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Denkmittel der Mathematik [im Dienst der exakten Darstellung erkenntniskritischer Probleme] (1)
Hier lassen Sie uns verweilen! Die eben erwähnte Gepflogenheit gibt dem, wenn ich so sagen darf, Schreibtechnischen der Bücher in einer Periode, die man roh von DESCARTES bis auf WOLFF rechnen mag, einen ganz besonderen klaren und ruhigen Aspekt - für das Auge des Fachmannes nämlich. Für alle Augen war dies nicht der Fall, und das zeigt sich daran, daß in der nunmehr folgenden Epoche der Popularphilosophie andere Beispielgattungen, nicht zum Vorteil der Klarheit, beliebt wurden. Diese griffen dann auch in die ernsthafte Philosophie über, und Denker, die in den Traditionen der alten Schule herangebildet waren, wie MAIMON, hatten Grund, sich über die wahnsinnigen Beispiele zu beschweren, durch die REINHOLD etwa und die Seinen die Probleme verdunkelten, statt sie zu erhellen. Es ist für mich kein Zweifel, daß die Alten hier durchaus auf dem richtigen Weg waren, denn, um das Eine gleich hier zu bemerken: was einmal Bild, Beispiel oder Gleichnis war, dessen verkürzte Perspektive geht gar leicht als Kunstausdruck in die philosophische Sprache über; ich erinnere hier nur an das von LEIBNIZ erfundene, und heute viel gebrauchte, aber dank einer Vermengung seines technischen mit seinem anfänglichen Bedeutungssinn meist mißverstandenen gebrauchte Bild der Irrationalität". Allein die mathematischen Begriffe aber haben um sich keine Sphäre der Unbestimmtheit, daher ist es allein bei ihrer Verwendung möglich, zu einsinnigen Beispielen zu kommen; Verwirrungen aber wie die eben erwähnte, haben nur im Subjekt und nicht in der Sache ihren Grund. Was ich vortragen werden, ist dann auch nichts weiter, als ein bewußtes Zurückgreifen auf die abgebrochene Tradition und eine Weiterbildung dieser, insofern als ich mir erlauben werden, ein bestimmtes sehr allgemeines, aber allerdings auf mathematischem Boden entdecktes Hilfsmmittel des Denkens zu entwickeln, und durch dieses gewisse Verhältnisse der Transzendentalphilosophie darzustellen. Dieses Verfahren scheint sich zunächst deshalb nicht als ein neues Hilfsmittel für die Praxis der philosophischen Darstellung zu empfehlen, weil ihm die notwendige Entfaltung fachwissenschaftlicher Hilfsmittel eine gewisse Umständlichkeit gibt. Zweierlei Vorteil aber scheinen mir für diese reichlich zu entschädigen. Erstens wird der verzögerte Anmarsch belohnt durch die ungemein kompendiösen und lichtvollen Formulierungen auch unübersichtlicher Probleme, zu denen man so kommen kann. Zweitens eröffnet sich auch ein vielverheißender Ausblick auf gewisse heuristische Vorteile, über die ich mich aber nur durch eine Andeutung erklären kann. Es ist ein, in der Disziplin der Ausdehnungslehre geltendes Gesetz, als gleich sei all das anzusehen, was auf die gleiche Art und Weise erzeugt worden ist. Man kann dieses Gesetz von der Gleichheit aller Dinge, die gewissermaßen das gleiche Skelett von beziehenden Funktionen haben, das Gesetz der formalen Analogie nennen, und es auf die exakte Naturwissenschaft in der Gestalt anwenden, daß man all diejenigen Gebiete des Naturgeschehens nach der gleichen Regel behandelt, die, seien sie ansich, was sie wollen, in ihren Formeln die gleiche Konfiguration von Gesetzlichkeiten vorstellen. Man sieht, daß es hier nur auf die Bejahung oder Leugnung von Beziehungen zwischen Eigenschaften ankommt. Die Identität von Eigenschaften vermittelt dann jene teilweise Ähnlichkeit des einen Erscheinungsgebietes mit dem anderen, die es bewirkt, daß jedes der anderen illustriert. So sind etwa zwei, materialiter so grundverschiedene Dinge, wie das NEWTONsche Gravitationsgesetz und die Gesetze der Wärmeleitung verbunden durch gewisse Identitäten zwischen den beide Gebiete beherrschenden Formeln. Daher können wir hier durch geeignete Substitutionen die Lösung eines jeden Problems der Anziehungslehre in die eines Problems der Wärmeleitung verwandeln. Das ist aber nun das, worauf ich hinaus will. Wir haben auf vielen Gebieten der Philosophie Probleme, die der Form nach mit gewissen mathematischen Problemen verwandt sind; ich nenne nur die der Gleichheit, der Identität, der absoluten und relativen Stellvertretung der Axiome etc., für die man nach diesem Verfahren wichtige Ergebnisse ableiten könnte. Doch, so hohen Ehrgeiz hat der hier vorzulegende Versucht nicht, und ich möchte aus dem Gesagten es nur als eine nützliche Erfahrung feststellen, daß Methoden, die ursprünglich nur für ein ganz bestimmtes Sondergebiet der Wissenschaft ausgebildet worden sind, immer dann mit Nutzen auf ein anderes Gebiet übertragen werden können, wenn für dieses neue Gebiet dieselbe innere Form charakteristisch ist, die für das alte charakteristisch war. Die folgenden Überlegungen beschäftigen sich des Näheren damit, einige erkenntniskritische Bemerkungen, die GAUSS über die Metaphysik (d. h. hier die begriffliche Struktur) der imaginären Größen gemacht hat, für die Transzendentalphilosophie zu nutzen, da mir in dieser Disziplin Verhältnisse vorzuliegen scheinen, die Dank einer formalen Analogie die Anwendung der von GAUSS selbst schon sehr allgemein ausgesprochenen Gedanken gestatten. Übrigens ist eine solche Einführung von Hilfsmitteln, die die Mathematik zum eigenen Gebrauch ausgebildet hatte, in die Philosophie nichts Neues. KANT selbst, der Begründer der Transzendentalphilosophie, hat einst in seinem Versuch über die negativen Größen den Gegensatz von logischer und realer Repugnanz [Verstoß gegen den Satz vom Widerspruch - wp], und damit implizit den Gedanken einer logischen und sinnlichen Determinationsart, und damit den Gegensatz von transzendentaler Ästhetik und Logik und damit einen, den Grundgedanken der reinen Vernunft entdeckt. Kommt aber in den Verhältnissen des Positiven und Negativen, d. h. in den Verbindungsverhältnissen der zwei, in einer Dimension möglichen Richtungen, ein wichtiger Begriff der kantischen Erkenntniskritik zur reinen Darstellung - warum sollte der Begriff des Imaginären, d. h. die Verbindung mehrerer Dimensionen nicht auch Einiges verheißen? Ich möchte - vorgreifend - sagen, worin ich diese Verheißung erblicke. Der theoretischen Physik ist es durch eine solche Vereinigung mehrerer Dimensionen (oder sagen wir vorsichtiger "Qualitäten"?) in einen Ausdruck möglich geworden, für ihre Hauptbegriffe sogenannte Dimensionsformeln aufzustellen. Diese Dimensionsformeln erlauben es, irgendeinem Ausdruck sofort seine rechnerischen Eigenschaften abzulesen und z. B. vorauszubestimmen, mit welchen anderen Ausdrücken er zusammen in einer Gleichung stehen kann, mit welchem nicht. Der Dimensionsbegriff hat also den ökonomischen Nutzen, daß man ganzen Klassen von Begriffen sofort ihre formalen Eigenschaften ansehen kann, und den zensorischen, daß man von irgendeiner Gleichung sofort zu sagen vermag, ob sie eine begrifflich mögliche Fragestellung enthält oder nicht. Auch die Transzendentalphilosophie aber hat Bestimmtheiten, die den Dimensionen der Mathematik vollkommen gleichläufig sind. Wenn es nun auch möglich sein sollte, die Grundbegriffe der Transzendentalphilosophie auf Formtypen zu bringen, die das gleiche Amt ausfüllen würden wie jene Dimensionsformeln, durch die die Mechanik ihre Grundbegriffe ausdrückt, dann müßte es auch möglich sein, ganz abstrakt zunächst einmal die Leistungsfähigkeit der einzelnen Formtypen zu bestimmen. So würden sich mit einem Schlag die Streitigkeiten erledigen über die Zuständigkeit der Denkbegriffe als solcher, über die Zuständigkeit der in der Anschauung konstruierten Denkbegriffe, über die Zuständigkeit der durch Anschauung auf einen Gegenstand bezogenen Denkbegriffe. Und weiter! Eine qualitative Unmöglichkeit in den Gleichungen der Mechanik etwa tritt sofort dann zutage, wenn man für die verwendeten Grundbegriffe ihre Dimensionsausdrücke einsetzt, wodurch sich dann herausstellt, daß Größen verschiedener Dimension fälschlich identifiziert worden sind. Ebenso müßte die Ausbildung dieses neuen Hilfsmittels der Transzendentalphilosophie es erlauben, jedes transzendental unmögliche Problem zu durchschauen als eine falsche Identität zwischen Formtypen verschiedener Ordnung. So könnte man zu einer prinzipiellen Ansicht jener Gruppe von Problemen kommen, die KANT die antinomischen nennt, und von denen er selbst nur einige zufällig herausgegriffene behandelt, die durch die WOLFFische Philosophie bedeutsam geworden waren. Die Antinomien würden sich dann, mit MAIMON zu sprechen, ausweisen als Versuche, ein Verhältnis der Bestimmbarkeit zwischen Begriffen anzusetzen, die in keinem Verhältnis der Bestimmbarkeit zueinander stehen können. Dieser bescheidene Vorsatz: eine neue Art der Bezeichnung einzuführen, scheint mir in seinen Folgen nicht ohne Belang zu sein. Hat es sich doch oft gezeigt, daß in der Geschichte der Wissenschaften ein neues Wort, eine neue, viele Einzelfälle zu einer einheitlichen Gruppe zusammenfassende Bezeichnung, auch sachfördernd gewirkt hat. Der Gang der Untersuchung aber soll dieser sein: Zuerst wollen wir GAUSS' Metaphysik des Imaginären durch ein Anführen seiner eigenen Bestimmungen kennenlernen, und dann zeigen, daß die GAUSS' Deutungsart nicht auf das mathematische Gebiet beschränkt ist. Schließlich sollen einige Der Denkobjekte betrachtet werden, auf die ihrer analytischen Natur nach, die GAUSSschen Bestimmungen anwendbar sind. Dem jetzt anzuwendenden GAUSS-Zitat möchte ich eine Bemerkung vorausschicken. Nach der hier zu vertretenden Ansicht stellt GAUSS' Metaphysik des Imaginären eine sehr allgemeine Anwendung dar, fiktive Begriffe aufzulösen. Das Auftreten der genannten Begriffe ist nicht auf die Mathematik beschränkt, und die Art sie aufzulösen auch nicht. Durch diese fiktiven Begriffe aber wird ganz abstrakt eine Möglichkeit beschrieben, nach der sich Denkobjekte gegeneinander verhalten können, ohne zunächst darauf zu sehen, ob eine solche Möglichkeit von konkreten Verhältnissen der Anschauung und Erfahrung realisiert wird oder nicht. Diese Möglichkeit beschreibt der erste Teile des GAUSS-Zitates. Sein zweiter zeigt an einem Spezialfall, daß die Anschauung tatsächlich die vordem beschriebene Möglichkeit realisiert. GAUSS gibt die Metaphysik eines, allbereits von WALLIS zu Erläuterungszwecken gebrauchten Bildes, wenn er schreibt:
Der Mathematiker abstrahiert gänzlich von der Beschaffenheit der Gegenstände und dem Inhalt ihrer Relationen; er hat es bloß mit der Abzählung und Vergleichung der Relationen unter sich zu tun: insofern ist er ebenso, wie der den durch +1 und -1 bezeichneten Relationen, ansich betrachtet, Gleichartigkeit beilegt, solche auf alle vier Elemente +1, -1, +i und -i zu erstrecken befugt. Zur Anschauung lassen sich diese Verhältnisse nur durch eine Darstellung im Raum bringen, und der einfachste Fall ist, wo kein Grund vorhanden ist, die Symbole der Gegenstände anders als quadratisch anzuordnen, indem man nämlich eine unbegrenzte Ebene durch zwei Systeme von Parallellinien, die einander rechtwinklig durchkreuzen, in Quadrate verteilt, und die Durchschnittspunkte zu den Symbolen wählt. Jeder solcher Punkte A hat hier vier Nachbarn, und wenn man die Relation des A zu einem benachbarten Punkt durch +1 bezeichnet, so ist die durch -1 zu bezeichnende von selbst bestimmt, während man, welche der beiden andern man will, für +1 wählen, oder den sich auf +i beziehenden Punkt nach Gefallen rechts oder links nehmen kann. Dieser Unterschied zwischen rechts und links ist, sobald man vorwärts und rückwärts in der Ebene, und oben und unten in Bezug auf die beiden Seiten der Ebene einmal (nach Gefallen) festgesetzt hat, in sich völlig bestimmt, wenn wir gleich unsere Anschauung dieses Unterschiedes anderen nur durch eine Nachweisung an wirklich vorhandenen materiellen Dingen mitteilen können. Wenn man aber auch über letzteres sich entschlossen hat, sieht man, daß es doch von unserer Willkür abhing, welche von den beiden in einem Punkt sich kreuzenden Reihen wir als Hauptreihe, und welche Richtung in ihr man als auf positive Zahlen sich beziehend ansehen wollten; man sieht ferner, daß wenn man die vorhin als +i behandelte Relation für +1 nehmen will, man notwendig die vorher durch -1 bezeichnete Relation für +i nehmen muß. Das heißt aber, in der Sprache der Mathematiker, +i ist die mittlere Proportionalgröße zwischen +1 und -1 oder entsprich dem Zeichen √-1: wir sagen absichtlich nicht: die mittlere Proportionalgröße, denn -i hat offenbar den gleichen Anspruch. Hier ist also die Nachweisbarkeit einer anschaulichen Bedeutung von √-1 vollkommen gerechtfertigt, und mehr bedarf es nicht, um diese Größe in das Gebiet der Gegenstände der Arithmetik zuzulassen. (2) Hätte man +1, -1, √-1 nicht eine positive, negative, imaginäre (oder gar unmögliche) Einheit, sondern etwa eine direkte, inverse, laterale Einheit genannt, so hätte von einer solchen Dunkelheit kaum die Rede sein können." In diesem Verhältnis stehen die "Seiten" des kantischen Erfahrungsbegriffes zueinander. - Erkenntnis ist nach KANT zunächst immer ein zweidimensionaler Begriff; sie entsteht durch das Zusammenwirken von anschaulichen und logischen Komponenten. Damit aber nicht genug: das in der Anschauung konstruierte Objekt muß auch bezogen werden auf das nicht erscheinende Ding-ansich, das es für uns darstellt. Erfahrung ist dann in der Schulsprache geredet, ein zweidimensionaler Begriffssatz, der durch ein Urteil auf ein transzendentes Existentiales bezogen wird. Nennen wir das Gebiet der zur Logik lateralen [von der Seite ausgehend - wp] Größen, d. h. das Gebiet der von den logischen der Art nach verschiedenen und doch apriorischen Größen "Sinnlichkeit", so haben alle Erkenntnisurteile eine Form, die vorschreibt: betrachte ein Gedankending. Ist dies durch Begriffe der Sinnlichkeit ausdrückbar, so denke ich noch einmal in der anderen Dimension. Dieser konstruierte Begriff kann entweder auf einen Gegenstand bezogen sein oder nicht. Ist er nicht auf einen Gegenstand bezogen, meint er gewissermaßen nicht über sich hinaus, so haben wir das Gebiet vor uns, das man gegenwärtig gern das der Ideale nennt: die freie Mathematik. Ist er auf einen Gegenstand bezogen, so tritt zu den bisherigen noch ein neues Glied hinzu, mit einem Operationssymbol, das zum Übertritt in eine neue, den beiden bisherigen laterale Dimension auffordert. Ein Urteil dieser Form allererst ist also für KANT ein Erkenntnisurteil, und allererst ein Gegenstand eines solchen Urteils ist eine Erfahrung. Jene dritte Dimension des Erfahrungsurteils aber spreche ich als eine wahre Dimension und nicht bloß als eine Qualität an deshalb, weil sie eine Bestimmtheit ist, die den zwei anderen: Denken und Anschauung in einem System, dem der Erfahrung zugeordnet ist. Der methodische Nutzen solcher Bestimmungen scheint mir, wie gesagt, der zu sein, daß es so möglich wird, den Begriff der Dimension als ein Symbol in die Transzendentalphilosophie einzuführen - eine Neuerung, die es erlauben würde, jedem Begriff sofort seine Zuständigkeit und Arbeitsfähigkeit anzusehen, die es verhüten würde, daß Begriffe verschiedener Dimension in ein Verhältnis gesetzt werden. Dies nun gibt zunächst eine grundsätzliche Ansicht der interessanten Verhältnisse der Transzendentalphilosophie, die KANT die antinomischen genannt hat. Antinomische Verhältnisse, so können wir jetzt sagen, treten immer dann auf, wenn die Zulässigkeit der transzendentalen Dimensionsgleichungen dieser Verhältnisse strittig wird. Muß diese Zulässigkeit endgültig verneint werden, so haben wir den Typ der sogenannten mathematischen Antinomien, kann sie bejaht werden, so haben wir den Typ der sogenannten dynamischen Antinomien. Ich möchte bei den mathematischen Antinomien nicht länger verweilen, sondern nur an der ersten Antinomie, die von der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt nach Raum und Zeit handelt, das Stattfinden der falschen Dimensionsgleichung nachweisen. In unserer neugeschaffenen Sprache geredet sagt die Thesis: die Behauptung der Unendlichkeit der Welt ist eine falsche Dimensionsgleichung. "Unendlichkeit" kann nämlich zunächst nicht als ein Maximum, eine Grenze gedacht werden. Es kann vielmehr nur dann ein sinnvolles Prädikat sein, wenn es dadurch ein in sich abgeschlossenes Prädikat ist, daß seine Bestandteile ein aussagbares Verhältnis zur Einheit haben, denn eine Eigenschaft, die in jedem Augenblick ihren Zustand ändert, ist nicht prädikabel. Die Art aber, darinnen die bestrittene Behauptung den Unendlichkeitsbegriff auslegt , besteht gerade darin, seine Unabgeschlossenheit zu betonen. Das aber ergibt eine falsche Dimensionsformel, denn nun steht auf der einen Seite ein echter Erkenntnisbegriff, auf der anderen Seite ein Begriff, der per Definition nie ein Erkenntnisbegriff werden kann; mithin ist die von der Antithesis uns angemutete Gleichung falsch. - Dagegen sagt die Antithesis: im Gegenteil "die Welt ist endlich" ist eine falsche Dimensionsgleichung. Das Unzulässige der Definition steckt in der für den Weltenlauf geforderte Grenze. Wäre die Welt nämlich endlich, so müßte sie von einem leeren Raum und einer leeren Zeit eingegrenzt sein. Es hat aber der Begriff "Welt" die Dimension eines Erkenntnisbegriffs, "leerer Raum" und "leere Zeit" dagegen sind keine Gegenstände möglicher Erfahrung, haben daher Bestimmungen, die von denen der Erkenntnisbegriffe verschieden sind. Da mithin der Satz "die Welt ist endlich" Begriffe verschiedener Dimension in ein Verhältnis setzt, so ist er falsch. Man sieht: Thesis und Antithesis weisen einander den gleichen prinzipiellen Fehler nach. Nicht die Kombination der einzelnen sinnbelebten Worte ist das Unzulässige. Dies liegt vielmehr darin, daß an diese Kombination ein Begriff geknüpft wird, der ihrer Ausführung widerspricht - genauso wie die imaginäre Form eine unsinnige Form werden würde, wenn man sie dem Größenbegriff unterordnen wollte. Hiermit verlasse ich die Antinomien, die auf einem in sich widerspruchsvollen Begriff ihres Gegenstandes beruhen, d. h. die mathematischen Antinomien, die zu unmöglichen Dimensionsgleichungen führen. Ich wende mich zu denjenigen, in denen Thesis und Antithesis gleichmäßig Recht haben, d. h. zu der dritten und vierten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft, von denen aber allein die dritte begrifflich selbständig ist. Der Behandlung dieser dritten Antinomie möchte ich die einiger inoffizieller Antinomien vorausstellen: erstens die des Problems vom sogenannten psychologischen Parallelismus, zweitens die des Problems der Affektion durch das Ding-ansich. Das Problem des psychophysischen Parallelismus hat folgenden Tatsachenbestand als Erklärungsaufgabe. Die Erfahrung zeigt mit großer Wahrscheinlichkeit, daß es keinen psychischen Vorgang gibt, dem nicht ein physischer entspräche: wie das Verhältnis der beiden Vorgänge zu denken? Ich schweige von der wenig beholfenen materialistischen und spiritualistischen Deutung, davon die erste der psychischen, die zweite der physischen Seite der Erscheinung die Realität abspricht. Die gegenwärtig herrschende Deutung ist die, daß die Element der psychischen Seite mit denen der physischen Seite durch eine Funktion verbunden sind, die jedoch nicht die Kausalität ist. Die primitive Form dieses nicht ganz zutreffend sogenannten psychologischen Parallelismus verdinglicht gewisse Gruppen von Erfahrungstatsachen, die man aufgrund gewisser phänomenologischer Charaktere physisch und psychisch nennt, zu Substanzen. Damit werden die allein phänomenologisch festgestellten Beziehungen zu Beziehungen zwischen transzendenten Dingen ansich. Die wissenschaftliche Form der in Rede stehenden Theorie verzichtet auf diese trügerische Hilfe. So will WUNDT etwa den Parallelismus als ein heuristisches Prinzip angesehen wissen und spricht ihn dahin aus:
Das zweite der hier zur Verhandlung stehenden Probleme: das der Affektion der Rezeptivität der Sinnlichkeit durch die Dinge-ansich ist merkwürdigerweise seite der Kritik MAIMONs und AENISEDEMUS' immer als das eigentliche Schmerzenskind des Kritizismus angesehen worden. Die Schwierigkeit soll diese sein: Die Möglichkeit des Erkennens geht nach KANT soweit, als das zu Erkennende Gegenstand einer möglichen Erfahrung sein kann, d. h. als es sich darstellen läßt in und durch Raum, Zeit, Verstand. Die Dinge also haben Erkennbarkeit nur durch ihr Verhältnis zur Anschauungsart des Subjekts. Nun aber sollen Dinge gedacht werden, deren definitorisches Wesen es ist, betrachtet zu werden gerade unter Absehung von dem Verhältnis, das sie zur Anschauung haben. Und was noch mehr ist: diese Dinge-ansich sollen die Gründe der realen - nicht der formalen - Ordnung der Objektvorstellungen unseres Bewußtseins sein. - Diese Schwierigkeit konnte erhoben werden und in Ansehen bleiben nur aus dem einzigen Grund, daß man sich vorher nicht klar gemacht hatte, was denn eigentlich in der Dimensionsformel steht, die KANT dem Begriff des Grundes und seinem Korrelat, dem der Folge, gegeben hat. Man hat dem Verhältnis: "Grund - Folge" eine Dimension mehr angemutet, als es definitorisch enthält, und sich dann darüber beschwert, daß der transzendente Gebrauch dieser Begriffe etwas als unbestimmt oder als anderweitig bestimmbar setzt, was durch jene - im Denken ja aber gar nicht enthaltene - Dimension allbereits bestimmt wurde. Es ist aber nicht fair, einem andern eine Unrichtigkeit erst unterzulegen und sie dann als unrichtig zu erweisen; man muß sich an die ursprünglichen Dokumente halten. Diese sagen, daß die Kategorien sich weiter erstrecken als die sinnliche Anschauung, weil sie Objekte überhaupt denken, ohne noch auf die besondere Art der Sinnlichkeit zu sehen, in der sie gegeben werden mögen. Der Begriff "Grund" aber hat nur die Dimension des Denkens; sein Gegenstand ist noch frei, daher er dann sowohl Verhältnisse von Dingen in der Erscheinung, wie das Verhältnis eines X zur Erscheinung bestreffen kann. Erst das, durch Hinzunahme der Anschauungsdimension auf das Phänomenologische eingeschränkte Grund - Folge - Verhältnis wird eine Analogie der Erfahrung, wird das Kausalverhältnis, in dem beide Teile in einem zeitlichen Verhältnis und in einer wirklichen Erfahrung allerdings gegeben sein müssen, und das daher mit Sinn nur auf Verhältnisse zwischen Erscheinungen angewendet werden kann. Es muß daher verstattet sein, das Grund - Folge - Verhältnis auch jenseits seiner sinnlichen Erfüllungsgrundlage noch zu denken. Eine unzulässige Transzendenz läge nur dann vor, wenn man behaupten würde, mit diesem Denken auch irgendetwas zu erkennen, d. h. in der Anschauung zu konstruieren. Dies jedoch wird ausdrücklich verneint. Hiermit aber ist auch gleich der Modus bezeichnet, unter dem dieses X zu denken ist. Wenn das Grund - Folge - Verhältnis nicht auf eine mögliche Erfahrung bezogen ist, wenn im Gegenteil die konkreten Verhältnisse der Erfahrung als Folgen von einem Etwas gesetzt werden, das ewig unerkannt bleiben wird, so ist jenes Etwas ein, der Erfahrung nach, imaginärer Punkt, nichts weiter. Es ist daher "wirklich bei allen unserer Erkenntnissen einer = X." Und
Kehren wir mit dieser Bereicherung: daß die Gewißheit der Existenz einer Sache durchaus nicht gleichbedeutend ist mit einer Möglichkeit der Erfahrung eben dieser Sache, zu unserem Problem zurück, so können wir all die bisherigen Auseinandersetzungen sehr vereinfachen, wenn wir unsere Hilfsbegriffe anwenden. Wir sagen: Existenz (im allgemeinen Sinn; das Problem der mathematischen Existenz scheidet hier aus) ist eine Dimension, die in der Dimension in der die bloßen Begriffssätze liegen, nicht enthalten ist, und die daher in Bezug auf diese transzendent ist; das Motiv aber, diese Dimension als eine den Begriffssätzen laterale anzusehen, ist dies: Wir werden in den Eindrücken, die unsere Rezeptivität empfängt, nicht nur eine formale Bestimmtheit gewahr, die eben daher rührt, daß diese Eindrücke gar nicht Erscheinungen werden konnten, ohne unserer Sinnlichkeit und unserem Verstand gemäß zu sein, sondern bemerken dazu noch eine materiale Ordnung, die nicht von uns herrührt. Wir wollen diese materialen Anhaltspunkte der vereinigenden Tätigkeit unseres Bewußtseins die existentialen Invarianten in unserem Erkennen nennen. Die Gesamtheit dieser Invarianten ist die Welt der Objekte, die Außenwelt. Die Außenwelt ist also immer nur als Modifikation unseres Bewußtsein gegeben; wir werden aber des Umstandes, daß sie eine Dimension mehr enthält als das Subjektive dadurch inne, daß wir in ihr eine Ordnung antreffen, die wir nur nachbilden, aber nicht aus apriorischen Gründen aus uns erzeugen können. Wir können nämlich in dieser Ordnung nicht mit der Voraussetzung der Vordersätze die Nachsätze ableiten, wie wir dies allerdings tun können in allen apriorischen Systemen, deren Verfassung wir selbst bestimmt haben. Das affizierende Etwas ist also logisch nichts als die allgemeine, zur materialen Invarianz hinzugedachte Ursache, oder weniger schulmäßig gesprochen: das Objekt zeigt, auch wenn unbekannt bleibt, wie es ansich sein möge, seine Gegenwart an durch die allgemeingültige und notwendige Verknüpfung der gegebenen Wahrnehmungen, für die die Gründe nicht in der formalen Gesetzlichkeit unseres Erkennens liegen. Wir fassen zusammen: Wenn wir in unserer Erfahrung einen subjektiven von einem objektiven Teil unterscheiden und letzterem eine von uns unabhängige Existenz beilegen, so ist das eben ein komplexer Ausdruck, denn aus dem Subjekt können wir nicht hinaus, da wir ja unsere Denkmittel nicht überspringen können. Es ist nur, um anzudeuten, daß oder der Bestandteil der Erfahrung inhaltliche Ordnungsbestimmtheiten hat, die unsere subjektive Denkgesetzlichkeit nicht aus sich herausspinnen, sondern nur als tatsächliche anerkennen kann. Solche Bestimmtheiten fallen daher aus der Dimension des Subjektiven heraus. "Etwas in uns, davon wir nicht die ordnende Ursache sind," das ist die Funktion, deren Trägerein zu seiner der Zweck der transzendenten Kausalität ist. Ich komme zum letzten der zur Verhandlung gestellten Probleme, dem Problem der Vereinbarkeit von Kausalität der Natur und Kausalität der Freiheit. Man würde dieses Problem vermutlich weniger befremdend gefunden haben, wenn man immer bedacht hätte, was es als eine tatsächliche Gegebenheit voraussetzt. Dies ist in den vorigen Problemen analog das Zusammenvorkommen von verschiedenen Bestimmtheiten hier von solchen der Natur und der Freiheit an ein und demselben Gegenstand. Dies kann transzendental so geschehen. Alle Erscheinungen haben a priori den Hinweis auf das affizierende Etwas, die Form der Sinnlichkeit und des Verstandes an sich, alle Handlungen tragen a priori die Form des Willens, denn beiden könnten weder Erscheinungen noch Handlungen sein, wenn sie nicht diese Formen hätten. Sofern aber eine Handlung Gegenstand des Bewußtseins ist, gewinnt sie notwendig die Form einer Erscheinung. Jede gewußte Handlung ist also Erscheinung und jede gewollte Erscheinung hat eine Willensseite. Es gibt daher Dinge, die gekennzeichnet sind durch eine Dimensionsformel, in der sowohl die Dimensionen der Erscheinung wie die des Willens vertreten sind. Da das Gebiet der Erscheinungen, wie wir sahen, ein Gebiet dritter Stufe ist, und da für die hier betrachteten Dinge noch eine Dimension hinzu kommt, so sind die Willensakte als Erscheinungen transzendentale Größen vierter Stufe. Zur Bestimmung der Kausalitätsverhältnisse, denen die Größe vierter Stufe zugängig ist, suchen wir zunächst eine Jllustration, ein "Bild" (im Sinne von HERTZ) in der Anschauung von der Kausalität der Erscheinungen, der physikalischen Kausalität. Dieses Symbol soll die gerade Linie sein. Das Recht, sich die Kausalität durch eine Gerade zu versinnlichen, liegt darin, daß sowohl die Gerade, wie auch die Kausalität an einem allgemeinen Ordnungstypus Teil haben, den man den linearen nennen kann. Bei der Geraden kann ich, bei gegebenem Anfangspunkt und ohne aus dem Eindimensionalen herauszutreten, nicht an den Punkt C gelangen, ohne durch B hindurchzugehen, nicht nach B ohne durch A zu gehen etc. Ebenso ist es mit der Kausalität bewandt. Die Kausalität ist eine Analogie der Erfahrung, die es gebietet, eine von anderen unabhängige Reihe des Geschehens so zu betrachten, daß immer ein Zustand den genügenden Grund für das Eintreten des benachbarten enthält. Der Kausalitätsbegriff ist, wie man dies ausgedrückt hat, "der logische Funktionsbegriff in seiner Anwendung auf das Nacheinander und Nebeneinander als denknotwendige Formen der Außenwelt". Die Art dieser Anwendung aber ist bestimmt durch die Forderung der Eindeutigkeit; es ist daher ein Zustand des Näheren eine lineare Funktion des anderen Zustandes. Nun behauptet die physikalische Kausalität, daß in einer unabhängigen Geschehensreihe die Konfigurationen zu zwei beliebigen Zeiten für die Konfigurationen zu irgendeiner anderen Zeit bestimmend sind. Welchem Bildungsgesetz folgt dann unsere Reihe? Kehren wir zu unseren Geraden zurück und nehmen wir an, wir sollten sie in gegebener Richtung durchlaufen, so können wir an den Beginn unseres ersten Schrittes die 0, an sein Ende die 1, an das Ende des zweiten Schrittes die 2 etc. setzen. Den Zwischenraum zwischen 0 und 1 z. B. können wir uns durch die rationalen Zahlen zwischen 0 und 1 ausgefüllt denken. So wird es keinen Punkt der Linie geben, der keinen Namen hätte. Die Zuerteilung der Namen aber folgt einem festen Bildungsgesetz und dieses Gesetz ist: daß jeder relativ später durchlaufene Punkt ein Zeichen erhält, das, gegen den relativ früher durchlaufenen Nachbarpunkt gehalten, den nächst höheren Wert vorstellt. Gilt eine gleiche Betrachtungsart auch für die Kausalität der äußeren Natur? Halten wir uns allein an die physikalische Kausalität, so haben wir es als ein Axiom hinzunehmen, daß in jedem Moment des Weltgeschehens der gesamte gegenwärtige Zustand der zureichende Grund für den gesamten unmittelbar folgenden Zustand ist. Es wäre nun die Analogie des Kausalverlaufs mit dem auf der Geraden angenommenen Wertverlauf hergestellt, wenn sich nachweisen ließe, jedem relativ späteren Punkt der Kausalreihe komme in Bezug auf jeden früheren Punkt ein Mehr an irgendetwas zu. Alles physikalische Geschehen hat aber in jedem Moment eine absolute Bestimmtheit dadurch, daß ihm in jedem Moment ideell ein fester Wert einer bestimmten Größe zukommt, die man die Entropie nennt. Das eindeutig bestimmende Gesetz, welches diese Wertreihe beherrscht und aufbaut, ist nach BOLTZMANN dieses, daß in allem Geschehen ein Übergang erfolgt von einem Zustand geringerer zu einem Zustand größerer Wahrscheinlichkeit. Da wir uns alles Geschehen kontinuierlich denken müssen, so geht im Geschehen ständig der Austausch eines Zustandes einer um unendlich geringerer gegen einen Zustand einer um unendlich größerer Wahrscheinlichkeit vor sich. Es ist also der Wahrscheinlichkeits-Unterschied zweier angrenzender Zustände kleiner als jede angebbare Zahl. Wir können daher jedem Zustand im Ablauf der physikalischen Kausalität einen ideellen Zahlenwert zuschreiben und können sagen, daß für jeden relativ späteren Zustand dieser Zahlenwert größer sein muß als für jeden relativ früheren. Dieses kontinuierliche Wachsen der Wahrscheinlichkeit der Phasen des Geschehens oder diese kontinuierliche Vermehrung der Entropie ist eine durchgängige Bestimmung der physikalischen Kausalität und kann als deren vollkommenste Konstruktion angesehen werden. In dieser Kausalreihe ist also jeder Ort a priori genau bestimmt; die Freiheit oder, positiv gesagt: die Determinierung durch ein anderes Prinzip als das Wachstum der Wahrscheinlichkeit findet in ihr keine Stelle. Nun wird uns durch die Antinomie angemutet, diese Ordnung zwar als überall durchgeführt zu betrachten, d. h. keinen Punkt in ihr als unbestimmt zu denken und dennoch, das Material dieser Ordnung, d. h. die einzelnen Zustände als bestimmt zu denken nicht nur nach dieser physikalischen, sondern außerdem nach einer sogenannten intelligiblen Kausalität. Die negierende Voraussetzung dabei ist ersichtlich, daß bei dieser Kausalität die Beziehung auf die Zeit entfällt, denn bleibt die, so kann, da es nur eine Zeitordnung gibt, und das Kausalgeschehen zu dieser in keinem Verhältnis der eindeutigen Zuordnung steht, von keiner außerdem möglichen Anordnung mit Sinn geredet werden. Mit der Beziehung auf die Zeit entfällt aber auch die auf die Sinnlichkeit und die auf die mögliche Erfahrung, d. h. auf den Begriff der Bestimmtheit der Erscheinungen nach Verstandesgesetzen. - Um unsere Hilfsmittel anwenden zu können, gehen wir noch einmal auf das "Bild" der Kausalreihe, die Gerade zurück. Hier ist die Ordnung der Linienpunkte nach der Folge angrenzender Punkte im Verlauf einer Richtung nicht die einzig mögliche. Nehmen wir zuvörderst in unser Bild, durch das wir uns die Kausalität versinnlichen, eine Dimension mehr hinein, entsprechend dem Umstand, daß ja auch die Willensphänomene eine Dimension mehr haben, als die Erscheinungsphänomene, so kommen wir von der Linie zur Fläche. Wir sehen sofort, daß hier der Übergang von einem Punkt zum andern keineswegs mehr zwangsläufig und dadurch eindeutig bestimmt ist, denn wir können ja bei jedem Übergang einen beliebigen Umweg durch die Ebene machen. Eine solche Gesetzlosigkeit ist aber nicht der ganze Sinn der Freiheit; Freiheit von etwas ist immer Freiheit zu etwas, und diese Freiheit zu etwas ist nur eine Notwendigkeit besonderer Art. Sehen wir also zu, ob es uns die Aufnahme der neuen Dimension in unser Bild erlaubt, die sämtlichen Linienpunkte gleichfalls zu bestimmen, aber nach einer anderen Hinsicht als der eben angegebenen. Dies ist möglich. Ich kann alle Punkte der Linie erhalten durch eine Konstruktion, die MÖBIUS sehr anschaulich "das Netz" genannt hat. Das Wesen dieser Konstruktion besteht darin, daß man zu drei auf einer Gerade gegebenen Punkten A, B, C, immer einen vierten, aber immer auch nur einen Punkt von einer gewissen Beschaffenheit finden kann. Mit Hilfe des einen neuen Punktes und zwei von den alten Punkten kann ich bei geeigneten Festsetzungen wiederum einen Punkt bestimmen usw., so daß am Ende alle Punkte unserer Geraden von drei gegebenen Punkten aus erhalten werden können - was ja übrigens nur eine Sonderanwendung eines Fundamentalsatzes der Geometrie der Lage ist. Wir erinnern uns an das, wozu die gerade Linie die exakte Analogie sein sollte. Sie verbildlicht uns eine Kausalreihe, deren Elemente, erkenntnistheoretisch betrachtet vierdimensionaler Natur sind. Betrachten wir die Elemente nur nach ihren Erscheinungsdimensionen, so ist ihr zeitliche Anordnung nach größeren oder kleineren Wahrscheinlichkeitswerten die einzig mögliche. Nehmen wir aber die Willensdimension hinzu, dann ist die Folge die, daß wir einen neuen Freiheitsgrad dazu gewinnen. Wir können nun ebenso aus der Erscheinungskausalität heraustreten, wie wir bei der Hinzunahme der zweiten Dimension aus der Zwangsläufigkeit in der Linie heraustreten konnten. Indessen hat diese Freiheit hier nur den Charakter einer Befreiung: wir können kein Gesetz angeben, durch das die Erscheinungen einer intelligiblen Kausalität zu unterwerfen wären, denn dieses Gesetz müßte die Totalität der Zeitpunkte und der ihnen eindeutig zugeordneten Zustände der Wirklichkeit einem neuen Prinzip gemäß lieferbar machen, und das ist nach dem eben Gesagten unzulässig. Wäre es aber zulässig, dann könnte jedes einzelne der Phänomene, die gleichzeitig der Willens- und der Erscheinungswelt angehören, durch einen Doppelnamen wiedergegeben werden. Es würde erstens einen Namen haben, der seine bestimmte Stelle nach dem Entropiemaß in der Zeitreihe bezeichnet. Gleichzeitig aber würde es nach seiner Willensdimension einen Wert darstellen, der seine Qualität empfängt von einem anderen Ordnungssystem, durch das es ebenfalls einmal und nur einmal bestimmt ist, nur daß dieses System für unser Erkennen ewig transzendent bleiben wird. - Die Anordnung der Linienpunkte nach der Vierseit-Konstruktion aber besteht darin, daß harmonische Punktpaare harmonischen Punktpaaren zugeordnet werden. In der Wahl des Ausdrucks "harmonisch" liegt eine gewisse ästhetisch-musikalische Befriedigung, die, durch die Entstehungsgeschichte erklärt, ein Überschuß über das rein Mathematische der Sache ist. Es kann nicht verboten sein, für das Gefühl die Analogie zu Ende zu führen und zu glauben, auch die eindeutige Kausalordnung der Dinge gehorche sub specie aeterni [unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit - wp] außerdem irgendwelchen Gesetzen der Harmonie. So mag man - jenseits des Beweisbaren - das theoretische Gesetz mit der praktischen Forderung ausgesöhnt glauben, indem es zumindest keinen Widerspruch bewirkt, dieselbe Wirklichkeit, die nach der einen Art der Anordnung der Schauplatz von Notwendigkeit und Unfreiheit ist, zugleich als die Bühne für ein Stück zu betrachten, das noch einem anderen als dem mathematischen Begreifen sinnvoll ist. ![]()
1) Vortrag gehalten am 3. Kantabend der Kantgesellschaft, den 2. November 1912 2) Diese Stelle ist interessant für GAUSSens Auffassung des Problems der mathematischen Existenz und für seine stillschweigende Benutzung des Prinzips der formalen Analogie, durch welche er die Verfassung eines bestimmten Gebietes (der Ebene) zur inneren Form eines anderen Gebietes (der Gegenstände der Arithmetik) macht. 3) Die Funktionenträger für die formale Invarianz waren entsprechend "Sinnlichkeit und Verstand". |