tb-2B. ErdmannF. BrentanoR. WahleW. LexisM. Schlick    
 
CARL GUSTAV HEMPEL
Typologische Methoden
in den Sozialwissenschaften


"Nach  Max Weber ermöglicht der Gebrauch von Idealtypen die Erklärung konkreter sozialer oder historischer Phänomene in ihrer Individualität und Einzigartikeit. Man glaubt, daß ein solches Verständnis in der Erfassung der besonderen Kausalbeziehungen besteht, welche die relevanten Elemente der zu untersuchenden Gesamterscheinung untereinander verbinden. Wenn solche Beziehungen soziologisch bedeutsame Erklärungen ergeben sollen, dann müssen sie nach dieser Ansicht nicht nur  kausal adäquat, sondern auch  sinnvoll sein, d. h. sie müssen sich auf solche Aspekte des menschlichen Verhaltens beziehen, die auf verstehbare Weise durch  Bewertung oder andere  motivierende Faktoren ausgelöst worden sind."

"Es ist klar, daß für jedes theoretische System, das auf die Wirklichkeit bezogen sein soll, eine Interpretation gefordert werden muß - in den Sozialwissenschaften nicht weniger als in den Naturwissenschaften."


1. Einleitung

In der Entwicklung der empirischen Wissenschaft hat der Typusbegriff eine bedeutende Rolle gespielt. Viele seiner Anwendungsweisen sind zwar jetzt nur noch von historischem Interesse; aber einige Zweige der Forschung, vor allem die Psychologie und die Sozialwissenschaften, verwenden noch heute typologische Begriffe für deskriptive und theoretische Zwecke. Insbesondere sind verschiedene Charakter- und Körperbautypologien als fruchtbare Ansätze zur Erforschung der Persönlichkeitsstruktur vorgestellt worden; das Studium "extremer" oder "reiner" Typen der physischen und geistigen Konstitution ist als Quelle der Erkenntnis für das Funktionieren "normaler" Individuen verteidigt worden; und was die Sozialwissenschaft anbetrifft, so wurde der Gebrauch von Idealtypen zu einem der methodologischen Merkmale erklärt, die sie wesentlich von der Naturwissenschaft unterscheiden.

Untersucht man diese neueren Anwendungen typologischer Begriffe und die besondere Bedeutung, die ihnen oftmals zugeschrieben wird, so dürfte es doch interessant und auch wichtig sein, zu einem hinreichend klaren Verständnis ihres logischen Status und ihrer methodologischen Funktion zu gelangen. Nun existiert zwar schon eine ausgedehnte Literatur über dieses Thema, aber ein großer Teil davon leidet an einer völligen Unzulänglichkeit des logischen Apparates, der für die Analyse der zu behandelnden Probleme eingesetzt wird. Insbesondere benutzen viele Studien über die Logik typologischer Begriffe ausschließlich die Begriffe und Prinzipien der klassischen Logik, welche wesentlich eine Eigenschafts- oder Klassenlogik ist und die somit ungeeignet ist, Relationen und quantitative Begriffe adäquat zu erfassen. Die klar negative Aussage MAX WEBERs über den logischen Status der Idealtypen, deren Methode er für die Sozialwissenschaften so eindrucksvoll verteidigt, erhellt diese Situation sehr gut: sie lassen sich nicht definieren nach dem Schema:  genus proximum  [nächsthöhere Gattung - wp] und  differentia specifica  [spezifische Differenz - wp], und die Wirklichkeit kann nicht in sie als Exemplar eingeordnet werden (1) - das heißt also, sie sind nicht einfach Klassen- oder Eigenschaftsbegriffe; wenn es jedoch um eine positive Charakterisierung geht, dann zieht er sich auf eine weniger präzise und oft nur metaphorische Sprache zurück. Ein Idealtyp ist nach WEBER eine gedankliche Konstruktion, gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbild. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirische vorfindbar; es ist eine Utopie, ein Grenzbegriff, mit dem konkrete Phänomene nur verglichen werden können, um einige ihrer bedeutsamen Bestandteile herauszuarbeiten (2). Diese Charakterisierung und viele ähnliche Aussagen, die MAX WEBER und andere über das Wesen der Idealtypen gemacht haben, sind sicherlich inhaltsreich, aber ihnen fehlt Klarheit und Strenge, und deshalb bedürfen sie weiterer logischer Analyse.

Nicht nur der logische Status typologischer Begriffe, sondern auch die methodologischen Ansprüche, die man für sie erhoben hat, scheinen mir einer Nachprüfung wert zu sein.

Der vorliegende Aufsatz ist also ein Versuch, den logischen und methodologischen Charakter typologischer Begriffe in seinen Grundzügen zu klären und ihre mögliche Bedeutung für die Zwecke abzuschätzen, denen sie dienen sollen. Diese Untersuchung wird natürlich einige Begriffe und Prinzipien der modernen Logik verwenden müssen; sie wird jedoch auf symbolische Verfahren verzichten. Unsere Darstellung wird wiederholt zu Vergleichen mit der Begriffsbildung in den Naturwissenschaften anregen. Ich hoffe, daß wegen der in dieser Studie unternommenen vergleichenden Betrachtung gewisser methodologischer Aspekte der Natur- und Sozialwissenschaften ihre Einfügung in das vorliegende Symposion über den Theoriebegriff in den Sozial- und den Naturwissenschaften gerechtfertigt ist.

Es ist eine vertraute Tatsache, daß der Ausdruck "Typus" auf mehrere recht verschiedene Weisen verwendet worden ist. Ich schlage deshalb vor, hier zwischen drei Hauptarten von Typusbegriffen zu unterscheiden. Wir werden sie später genauer klären und nennen sie hier nur kurz: klassifikatorische, Extrem- und Idealtypen. Sie sollen jetzt der Reihe nach behandelt werden.


2. Klassifikatorische Typen

Der klassifikatorische Gebrauch des Typenbegriffs wird durch ERNST KRETSCHMERs recht einflußreiche typologische Theorie über Charakter und Körperbau illustriert (3), in welcher Typen als Klassen konstruiert sind. Hier liegt dem typologischen Verfahren die bekannte Logik der Klassifikation zugrunde, die hier nicht weiter diskutiert zu werden braucht. Methodologische unterliegt die klassifikatorische Typenbildung, wie jede andere Art von Klassifikation in der empirischen Wissenschaft, der Forderung nach systematischer Effizienz: Die Eigenschaften, welche zur Definition der verschiedenen Typen dienen, sollten nicht nur saubere Schubfächer zur Unterbringung aller Einzelfälle des Untersuchungsbereiches liefern, sondern sie sollten auch einer vernünftigen Generalisierung dienen oft so aufgebaut, daß ihre Typen durch gewisse physische Eigenschaften definiert werden, die empirisch mit einer Reihe von psychologischen Merkmalen verbunden sind, so daß jeder Typ ein Bündel von zusammen auftretenden Eigenschaften darstellt. Dies ist der methodologische Kern der Suche nach "natürlichen" gegenüber "künstlichen" Klassen oder Typen.

Im Zusammenhang mit klassifikatorischen Typen soll auch noch kurz der Gebrauch des Ausdrucks "typisch" im Sinne von "Durchschnitt" gestreift werden, denn dieser Gebrauch setzt offensichtlich eine Klassifikation voraus. So enthält die Aussage, daß der typische amerikanische College-Undergraduate, sagen wir, 18,9 Jahre alt ist, eine Feststellung über den Durchschnittswert einer bestimmten Größe für eine bestimmte Klasse. Aber da es nun verschiedene Arten von statistischen Mitteln gibt, und da keines von ihnen ohne ein zusätzliches Streuungsmaß viel Information vermittelt, ist es klar, daß für jeden ernsthaften wissenschaftlichen Zweck dieser Gebrauch des Ausdrucks "typisch" durch präzisere statistische Formulierungen ersetzt werden muß.


3. Extremtypen

Häufig jedoch scheitern Versuche, typologische Klassifikationen in empirischen Wissenschaften aufzustellen, an der Erkenntnis, daß diejenigen Eigenschaften der Untersuchungsobjekte, die die Definitionsbasis für die Klassifikation bilden sollen, überhaupt nicht fruchtbringend als einfache Eigenschaftsbegriffe konstruiert werden können, die in ihren Extensionen Klassen mit sauberen Trennlinien bilden. Wenn wir so z. B. versuchen, explizite und präzise Kriterien für die Unterscheidung extrovertierter und introvertierter Persönlichkeiten zu formulieren, dann stellt sich bald heraus, daß die Heranziehung klassifikatorischer Kriterien, die eine präzise Grenzlinie zwischen zwei Kategorien ziehen, sich als "künstliches", d. h. theoretisch steriles Verfahren erweisen würde: es erscheint viel natürlicher, d. h. systematisch fruchtbarer, die zwei Begriffe so zu konstruieren, daß Abstufungen möglich sind: ein bestimmtes Individuum wird nicht als entweder extrovertiert oder introvertiert gekennzeichnet, sondern als dahingehend, daß es beide Merkmale in gewissem Ausmaß aufweist. Rein extrovertierte Persönlichkeiten werden nun als "extreme" oder "reine" Typen aufgefaßt, die in der konkreten Realität nur selten, wenn überhaupt, anzutreffen sind; sie vermögen jedoch als begriffliche Bezugspunkte oder "Pole" zu dienen, zwischen denen alle in der Wirklichkeit vorkommenden Phänomene in einer Reihe eingeordnet werden können. Diese allgemeine Auffassung liegt verschiedenen der neuen Systeme psychisch-physischer Typen zugrunde, wie z. B. SHELDONs Theorie über Körperbau und Temperament (4).

Was ist nun die logische Gestalt dieser "extremen" oder "reinen" Typusbegriffe? Es ist klar, daß sie nicht als Klassenbegriffe konstruiert sein können: individuelle Fälle können in sie nicht als Einzelexemplare eingeordnet werden, sondern man kann sie nur charakterisieren durch den Grad der Annäherung an sie. Mit anderen Worten, wenn der Ausdruck  "T"  einen extremen Typus darstellt, dann kann von einem Individuum  a  nicht gesagt werden, es sei entweder  T  oder  Nicht-T; a  kann vielmehr sozusagen "mehr oder weniger  T"  sein. Aber wie ist nun dieses "mehr oder weniger" objektiv zu definieren? Eine noch so lebhafte Beschreibung eines extremen Typus, mit dem konkrete Fälle verglichen werden sollen, liefert noch nicht ohne weiteres Standards für einen solchen Vergleich; bestenfalls kann sie ein Forschungsprogramm anregen, in dem sie die Aufmerksamkeit auf bestimmte empirische Phänomene und Regelmäßigkeiten richtet und Versuche anregt, einen präzisen Begriffsapparat zu entwickeln, der für ihre Beschreibung und theoretische Interpretation geeignet ist. Aber wenn ein extremer Typ als ein legitimer wissenschaftlicher Begriff in wissenschaftlichen Aussagen mit klarer objektiver Bedeutung dienen soll, dann müssen explizite Kriterien für das "mehr oder weniger" des Vergleichs aufgestellt werden. Diese Kriterien können eine nichtnumerische, "rein komparative" Form annehmen, oder sie können auf quantitativen Techniken aufgebaut sein, wie Rangskalen oder Messungen.

Die formal einfachste, rein komparative Form eines Extremtypus-Begriffs  T  kann erreicht werden, indem man die Kriterien festlegt, die für je zwei Einzelfälle  a, b  im Untersuchungsbereich bestimmen, ob
    1)  a  mehr  T  ist als  b  oder
    2)  b  mehr  T  ist als  a  oder
    3)  a  genauso  T  ist wie  b. 
Für den Begriff der reinen Introversion als Extremtyp würde dies z. B. objektive Kriterien voraussetzen, die für jeweils zwei Individuen  a, b  bestimmen, ob sie gleich introvertiert sind, und wenn nicht, welches von ihnen mehr introvertiert ist. So ist ein extremer Typus  T  der rein komparativen oder ordnenden Art nicht wie ein Klassenbegriff durch Genus und Differentia definiert, sondern durch die Spezifikationen zweier dyadischer [im Zweiersystem - wp] Relationen, nämlich "mehr  T  als" und "so viel  T  wie". Wenn nun die Kriterien, welche diese Relationen definieren, alle Einzelfälle in linearer Verteilung so ordnen sollen, daß sie wachsende  T-heit  widerspiegeln, dann müssen sie bestimmte formale Anforderungen erfüllen: "mehr  T  als" muß eine asymmetrische und transitive [übergehende - wp] Relation, "so viel  T  wie" muß symmetrisch und transitiv sein, und beide Relationen müssen einem Gesetz der Trichotomie entsprechen, nämlich: jede zwei Einzelfälle  a, b  haben den definierenden Bedingungen für genau eine der drei oben erwähnten Alternativen 1), 2), 3) zu genügen (5).

Die hier gekennzeichnet Art des Ordnungsbegriffs wird gut durch die Definition illustriert, die die Mineralogie für einen rein komparativen Begriff der Härte nach dem Kratztest aufgestellt hat: ein Mineral  a  wird dann als härter als ein anderes Metall  b  bezeichnet, wenn eine scharfkantige Stelle eines Stücks von  a  die Oberfläche eines Stückes von  b  einritzt, nicht aber umgekehrt. Wenn keines der Materialien härter ist als das andere, dann werden sie "gleich hart" genannt. Man könnte sagen, daß die zwei so definierten Relationen einen rein komparativen Extremtyp der Härte bestimmen; aber diese Terminologie würde die Logik des Verfahrens eher verdunkeln als klären, und sie ist auch tatsächlich gar nicht im Gebrauch.

In der Psychologie und den Sozialwissenschaften ist es - um es milde auszudrücken - schwierig, fruchtbare objektive Kriterien zu finden, die analog zu denen des Kratztests eine rein komparative typologische Ordnung bestimmen können. Wir finden deshalb immer wieder, daß Vertreter von Extremtypus-Begriffen, soweit sie präzise Kriterien und nicht nur suggestive programmatische Charakterisierungen liefern, entweder schließlich doch ihre Typen als Klassen konstruieren oder ihre typologischen Ordnungen durch Rangskalen oder Meßverfahren spezifizieren, die einen numerischen "Grad von  T-heit"  definieren. Für den ersten Fall kann man KRETSCHMERs Typologie von Körperbau und Charakter anführen: sie gebraucht des Sprache reiner Typen lediglich für eine intuitive Charakterisierung des zu untersuchenden Materials, während sie für exakte Formulierungen jeden der Haupttypen als Klasse konstruiert und die dazwischenliegenden Fälle in zusätzliche Klassen unterbringt, die "gemischte Typen" genannt werden. SHELDONs Typologie des Körperbaus liefert ein Beispiel für den zweiten Fall, denn sie weist jedem Individuum eine spezifische Position auf jeder der drei siebenstufigen Skalen zu, die die grundlegenden Typenmerkmale der Theorie darstellen: Endomorphie [übergewichtig - wp], Mesomorphie [muskulös - wp] und Ektomorphie [schlank - wp].

Hat man aber einmal brauchbare "operationale" Kriterien streng komparativer oder quantitativer Art spezifiziert, dann verlieren die reinen Typen ihre besondere Stellung. Sie stellen einfach die Extreme in den Rangordnungen dar, die durch die gegebenen Kriterien definiert sind, und von einem systematischen Standpunkt aus käme der typologischen Terminologie keine größere Bedeutung zu als etwa die Aussage, daß die spezifische elektrische Leitfähigkeit eines bestimmten Stoffes den Grad der Annäherung an den extremen oder reinen Typ des vollkommenen Leiters anzeigt.

Der Gebrauch von Extremtypus-Begriffen, wie wir sie hier behandelt haben, spiegelt einen Versuch wider, von der klassifikatorischen, qualitativen Ebene der Begriffsbildung loszukommen und zur quantitativen fortzuschreiten; Ordnungsbegriffe der rein komparativen Art stellen ein Zwischenstadium dar. Solange uns explizite Kriterien für ihren Gebrauch fehlen, besitzen sie, wie wir sahen, einen im wesentlichen programmatischen, aber keinen systematischen Status; und sind einmal brauchbare Kriterien spezifiziert, dann wird der Sprachgebrauch des "Extremtypus" überflüssig, denn diese Begriffe zeichnen sich durch keinerlei logische Eigentümlichkeiten gegenüber den anderen komparativ-quantitativen Begriffen der empirischen Wissenschaft aus; ihre Logik ist die Logik der Ordnungsrelationen und der Messung; wir werden deshalb fortan auch von ihnen als von "ordnenden Typen" sprechen.

Methodologisch gehören sowohl die ordnenden als auch die klassifikatorischen Typologien in der Regel sowohl die ordnenden als auch die klassifikatorischen Typologien in der Regel zu einem frühen Stadium in der Entwicklung einer wissenschaftlichen Disziplin, einem Stadium, das sich um die Entwicklung eines hauptsächlich "empirischen" Begriffssystems bemüht und dieses zur Beschreibung und zu Generalisierungen auf relativ niederer Ebene benutzt. Die systematische Fruchtbarkeit, welche eine wesentliche Voraussetzung für alle Stadien der Begriffsbildung darstellt, besteht hier im einfachsten Fall in einer hohen Korrelation zwischen den Kriterien, die eine typologische Ordnung "operational definieren" (so wie eta bestimmte anthropometrische Indizes) und eine Reihe anderer abgestufter Merkmale (z. B. weiterer anatomischer und physiologischer Indizes oder psychologischer Eigenschaften). Für quantitative Skalen können solche Korrelationen in günstigen Fällen die Form einer Proportionalität verschiedener Variablen annehmen (analog zur Proportionalität der spezifischen elektrischen und thermischen Leitfähigkeit von Metallen bei konstanter Temperatur), oder sie können aus anderen nicht-variierenden Relationen bestehen, die in Form von mathematischen Funktionen ausdrückbar sind. (6)


4. Idealtypen und Erklärungen in den
Sozialwissenschaften

Wie schon im ersten Abschnitt erwähnt wurde, werden auch Idealtypen gewöhnlich als die Resultate von Isolierung und Überspitzung bestimmter Aspekte konkreter empirischer Phänomene dargestellt, als Grenzbegriffe, für die die Wirklichkeit keine genauen Beispiele, sondern im besten Fall Annäherungen bieten kann (7).

Obwohl diese Beschreibung recht einleuchtend erscheint, so denke ich doch, daß eine adäquate logische Rekonstruktion dem Idealtyp einen anderen Status zuerkennen muß als den Extrem- oder reinen Typen, die oben diskutiert wurden. Denn Idealtypen - oder, wie HOWARD BECKER sie treffend nennt: konstruierte Typen - werden gewöhnlich ohne auch nur den Versuch, geeignete Ordnungskriterien zu spezifizieren, eingeführt, und sie werden auch nicht für die Art von Generalisierungen benutzt, die für die ordnenden Typen charakteristisch ist; sie werden vielmehr als ein spezifisches Werkzeug für die Erklärung sozialer und historischer Phänomene herangezogen. Ich werde nun darzulegen versuchen, daß diese Konzeption einen Versuch widerspiegelt, die Begriffsbildung in der Soziologie vom Stadium der Deskription und der "empirischen Generalisierungen", für welche die meisten klassifikatorischen und ordnenden Typen Beispiele sind, auf die Ebene der Konstruktion theoretischer Systeme oder Modelle anzuheben. Um diese Ansicht zu untermauern, wird eine genaue Untersuchung des Charakters und der Funktion der Idealtypen, so wie sie von ihren Vertretern verstanden werden, vonnöten sein.

Nach MAX WEBER und anderen Autoren, die der gleichen Meinung sind, ermöglicht der Gebrauch von Idealtypen die Erklärung konkreter sozialer oder historischer Phänomene - so wie das Kastensystem in Indien oder die Entwicklung des modernen Kapitalismus - in ihrer Individualität und Einzigartikeit. Man glaubt, daß ein solches Verständnis in der Erfassung der besonderen Kausalbeziehungen besteht, welche die relevanten Elemente der zu untersuchenden Gesamterscheinung untereinander verbinden. Wenn solche Beziehungen soziologisch bedeutsame Erklärungen ergeben sollen, dann müssen sie nach dieser Ansicht nicht nur "kausal adäquat", sondern auch sinnvoll sein, d. h. sie müssen sich auf solche Aspekte des menschlichen Verhaltens beziehen, die auf verstehbare Weise durch Bewertung oder andere motivierende Faktoren ausgelöst worden sind. WEBER charakterisiert die Prinzipien, die solche Verbindungen ausdrücken, als "allgemeine Erfahrungsregeln" über die Art und Weise, in welcher menschliche Wesen in bestimmten Situationen zu reagieren pflegen; das in diesen Prinzipien enthaltene "nomologische Wissen" soll aus unserer eigenen Erfahrung sowie aus unserem Wissen über das Verhalten anderer abgeleitet sein. WEBER führt GRESHAMs Gesetz als eine solche Verallgemeinerung an: es ist empirisch gut unterbaut durch die erreichbaren einschlägigen Informationen, und es ist eine "rationa evidente Deutung menschlichen Handelns bei gegebenen Bedingungen und unter der idealtypischen Voraussetzung rein rationalen Handelns." (8)

Als einen speziellen Weg, bedeutsame Erklärungsprinzipien zu entdecken, erwähnt WEBER die Methode des einfühlenden Verstehens, fügt aber hinzu, daß sie weder universell anwendbar noch immer zuverlässig ist. Und tatsächlich begründet, wie NAGEL in einem Aufsatz ausführt (9), die subjektive Erfahrung der verstehenden Identifikation mit einer historischen Persönlichkeit und der unmittelbaren - fast selbstverständlich sicheren - Einführung in ihre Motivationen kein Wissen, keinerlei wissenschaftliches Verständnis; sie mag allerdings ein Leitfaden auf der Suche nach expliziten allgemeinen Hypothesen sein, wie sie für eine systematische Erklärung erforderlich sind. Und in der Tat ist das Auftreten eines Verstehenserlebnisses beim Interpreten weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für eine gute Interpretaion oder ein Verständnis im wissenschaftlichen Sinn: nicht notwendig, weil, wie NAGELs Beispiel zeigt, eine geeignete Theorie des psychopathischen Verhaltens dem Historiker eine Erklärung einiger der Handlungen HITLERs auch ohne verstehende Identifikation bieten kann; nicht hinreichend deshalb, weil die Hypothesen über die Motivationen, welche durch die empirische Erfahrung suggeriert wurden, einfach unbegründet sein können.

WEBER selbst betont, daß die Verifikation einer subjektiven Interpretation stets unumgänglich ist; er fügt hinzu, daß in Abwesenheit adäquater experimenteller oder beobachteter Daten "leider nur das unsichere Mittel des gedanklichen Experiments bleibt, d. h. des Fortdenkens einzelner Bestandteile der Motivationskette und der Konstruktion des dann wahrscheinlichen Verlaufs, um eine kausale Zurechnung zu erreichen." (10)

Indem auf diese Weise festgelegt wird, was geschehen  wäre, wenn  bestimmte besondere Elemente der Situation anders gewesen wären, erbringt diese Methode jene "objektiven Möglichkeitsurteile", welche die Grundlage der kausalen Zurechnung in den Sozialwissenschaften bilden. Diese Urteile haben offensichtlich die Form von irrealen (contrary-to-fact) Konditionalsätzen, und wer sich mit der augenblicklich viel diskutierten Logik der irrealen Konditionalsätze (logic of counterfactuals) beschäftigt, könnte an WEBERs faszinierender Erhellung der Methode interessiert sein, die zur Lösung interpretativer Probleme der Geschichtsschreibung vorgeschlagen wurde - etwa für das Problem der Bedeutung der persischen Kriege für die Entwicklung der abendländischen Kultur (11). WEBERs Diskussion dieser Themen zeigt, wie sehr er sich der engen Verbindung zwischen irrealen Konditionalsätzen und generellen Sätzen bewußt war.

Ein Idealtypus soll also als interpretatives oder erklärendes Schema dienen, welches eine Reihe von "allgemeinen Erfahrungsregeln" umfaßt, die "subjektiv bedeutsame" Verbindungen zwischen verschiedenen Aspekten einer Klasse von Phänomenen herstellen, wie etwa rein rationales ökonomisches Verhalten, eine kapitalistische Gesellschaft, eine Handwerkswirtschaft, eine religiöse Sekte oder desgleichen. Aber dann stellen Idealtypen - zumindest ihrer Intention nach - nicht Begriffe im eigentlichen Sinn, sondern vielmehr Theorien dar, und da drängt sich natürlich der Gedanke auf, daß diese Theorien, wenn sie ihren Zweck erfüllen sollen, ihrem Wesen nach beispielsweise der Theorie der idealen Gase recht ähnlich sein müssen (12). Um diese Auffassung weiter auszuarbeiten und zu unterbauen, werde ich zunächst versuchen zu zeigen, daß die angeblichen Unterschiede zwischen dem Gebrauch der Idealtypen zu Erklärungen und der Erklärungsmethode in der Naturwissenschaft nur scheinbar existieren; sodann möchte ich (in Abschnitt 5) versuchen, eine kurze vergleichende Analyse des Status "idealisierter" Begriffe und der entsprechenden Theorien in den Natur- und den Sozialwissenschaften zu geben.

Ein konkretes Ereignis erklären heißt in der Naturwissenschaft, das Auftreten eines wiederholbaren Merkmals (ein Ansteigen der Temperatur, das Auftreten von Korrosion, ein Absinken des Blutdrucks usw.) in einem bestimmten Einzelfall zu erklären - d. h. an einem bestimmten Ort oder an einem bestimmten Objekt oder während eines bestimmten Zeitabschnitts (die Luft in New Haven währen der Morgenstunden des 5. Septembers 1952, der Rumpf eines bestimmten Schiffes, Patient  John Doe  zu einer bestimmten Zeit). Die Erklärung eines konkreten Ereignisses bedeutet nicht und kann auch vernünftigerweise nicht bedeuten: eine Berücksichtigung  aller  wiederholbaren Merkmale eines gegebenen Einzelfalls, etwa  b.  Dazu gehörte die Tatsache, daß sich in dieser und dieser Richtung und in diesem und diesem zeiträumlichen Abstand von  b  weitere Einzelobjekte befinden, die diese und diese wiederholbaren Eigenschaften besitzen; und so wäre die Erklärung  aller  wiederholbaren Aspekte von  b  konsequenterweise gleichbedeutend mit der Erklärung aller konkreten Tatsachen innerhalb des Universums in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Es dürfte ganz klar sein, daß diese Art, ein konkretes Ereignis "in seiner Einzigartigkeit" zu erklären, für die Soziologie genausowenig erreichbar ist wie für die Physik, und in der Tat ist selbst ihre genaue  Bedeutung  recht problematisch. So ist alles, was sinnvollerweise gesucht werden kann, die Erklärung für das Eintreten eines wiederholbaren Merkmals  U  (welches natürlich sehr komplex sein kann) an einem bestimmten Einzelobjekt  b.  So muß z. B. die Aufgabe, den westlichen Kapitalismus in seiner Einzigartigkeit zu erklären, auf solche Weise gelöst werden, wenn sie überhaupt Sinn haben soll; und damit steht sie auch in strenger Analogie zum Problem der Erklärung der Sonnenfinsternis vom 18. März 1950. In jedem Fall handelt es sich um bestimmte Merkmale - deren Kombination oben  U  genannt wurde -, für deren Auftreten man einer Erklärung sucht (im Fall der Sonnenfinsternis z. B. können diese Merkmale die Tatsache einschließen, daß sie eine totale Finsternis war, nicht sichtbar in den Vereinigten Staaten, von einer Dauer von 4 Stunden und 42 Minuten usw.), aber es gibt auch noch unzählige andere Merkmale, die man gar nicht berücksichtigen will (so etwa die Zahl der Zeitungen, in denen das Ereignis beschrieben wurde). Es muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß das so zu erklärende Ereignis, das hier kurz  U (b)  genannt wird, immer noch einzigartig ist, denn der Einzelfall  b  ist unwiederholbar.

In der Naturwissenschaft ist ein einmaliges konkretes Ereignis, z. B.  U (b),  dann erklärt, wenn man nachweist, daß es unter Berücksichtigung bestimmter anderer konkreter Ereignissen, welche zeitlich vor ihm oder gleichzeitig mit ihm auftreten, und spezifizierbarer genereller Gesetze oder Theorien zu erwarten war. Formal ist eine solche Erklärung eine Deduktion von  "U (b)"  aus solchen generellen Sätzen und den "Randbedingungen", welche die vorhergehenden und gleichzeitigen konkreten Ereignisse beschreiben.

MAX WEBERs Schriften zeigen klar, daß eine adäquate Erklärung eines konkreten Ereignisses in der Soziologie oder Geschichtsschreibung im wesentlichen den gleichen Charakter zu haben hat. Bloße Einfühlung und subjektives "Verstehen" geben keine Gewähr für objektive Gültigkeit, sie können keine Grundlage bilden für eine systematische Erklärung vergangener oder Prognosen zukünftiger spezifischer Phänomene. Beide Verfahren müssen auf allgemeinen empirischen Regeln, auf nomologischem Wissen aufgebaut sein. Auf der anderen Seite ist jedoch WEBERs Einschränkung der Erklärungsmöglichkeiten in der Soziologie auf "sinnhafte" Regeln verstehbaren Verhaltens unhaltbar: für die Erklärung vieler - wenn nicht aller - den Sozialwissenschafter interessierenden Erscheinungen müssen Faktoren herangezogen werden, welche "frei von subjektivem Sinn" sind, und demgemäß auch "nicht-verstehbare Regelmäßigkeiten" - um WEBERs Terminologie zu benutzen. WEBER räumt ein, daß der Soziologe solche Fakten als kausal bedeutsame Daten akzeptieren muß, aber er besteht darauf, daß "die Anerkennung ihrer kausalen Bedeutung ... die Aufgaben der Soziologie ...: die sinnhaft orientierten Handlungen deutend zu verstehen, nicht im mindesten (ändert)." (13) Aber diese Auffassung verbannt jede Theorie des Verhaltens, die auf dem Gebrauch "subjektiv sinnhafter" Motivationsbegriffe verzichtet, aus dem Reich der Soziologie. Dies bedeutet entweder eine willkürliche Einschränkung des Begriffs "Soziologie", welcher dann möglicherweise im Endeffekt auf jede Art wissenschaftlicher Forschung unanwendbar wäre - oder es läuft auf ein apriorisches Urteil über den Charakter aller Begriffe hinaus, die überhaupt erklärende soziologische Theorien erbringen könnten. Natürlich ist ein solches apriorisches Verdikt unhaltbar, und in der Tat zeigt die neuere Entwicklung der psychologischen und soziologischen Theorie, daß es durchaus möglich ist, erklärende Gesetze für zweckhaftes Handeln auf rein behavioristischer, nicht-introspektiver Basis zu formulieren.

Bei der nun folgenden Diskussion der Rolle von Gedankenexperimenten, die natürlich auch in den Naturwissenschaften wohlbekannt sind, wird es zweckmäßig sein,  zwei Arten von Gedankenexperimenten  zu unterscheiden:  das intuitive und das theoretische.  Ein intuitives Gedankenexperiment sucht den Ausgang eines experimentellen Verfahrens vorwegzunehmen, welches zwar nur gedacht wird, aber sehr wohl tatsächlich durchführbar sein mag. Die Vorhersage wird hierbei durch die frühere Erfahrung über einzelne Phänomene und ihre Regelmäßigkeiten geleitet; gelegentlich spielt auch der Glaube an bestimmte allgemeine Prinzipien mit, die fraglos akzeptiert werden, als seien sie Apriori-Wahrheiten; so werden bestimmte Symmetrieregeln, wie das Prinzip vom unzureichenden Grund, herangezogen, um damit z. B. die gleichmäßige Verteilung der Resultate zu "erklären", die beim Werfen eines regelmäßigen Würfels anfallen, oder um ähnliche Ergebnisse beim Spiel mit einem regelmäßigen  Dodekaeder  [zwölfseitiger Würfel - wp] vorwegzunehmen; und ähnliche Prinzipien werden manchmal bei Gedankenexperimenten mit Hebeln und anderen physikalischen Systemen, die bestimmte Symmetrie-Eigenschaften haben, angewandt. Gedankenexperimente dieser Art sind intuitiv in dem Sinne, daß die Annahmen und Daten, die der Vorhersage zugrunde liegen, nicht explizit gemacht werden, ja in vielen Fällen noch nicht einmal in den bewußten Antizipationsprozeß aufgenommen werden: frührere Erfahrung und der - möglicherweise unbewußte - Glaube an bestimmte allgemeine Prinzipien fungieren hier eher als suggestive Führer zur gedanklichen Antizipation denn als theoretische Basis für eine systematische Vorhersage.

Das theoretische Gedankenexperiment geht jedoch von einer Menge explizit aufgestellter allgemeiner Prinzipien aus - wie etwa den Naturgesetzen -, und es nimmt das Ergebnis des Experiments vorweg durch strenge Deduktion von diesen Prinzipien zusammen mit geeigneten Randbedingungen, wobei letztere die relevanten Aspekte der experimentellen Situation beschreiben. Manchmal ist das letztere nicht zu realisieren - z. B. wenn die Gesetze für das ideale mathematische Pendel oder den vollkommenen elastischen Stoß von allgemeineren Prinzipien der theoretischen Mechanik abgeleitet werden. Die Frage: Was  würde  geschehen,  wenn  beispielsweise der Faden eines Pendels unendlich dünn und vollkommen starr und die gesamte Masse des Pendels im freien Endpunkt des Fadens konzentriert wäre, wird hier nicht dadurch beantwortet, daß man die Aspekte eines physikalischen Pendels, die von den Annahmen abweichen, "wegdenkt" und dann versucht, sich das Ergebnis vorzustellen, sondern durch rigorose Deduktion von den zur Verfügung stehenden theoretischen Prinzipien. Die Phantasie bleibt hier aus dem Spiel; das Experiment ist gedanklich nur in dem Sinne, daß die Situation, auf die es sich bezieht, nicht realisiert ist und tatsächlich technisch auch nicht realisierbar sein mag.

Die zwei hier unterschiedenen Typen des Gedankenexperiments stellen wirklich extreme Typen dar, die nur selten in reiner Form in der Wirklichkeit anzutreffen sind. In vielen Fällen werden die einem Gedankenexperiment zugrunde liegenden empirischen Annahmen und die theoretischen Erwägungen weitgehend, aber nicht vollständig, explizit gemacht. GALILEIs Dialoge enthalten ausgezeichnete Beispiele für dieses Verfahren. Sie zeigen, wie fruchtbar diese Methode zur Gewinnung theoretischer Erkenntnisse sein kann. Aber intuitive Gedankenexperimente sind natürlich kein Ersatz für die Sammlung empirischer Daten durch tatsächliche experimentelle Beobachtungsverfahren. Dies zeigt sich sehr gut an den zahlreichen intuitiv recht plausiblen Gedankenexperimenten, die angestellt wurden, um die spezielle Relativitätstheorie zu widerlegen; und was das gedankliche Experimentieren in den Sozialwissenschaften angeht, so kennzeichnet das übliche Vertrauen auf ein einfühlendes Verstehen schon seine Anfälligkeit für Irrtümer. NAGELs Beispiel eines Versuches, das Verhalten eines Getreidehändlers zu antizipieren, bietet eine gute Jllustration für diese Art geistigen Experimentierens. Deshalb können die Resultate intuitiver Gedankenexperimente keine schlüssigen Erfahrungsdaten für die Überprüfung soziologischer Hypothesen liefern; vielmehr hat die Methode eine wesentlich heuristische Funktion: sie dient zur  Anregung  von Hypothese, die dann allerdings den geeigneten objektiven Überprüfungsverfahren unterworfen werden müssen.

Die Gedankenexperimente, die von Autoren wie MAX WEBER und HOWARD BECKER als Methode soziologischer Forschung erwähnt werden, gehören offensichtlich der intuitiven Gattung an. Ihre heuristische Funktion besteht darin, daß sie bei der Entdeckung regelmäßiger Zusammenhänge zwischen verschiedenen Bestandteilen einer sozialen Struktur oder eines sozialen Prozesses von Nutzen sind. Diese Verbindungen können sodann in einem Idealtypus zusammengefaßt werden und liefern die Basis für dessen Gebrauch zu Erklärungen.


5. Idealtypen und theoretische Modelle

Wir hatten bereits darauf hingewiesen, daß Idealtypen, die ja Erklärungen liefern sollen, als theoretische Systeme aufgebaut sein müssen, die überprüfbare generelle Hypothesen enthalten. Wie läßt sich damit nun der Einwand vereinbaren, der häufig von den Verfechtern dieser Methode vorgebracht wird, nämlich: Idealtypen seien nicht als empirisch verifizierbare Hypothesen gemeint; die Abweichung von den konkreten Fakten gehöre gerade zu ihrem Wesen? Um diese Frage zu beantworten, wollen wir uns zuerst einmal näher damit beschäftigen, wie die Vertreter dieser Ansicht sich die Anwendung von Idealtypen auf konkrete Phänomene vorstellen. Darüber gibt es allerdings nur wenige präzise Aussagen; die vielleicht expliziteste Formulierung gab HOWARD BECKER, als er das zu entwickeln versuchte, was er "eine logische Formel für Typologien" nannte. BECKER denkt an die Anwendung von idealen oder konstruierten Typen in Hypothesen der Form "Wenn  P,  dann  Q",  wobei  P  der gemeinte Typ ist und  Q  eine mehr oder weniger komplexe Eigenschaft (14). BECKER schreibt über die Anwendung solcher Hypothesen auf empirische Daten: "Es liegt jedoch im Wesen der Konstruktion von Typen begründet, daß in der Empirie die Konsequenz nur selten, wenn überhaupt, auftritt; und die Prämisse des Satzes ist dann empirisch  falsch.  Wenn  Q',  dann  P' ." (15) Durch diese Abweichung von den empirischen Daten durch das Auftreten von  Q'  statt  Q  erlangt ein konstruierter Typ das, was BECKER "negative Nützlichkeit" nennt: sie stellt den ersten Schritt dar auf der Suche nach Faktoren, die nicht in  P  enthalten sind und zur Erklärung der Diskrepanz herangezogen werden können. (16) So macht nach BECKER "die konstruktive Typologie  planmäßigen  Gebrauch von der Einschränkung  alle anderen Bedingungen seien gleich oder irrelevant,  um eben dadurch die  Ungleichheit  oder  Relevanz  der  anderen Bedingungen  zu bestimmen." (17)

Diese Aussicht bedarf einer genaueren Untersuchung, denn sie schlägt - vielleicht unbeabsichtigt - die Verwendung der Ceteris-paribus-Klausel [bei ansonsten gleichen Umständen - wp] für eine konventionalistische Verteidigung typologischer Hypothesen gegen alle Denkbaren falsifizierenden Erfahrungsdaten vor. (18) Um dies zu illustrieren, stellen wir uns in einer Analogie einmal einen Physiker vor, der die Hypothese vertritt, daß unter idealen Bedingungen, nämlich in einem Vakuum nahe der Erdoberfläche ein freifallender Körper innerhalb von  t  Sekunden eine Strecke von  16 t2  Fuß zurücklegen wird. Nehmen wir nun an, daß das sorgfältig durchgeführte Experiment Resultate ergibt, die von den durch die Hypothese geforderten abweichen. Es ist ganz klar, daß der Physiker sich nicht einfach mit dem Schluß zufriedengeben kann, daß die geforderten idealen Bedingungen eben nicht gegeben waren. Zusätzlich zu dieser Möglichkeit hat er die Alternative in Rechnung zu stellen, daß die überprüfte Hypothese nicht stimmt. In der Sprache des BECKERschen allgemeinen Schemas ausgedrückt: wir könnten nur dann schließen, daß  P  nicht realisiert wurde, wenn wir - außer dem Beobachtungsergebnis  Q'  - die Richtigkeit der Hypothese "Wenn  P,  dann  Q"  als gegeben annehmen könnten; für diese Annahme haben wir jedoch keinerlei Gewähr; sie würde ja auch die ganze Überprüfung überflüssig machen. So aber können wir aus dem Auftreten von  Q'  nur schließen, daß entweder  P  nicht realisiert war oder die Hypothese "Wenn  P,  dann  Q"  falsch ist.

Es scheint also, daß wir mit Sicherheit an unserer typologischen Hypothese festhalten können, wenn wir sie nur durch eine geeignete Ceteris-paribus-Klausel qualifizieren und ihr die Form geben: "Wenn alle anderen Faktoren gleich oder irrelevant sind, wird  Q  immer dann auftreten, wenn  P  auftritt." Es ist klar, daß keine Erfahrungsdaten eine Hypothese dieser Form jemals verifizieren können, denn ein anscheinend günstiges Ergebnis kann stets einer Verletzung der Ceteris-paribus-Klausel zu plädieren, wann immer eine Erscheinung  P  nicht von einer Erscheinung  Q  begleitet ist. Aber gerade diese Entscheidung, welche die Hypothese unwiderlegbar macht, beraubt sie jedes empirischen Gehaltes und damit auch aller Erklärungskraft: da die Schutzklause nicht spezifiziert,  welche  Faktoren außerhalb von  P  gleich (d. h. konstant) oder irrelevant sein müssen, damit das Auftreten von  Q  garantiert ist, ist die Hypothese nicht zur Vorhersage konkreter Phänomene geeignet. Und ebenso wird der Gedanke, diese Hypothese zu testen, sinnlos. Es soll hier ganz besonders darauf hingewiesen werden, daß im Gegensatz dazu die Ceteris-paribus-Klausel bei der Formulierung des GALILEIschen Gesetzes, das als auf den freien Fall im Vakuum nahe der Erdoberfläche bezogen verstanden wird); alle anderen Faktoren werden stillschweigend als irrelevant angesehen. Die empirische Überprüfung ist daher eine wesentliche Forderung, und die Entdeckung unstimmiger Erfahrungsdaten bedingt geeignete Revisionen - indem entweder die angenommenen funktionalen Verbindungen zwischen den als relevant ausgesonderten Variablen modifiziert oder explizit neue relevante Variablen eingeführt werden. Idealtypische Hypothesen haben dem gleichen Muster zu folgen, wenn sie einer theoretischen Erklärung konkreter historischer und sozialer Phänomene dienen und nicht nur empirisch leerer Begriffsschematismus bleiben sollen.

Aber gibt es nicht auch in der Physik Theorien - wie die der idealen Gase, des vollkommenen elastischen Stoßes, des mathematischen Pendels, der statistischen Aspekte der Spiele mit vollkommenen Würfeln usw. -, die nicht für ungültig gehalten werden, obwohl sie keine präzise Wiedergabe der empirischen Welt bieten? Und könnten nicht Idealtypen den gleichen Status beanspruchen wie die Zentralbegriffe dieser "idealisierten" Theorien? Diese Begriffe beziehen sich auf physikalische Systeme, die gewissen extremen Bedingungen genügen, welche nicht völlig, sondern nur annähernd von empirischen Phänomenen erfüllt werden können. Ihre wissenschaftliche Bedeutung liegt, so glaube ich, in den folgenden Punkten begründet:
    a) Die Gesetze über das Verhalten der idealen physikalischen Systeme sind von umfassenderen theoretischen Prinzipien ableitbar, welche durch Erfahrungsdaten gut bestätigt sind; die Deduktion erfolgt üblicherweise in der Form, daß einigen der Parameter der umfassenden Theorie gewisse Extremwerte zugewiesen werden. So erhält man z. B. die Gesetze für ein ideales Gas aus den allgemeineren Prinzipien der kinetischen Gastheorie, indem man "annimmt", daß die Volumen der Gasmoleküle gleich Null sind und des keine Anziehungskräfte zwischen den Molekülen gibt - d. h. indem man die zutreffenden Parameter gleich Null setzt.

    b) Die extremen Bedingungen, die das "ideale" Gas charakterisieren, können empirische zumindest annähernd dargestellt werden; und immer, wenn dies in einem konkreten Fall zutrifft, sind die betreffenden idealen Gesetze empirisch bestätigt worden. So genügt z. B. eine große Menge verschiedener Gase innerhalb weiter, bestimmbarer Druck- und Temperaturbereiche (für eine bestimmte Masse des Gases) ziemlich genau den Bedingunen der BOYLE-MARIOTTEschen Gesetze für ideale Gase; und deshalb kann dieses Gesetz auch sinnvoll für Erklärungszwecke herangezogen werden.
Die vorstehende Analyse legt die folgenden Beobachtungen über die "idealen" und die empirischen Aspekte idealtypischer Begriffe in den Sozialwissenschaften nahe:
    1. "Ideal"konstrukte haben nicht den Charakter von Begriffen im engeren Sinne, sondern von theoretischen Systemen. Die Einführung eines solchen Konstrukts in einen theoretischen Zusammenhang erfordert daher nicht eine Definition durch Genus und Diffentia, sondern die Spezifikation einer Reihe von Eigenschaften (wie Druck, Temperatur und Volumen im Fall eines idealen Gases)  und  eines Satzes von Hypothesen, die diese Eigenschaften untereinander verbinden.

    2. Ein idealisierter Begriff  P  kann deshalb  nicht  in Hypothesen von der einfachen Form "Wenn  P,  dann  Q"  verwendet werden. So wäre z. B. die Hypothese "Wenn eine Substanz ein ideales Gas ist, dann genügt sie dem BOYLEschen Gesetz" - die Hypothese ist von jener angegebenen Form - eine analytische Aussage, die sich aus der Definition des idealen Gases ergibt; sie kann nicht zur Erklärung dienen. Die Hypothesen, die den Begriff der idealen Gase charakterisieren, verbinden vielmehr gewissen quantitative Eigenschaften eines Gases untereinander, und wenn sie auf konkrete physikalische Systeme angewandt werden, dann machen sie spezifische empirische Vorhersagen. Um es noch einmal in etwas sehr vereinfachter Form zu wiederholen: was in die physikalische Theorie eingeht, ist gar nicht der Begriff des idealen Gases, sondern Begriffe, welche die verschiedenen Eigenschaften darstellen, mit denen sich die Theorie der idealen Gase beschäftigt; nur sie kommen in den Prinzipien der Thermodynamik vor.

    3. Zumindest in den Naturwissenschaften wird ein Satz von Hypothesen nur dann als Charakterisierung eines Idealsystems betrachtet, wenn sie - wie man sagen könnte -  theoretische  und nicht  intuitive  Idealisierungen darstellen, d. h. wenn sie - im Rahmen einer gegebenen Theorie - als spezielle Fälle umfassenderer Prinzipien ableitbar sind. So stellt z. B. die von GALILEI empirisch entdeckte Formel für das mathematische Pendel nicht eher eine theoretische Idealisierung dar, als bis umfassendere Hypothesen aufgestellt worden waren, die

      a) unabhängig voneinander empirische Bestätigung haben,

      b) die Pendelform als speziellen Fall enthalten und

      c) uns erlauben, den Grad der dieser Formel zugrundeliegenden Idealisierung zu beurteilen, indem sie zusätzliche Faktoren berücksichtigen, die für die Bewegung eines physikalischen Pendels relevant sind, deren Einfluß jedoch im Falle solcher physikalischer Systeme ziemlich klein ist, auf welche die Formel gewöhnlich angewendet wird.
Natürlich kann keine Theorie, und sie sie noch so umfassend, den Anspruch erheben, eine absolut genaue Erklärung irgendeiner Klasse empirischer Phänomene zu liefern; es ist immer möglich, daß selbst eine sehr umfassende und wohlbestätigte Theorie in der Zukunft durch die Einführung weiterer Parameter und angemessener Gesetze verbessert werden kann: die umfassendste Theorie von heute ist vielleicht nur eine systematische Idealisierung innerhalb des weiteren theoretischen Rahmens von morgen.

Unter den Idealtypen-Begriffen der sozialwissenschaftlichen Theorien kommen die in der analytischen Ökonomie verwendeten dem Status der Idealisierungen in den Naturwissenschaften am nächsten: die Begriffe des vollkommen freien Wettbewerbs, des Monopols, des ökonomisch rationalen Verhaltens eines Individuums oder eines Unternehmens usw.; sie alle stellen Schemata für die Interpretation bestimmter Aspekte des menschlichen Verhaltens dar und schließen die idealisierende Annahme ein, daß solche nichtökonomischen Faktoren, wie sie in Wirklichkeit menschliche Handlungen beeinflussen, für die gestellte Aufgabe vernachlässigt werden können. Für die strenge Theoriebildung wird solchen Idealkonstrukten präzise Bedeutung in der Form von Hypothesen verliehen, welche spezifizierte mathematische Verbindungen zwischen bestimmten ökonomischen Variablen "postulieren"; häufig charakterisieren solche Postulate das idealtypische Verhalten als Maximierung einer gegebenen Funktion dieser Variablen (etwa: Gewinn).

Hinsichtlich zweier wichtiger Punkte scheinen mir jedoch die Idealisierungen der Ökonomie von denen der Naturwissenschaften verschieden zu sein: zuallererst sind sie eher intuitive als theoretische Idealisierungen - die entsprechenden "Postulate" sind nicht als spezielle Fälle von einer umfassenden Theorie abgeleitet, welche auch die das menschliche Verhalten beeinflussenden nichtrationalen und nichtökonomischen Faktoren umfaßt. Zur Zeit steht keine brauchbare allgemeinere Theorie zur Verfügung; also gibt es auch keine theoretische Basis zur Beurteilung der Idealisierung, welche in der Anwendung der ökonomischen Konstrukte auf konkrete Situationen steckt. Dies führt uns zu dem zweiten Unterschied: Die Klasse konkreter Verhaltensphänomene, für welche die "idealisierten" Prinzipien der ökonomischen Theorie zumindest annähernd korrekte Generalisierungen aufstellen wollen, ist nicht immer klar abgegrenzt. Dies beeinträchtigt natürlich die Brauchbarkeit dieser Prinzipien zu sinnvollen Erklärungen. Ein ideales theoretisches System - wie ja jedes theoretische System überhaupt - kann nur dann den Status eines erklärenden und vorhersagenden Apparates einnehmen, wenn sein Anwendungsbereich spezifiziert worden ist; mit anderen Worten: nur dann, wenn den dem System zugrundeliegenden Begriffen eine empirische Interpretation gegeben wird, die sie direkt oder zumindest indirekt mit beobachtbaren Phänomenen verbindet. So wäre z. B. der Anwendungsbereich für die Theorie der idealen Gase - ganz allgemein gesprochen - dadurch gekennzeichnet, daß die theoretischen Parameter "P", "V", "T" durch "operational definierte" Größen für Druck, Volumen und Temperatur bei mäßigen oder niedrigen Drücken und mäßigen oder höheren Temperaturen interpretiert werden. In ähnlicher Weise setzt die empirische Anwendbarkeit der Prinzipien eines idealen ökonomischen Systems eine empirische Interpretation voraus, die sie nicht analytisch werden läßt. Daher darf die Interpretation nicht darauf hinauslaufen, daß die Sätze der Theorie für alle Fälle des ökonomisch rationalen Verhaltens gelten - dann hätte man eine bloße Tautologie; sie muß vielmehr durch logisch von der Theorie unabhängige Kriterien diejenigen Verhaltensweisen von Individuen und Gruppen charakterisieren, auf welche die Theorie anwendbar sein soll. Dann muß die Interpretation in Beziehung zu den Verhaltensweisen den theoretischen Parametern wie "Geld", "Preis", "Kosten", "Gewinn", "Nutzen" usw. eine einigermaßen eindeutige "operationale Bedeutung" zuordnen. Auf diese Weise erlangen die Sätze der Theorie empirischen Belang: sie können überprüft werden und sind so der Falsifizierung zugänglich - und dies ist ein wesentliches Kennzeichen aller potentiellen Erklärungssysteme.

Die Ergebnisse dieses Vergleichs zwischen den Idealkonstrukten der Ökonomie und denen der Physik sollten jedoch nicht als Zeichen für einen wesentlichen methodologischen Unterschied zwischen diesen beiden Disziplinen angesehen werden. Denn was den ersten unserer beiden Vergleichspunkte angeht, so braucht nur daran erinnert zu werden, daß zur Zeit große Anstrengungen in der soziologischen Theoriebildung darauf gerichtet werden, eine umfassende Theorie des sozialen Handelns zu entwickeln, in Bezug auf welche die Idealkonstrukte der Ökonomie, insofern sie eine empirische Anwendung erlauben, dann den Status theoretischer statt intuitiver Idealisierungen einnehmen könnten. Und ganz abgesehen von der Erreichbarkeit dieses ehrgeizigen Ziels ist es klar, daß für jedes theoretische System, das auf die Wirklichkeit bezogen sein soll, eine Interpretation gefordert werden muß - in den Sozialwissenschaften nicht weniger als in den Naturwissenschaften.

Den in anderen Teilgebieten der Sozialwissenschaften benutzten Idealtypen mangelt es an der Klarheit und Präzision der in der theoretischen Ökonomie angewendeten Konstruktionen. Die Verhaltensregelmäßigkeiten, die einen bestimmten Idealtyp defnieren sollen, werden gewöhnlich nur mehr oder minder intuitiv festgelegt, und die Parameter, die durch sie verbunden werden sollen, sind nicht ausdrücklich spezifiziert und schließlich ist noch der für die empirische Anwendbarkeit und damit auch Überprüfbarkeit des typologischen Systems in Anspruch genommene Bereich nicht klar abgegrenzt. Tatsächlich wird die Forderung nach Testbarkeit oft in großzügiger Weise zurückgewiesen, was, wie die Diskussion gezeigt haben sollte, unvereinbar ist mit dem Anspruch, daß Idealtypen ein Verstehen bestimmter empirischer Phänomene vermitteln sollen.

Wenn die hier vorgetragene Analyse im wesentlichen richtig ist, dann können Idealtypen ganz sicherlich ihren Zweck nur unter der Bedingung erfüllen, daß sie als interpretierte theoretische Systeme eingeführt werden, d. h. durch
    a) die Aufstellung einer Liste von Eigenschaften, mit der sich die Theorie befassen soll;

    b) Formulierung einer Reihe von Hypothesen üebr diese Eigenschaften;

    c) empirische Interpretation dieser Eigenschaften, was der Theorie einen spezifischen Anwendungsbereich zuweist;

    d) als Fernziel die Einglieerung des theoretischen Systems als einen "speziellen Fall" in eine umfassendere Theorie.
Inwieweit diese Ziele erreichbar sind, kann nicht durch logische Analyse entschieden werden; aber es wäre eine Selbsttäuschung, wollte man glauben, daß irgendein begriffliches Verfahren, das in einem der drei ersten Punkte (a bis c) wesentliche Mängel aufweist, theoretisches Verständnis auf irgendeinem Gebiet wissenschaftlicher Forschung vermitteln könnte. Und in dem Ausmaß, in dem das hier vorgetrgene Programm auch wirklich durchgeführt werden kann, ist der Gebrauch von "Idealtypen" bestenfalls ein unwichtiger terminologische Aspekt, nicht aber ein besonderes methodologisches Kennzeichen der Sozialwissenschaften: die Methode der Idealtypen wird ununterscheidbar von den Methoden, die andere wissenschaftliche Disziplinen zur Bildung und Anwendung erklärender Begriffe und Theorien benutzen.


6. Ergebnis

So erweist es sich also, daß die verschiedenen Verwendungsweisen der Typenbegriffe in der Psychologie und den Sozialwissenschaften, wenn man sie von gewissen irreführenden Nebenbedeutungen befreit, genau den gleichen Charakter aufweisen wie die Methoden der Klassifikation, des Ordnens, der Messung, der empirischen Korrelation und schließlich der Theoriebildung, wie sie in den Naturwissenschaften angewandt werden. Und so enthüllt die Analyse des typologischen Verfahrens an einem charakteristischen Beispiel die methodologische Einheit der empirischen Wissenschaften.
LITERATUR - Ernst Topitsch (Hg), Logik der Sozialwissenschaften, Köln-Berlin 1967
    Anmerkungen
    1) MAX WEBER, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1951, Seite 194.
    2) MAX WEBER, a. a. O. Seite 191-194.
    3) ERNST KRETSCHMER, Körperbau und Charakter, Berlin 1921. - Über die Theorie und Technik der Bildung klassifikatorische Typen in der heutigen Sozialforschung vgl. PAUL F. LAZARSFELD und ALLAN H. BARTON, Qualitative Measurement in the Social Sciences. Classification, Typologies, and Indices, in: The Policy Sciences, hrg. von DANIEL LERNER und HAROLD D. LASSWELL, Stanford 1951.
    4) W. H. SHELDON, The Varieties of Human Physique, New York und London 1940 und W. H. SHELDON, The Varieties of Temperament, New York und London 1942.
    5) Näheres vgl. CARL G. HEMPEL und PAUL OPPENHEIM, Der Typusbegriff im Licht der neuen Logik, Leiden 1926, Kap. III
    6) Für eine weitere Diskussion der Logik und der Methodologie der ordnenden und quantitativen Verfahren vgl. CARL G. HEMPEL, Fundamentals of Concept Formation in Empirical Science, Chicago 1952, bes. Abschnitt 11. - Über den Gebrauch solcher Gefahren in typologischen Untersuchungen vgl. LAZARSFELD und BARTON, a. a. O., HEMPEL und OPPENHEIM a. a. O., und R. F. WINCH, Heuristic und Empirical Typologies. A Job für Factor Analysis, American Sociological Review, Bd. 12, 1947, Seite 68-75.
    7) Für eine ausführliche Darstellung und kritische Diskussion des Begriffs des Idealtypus so, wie er in der Sozialwissenschaft verwendet wird, siehe besonders die folgenden Werke, die als Grundlage für den vorliegenden Versuch einer Analyse und Rekonstruktion dienten:
      - Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (vgl. Anm. 1)
      - Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1956
      - Alexander von Schelting, Max Webers Wissenschaftslehre, Tübingen 1934
      - Talcott Parsons, the Structure of Social Action, New York und London 1937, Kap. XVI.
      - Howard Becker, Through Values to Social Interpretation, Durham, N. C. 1950.
    Weitere anregende und kritische Diskussionen des Begriffs des Idealtypus können gefunden werden bei:
      - Felix Kaufmann, Methodenlehre der Sozialwissenschaften, Wien 1936, bes. Abt. 6 des 2. Teils.
      - J. W. N. Watkins, Ideal Types and Historical Explanation, The British Journal for the Philosophy of Science, III, 1952, Seite 22-43.
    8) MAX WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O. Seite 5, vgl. auch Seite 9-10.
    9) ERNEST NAGEL, Problems of Concept and Theory Formation in the Social Sciences, in: Science, Language and Human Rights, Philadelphia 1952, Seite 43-64 bzw. Seite 54-58.
    10) MAX WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O. Seite 5
    11) MAX WEBER, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, a. a. O., Seite 270 - 299. Eine anregende Erweiterung und Untersuchung von WEBERs Analyse bietet von SCHELTING, a. a. O., Seite 269-281.
    12) Parallelen zwischen Idealtypen und gewissen Idealisierungen in der Physik sind natürlich schon oft gezogen worden (vgl. z. B. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., Seite 9; BECKER, a. a. O., Seite 125). Es erscheint jedoch wichtig, die involvierten Ähnlichkeiten herauszustellen und aufzuzeigen, daß sie keineswegs den Anspruch der Idealtypen in den Sozialwissenschaften auf einen Status  sui generis  rechtfertigen.
    13) MAX WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., Seite 3.
    14) BECKER, a. a. O., Seite 259-264; BECKER beschreibt die Verbindung zwischen 'P und 'Q als von "objektiver Wahrscheinlichkeit". Aber da er den Ausdruck "Wenn 'P, dann 'Q" in einem Schluß der Modus-tollens-Form verwendet, die nicht für Wahrscheinlichkeitsimplikationen gilt - z. B. für Aussagen der Form "Wenn 'P, dann wahrscheinlich 'Q" -, dürfte es wohl besser sein, 'BECKERs Bemerkung dahingehend zu verstehen, daß "Wenn 'P, dann 'Q" eine typologische Hypothese darstellt, die eine empirische Verallgemeinerung in WEBERs Sinn darstellt. Eine solche Generalisierung kann natürlich - wie jede andere empirische Hypothese - nur wahrscheinlich, nicht aber sicher sein, und zwar in Bezug auf jedwede Menge relevanter Erfahrungsdaten.
    15) HOWARD BECKER, a. a. O., Seite 262
    16) Ähnlich hat MAX WEBER auf dem heuristischen Wert der Idealtypen hingewiesen: vgl. z. B. "Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre", a. a. O., Seite 198-199; Seite 203-205; Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., Seite 10
    17) HOWARD BECKER, a. a. O., Seite 264
    18) Über den Gebrauch der Ceteris-paribus-Klausel vgl. auch die ausgezeichnete Diskussion in FELIX KAUFMANN, Methodology of the Social Sciences, New York 1944, Seite 84f und 213f.