten und zugleich am meisten verkannten Irrtümer hervorgebracht hat, indem er dazu übergeht, Geschichte rhetorisch zu inszenieren und Abkürzungen im Dienst der genealogischen Geschichtsschreibung zu instrumentalisieren. Erkenntnis als - rhetorisch bedingte - "Abkürzung eines geistigen Vorgangs zum Zeichen", Historie als "Versuch das HERAKLITische Werden (...) in Zeichen abzukürzen": dieselbe Formel für zwei in NIETZSCHEs Denken nicht unmittelbar aufeinander bezogene Probleme. Ihr liegt ein doppelt verschränktes Spannungsverhältnis zwischen Rhetorik und Genealogie zugrunde: Ihrer (vermeintlichen) gegenseitigen Ausschließlichkeit steht die gemeinsame anthropologische Dimension gegenüber. Der einzelne entkommt weder der Geschichte noch der Rhetorik; gleichzeitig kann er die Geschichte nur mit rhetorischen Mitteln beschreiben. Damit erwächst die Rhetorik nicht nur "aus einem Volke, das noch in mythischen Bildern lebt, u. noch nicht das unbedingte Bedürfnis nach historischer Treue kennt"; unter den verschärften erkenntnistheoretischen und -kritischen Bedingungen von NIETZSCHEs Denken gibt die genealogische Geschichtsschreibung das Bemühen um historische Objektivität als Illusion auf und geht dazu über, sich der Geschichte durch vorsätzliche Fiktionen im Dienst ihrer Interpretationen zu bemächtigen. Subjekt und Prädikat, Ursache und Wirkung Zwei - von LICHTENBERG und NIETZSCHE mit Nachdruck kritisierte - Irrtümer wiegen die Geschichtsschreibung in der Jllusion historischer Objektivität: der Glaube an die Selbstmächtigkeit des Subjekts und die Verwechslung von Ursache und Wirkung. Beide Irrtümer sind durch das Kausalitätsgefüge der Grammatik bedingt, die den Ausdruck allen Geschehens in die Subjekt -Prädikat -Objekt -Struktur zwingt und für jedes Tun unabdingbar einen Täter voraussetzt; die Sprache erlaubt nicht, eine bloße Tätigkeit ohne Urheber oder Ursache zu denken:
In jedem Urteile steckt der ganze volle tiefe Glauben an Subjekt und Prädikat oder an Ursache und Wirkung; und dieser letzte Glaube (nämlich als die Behauptung daß jeder Wirkung Tätigkeit sei und daß jede Tätigkeit einen Täter voraussetze) ist sogar ein Einzelfall des ersteren, so daß der Glaube als Grundglaube übrig bleibt: es gibt Subjekte".
NIETZSCHE hat LICHTENBERGs Sprachkritik an der grammatikalischen Bedingtheit der kartesianischen Formel cogito ergo sum noch radikalisiert: Als Setzung des Denkens entlarvt er das "Ich" als weitere " regulative Fiktion, mit deren Hilfe eine Art Beständigkeit, folglich Erkennbarkeit in eine Welt des Werdes hineingelegt, hineingedichtet wird". NIETZSCHE erhellt diese Kritik im Anschluß an LICHTENBERG durch die Analogie zwischen Denken und Blitzen: "Wenn ich sage der Blitz leuchtet, so habe ich das Leuchten einmal als Tätigkeit und das andere Mal als Subjekt gesetzt: also zum Geschehen ein Sein supponiert, welches mit dem Geschehen nicht eins ist, vielmehr bleibt, ist, und nicht wird." In der Verbindung zwischen Denken und Blitzen mündet NIETZSCHEs Kritik in vier Aphorismen der beiden Bücher Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral. Quintessenz: Erst die "Trennung des Tuns vom Tuenden" löst das Ineinander eines Prozeßes des Werdens in ein Nacheinander kausaler Bedingtheit auf: "diese alte Mythologie hat den Glauben an Ursache und Wirkung festgestellt, nachdem er in den sprachlichen grammatikalischen Funktionen eine feste Form gefunden hatte". Die Verwechslung von Ursache und Wirkung, zu der die Grammatik verführt, nährt schließlich auch die Illusion der menschlichen Willensfreiheit. Doppelt streicht sich NIETZSCHE in den Vermischten Schriften LICHTENBERGs Bemerkung an:
![]() LITERATUR - Martin Stingelin, Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs, Friedrich Nietzsches Lichtenberg Rezeption im Spannungsfeld zwischen Sprachkritik und historischer Kritik, München 1996
1) Vgl. LICHTENBERG Vermischte Schriften: "Es ist ein ganz unvermeidlicher Fehler aller Sprachen, daß sie nur genera von Begriffen ausdrücken, und selten das hinlänglich sagen, was sie sagen wollen. Denn wenn wir unsere Wörter mit den Sachen vergleichen, so werden wir finden, daß die letzten in einer ganz andern Reihe fortgehen, als die ersten. Die Eigenschaften, die wir an unserer Seele bemerken, hängen so zusammen, daß sich wohl nicht leicht eine Grenze zwischen zweien wird angeben lassen. Die Wörter hingegen, womit wir sie bezeichnen, sind nicht so beschaffen, und zwei aufeinander folgende und verwandte Eigenschaften werden durch Zeichen ausgedrückt, die uns keine Verwandtschaft zu erkennen geben. Man sollte die Wörter philosophisch deklinieren, das ist, ihre Verwandtschaft von der Seite durch Veränderungen angeben können. In der Analysis nennt man einer Linie a unbestimmtes Stück x, das andere nicht y, wie im gemeinen Leben, sondern a - x. Daher hat die mathematische Sprache so viele Vorzüge vor der gemeinen." |